Das Bild des Tages gibt es nicht. Und es täuscht.

Hätte ich die gute Kamera dabei gehabt, ich hätte es natürlich aufnehmen können, das Bild des gestrigen Tages, und ich hätte es auch hier gezeigt. Hätte, hätte, Fahrradkette. Wie Sohn II da stand, das war nämlich wirklich ein tolles Bild. Aber ich hatte leider nur das Handy dabei und es ging schon auf den Abend zu und der Himmel war wolkenverhangen, regenschwer und schon etwas dämmerig, da war es mit dem Licht doch schwierig. Und so stand Sohn II also alleine vor der Bühne auf dem Straßenfest in der Langen Reihe, ganz alleine stand er da, und es gibt kein einziges Bild davon. Das müssen Sie sich jetzt eben vorstellen, das Bild des Tages. Ich beschreibe es Ihnen.

Eine große Bühne am Anfang der Straße, auf der ein Open-Air-Fest so gründlich ins Wasser fiel, wie es nur vorstellbar ist. Links und rechts von der Bühne hingen riesige Lautsprecher, oben ein paar Strahler, auf die Musiker gerichtet. Auf der Bühne standen drei junge Herren und machten Rockmusik, es klang ein wenig wie die Musik von “Wir sind Helden”, wenn sie gerade etwas lauter werden. Sie sangen deutsche Texte. Ich verstand nur, dass sie irgendwie traurig waren, das passte auch. Am Straßenrand unter den Sonnenschirmen der Bierbuden und Wurststände und manchmal auch vor der Bühne, wenn es gerade nicht so schüttete,  standen einige junge Damen, die sehr angetan im Takt wippten und die Musiker verzückt anstrahlten, denen eine gewisse Hübschigkeit nicht abzusprechen war. Die Musiker, Schlagzeug, Gitarre, Keyboard, sie trugen alle schwarze Kleidung. Das passte zum Himmel über ihnen, das passte aber auch zur Straße vor ihnen, und das passte auch ganz ausgezeichnet zur Stimmung der meisten Aussteller auf dem Straßenfest, denn es regnete seit dem Morgen und es war novembrig und schweinekalt, um es angemessen deutlich auszudrücken. Sie spielten ihre Rockmusik und der Gitarrist sagte nach zwei Stücken, dass ihm gleich die Finger abfallen würden vor Kälte und dann hüpften sie ein wenig auf und ab, bevor sie das nächste Stück spielten. Der Regen wurde stärker, der Himmel wurde dunkler, die wenigen Besucher flüchteten in Hauseingänge oder Kneipen, nur Sohn II blieb noch vor der Bühne stehen. Er stand da und seine hellblaue Jacke leuchtete und er hob die Hand und die Leute, die am Rand standen, zeigten auf das Kind und lachten, denn der Sohn machte mit der Hand ein Zeichen, das man ganz gut kannte, er machte die Pommesgabel. Wenn Sie das noch nie gehört haben – er machte also eine Faust und hob nur den kleinen Finger und den Zeigefinger, das ist der Gruß der Metal-Fans, bekannt aus Wacken und aus dem Fernsehen. Er machte auch ein paar Tanzschritte, er findet Tanzen gerade großartig. Er reckte die Pommesgabel in den Abendhimmel und ließ den Kopf vor und zurückfallen, er sah aus wie ein sehr junger, aber auch sehr ambitionierter Rockfan und die Leute lachten und lachten, denn der Anblick von Sohn II war das einzige, was vor der Bühne überhaupt noch wärmte.

So war das Bild und ein paar der Gäste werden es wohl im Kopf mit nach Hause genommen haben. Vielleicht haben sie später sogar noch davon erzählt, von dem kleinen Jungen mit dem Metal-Gruß, der da ganz alleine vor der Bühne tanzte. Doch, es wäre wirklich ein großartiges Foto geworden.

Auch wenn ich genau weiß, dass Sohn II gar nicht die Pommesgabel gezeigt hat. Und er war auch gar nicht von der Musik begeistert. Er hoffte viel mehr, dass bald eine andere Band auftreten würde, eine mit noch mehr Schwung und Kawumm. Und solange diese hübschen, aber doch aus seiner Sicht etwas hüftlahmen Herren da spielten, so lange zeigte er ihnen eben finster entschlossen den Schweigefuchs.


 

9 Kommentare

  1. Eines Tages werde ich ein Buch mit all den Photos veröffentlichen, die ich nicht gemacht habe. Es wird ein großer Erfolg werden.

    René Burri – New York Times, May 20 2004

  2. So toll, wie das beschrieben ist, kann ich mir das nicht geschossene Foto sehr gut vorstellen – live und in Farbe, sozusagen. Und die “ Pommesgabel“ ist ein uraltes Zeichen, das man früher als Schutz gegen das Böse benutzte, bei unangenehmen Personen eben heimlich unter dem Tisch oder unter der Schürze oder in der Hosen tasche.

  3. Großartig. Großartig!
    So wunderschön, so detailliert, so völlig nah beschrieben bedarf es gar nicht eines abgelichteten Photos, um eine Szenerie gekonnt darzustellen. Nein, ein Photo hätte niemals soviel hergegeben wie diese Beschreibung.
    Vielen Dank für das Herzerwärmen und einen guten Start in die Woche,
    nickel

  4. Pingback: Fundstücke (1) | Viertelstunde

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Time limit exceeded. Please complete the captcha once again.