Gelesen, gesehen, gehört im Juli

Gelesen:

Sarah Kirsch: Regenkatze. Von Sarah Kirsch kannte ich noch gar nichts und hatte eine falsche Meinung von ihr. Ich wusste nur, dass sie Lyrik schrieb und eine Naturkennerin war, DDR-Vergangenheit und Wohnsitz irgendwo in Schleswig-Holstein hatte, das hatte ich so beim Überfliegen der Feuilletons mitbekommen. Ich dachte, ihre Werke seien so ätherisch-versponnenes Zeug, Naturlyrik für Eingeweihte. Manchmal liegt man eben falsch.

Regenkatze ist allerdings gar keine Lyrik, das sind tagebuchartige Prosaskizzen einer etwas exzentrischen alten Dame, die mitten in Dithmarschen in einem kleinen Häuschen wohnte. Und dieses Wohnen beschreibt sie da, das Wohnen und das Leben. Wie sie sich diebisch über Regentage freut, an denen man so viel besser lesen kann als an den Sonnentagen. Und Musik hören. Es dauert nur ein paar Seiten, dann sieht man sie schon deutlich vor sich, wie sie am Fenster mit Blick in den Garten sitzt, Glenn Gould hört, die Katze streichelt und auf die Post von Amazon wartet. Wie sie begeistert Harry Potter oder Murakami liest, angewidert in die Gedichte von Grass blättert, den letzten Kempowski kumpelhaft nebenbei bewertet, an alte Weggefährten denkt. Wie sie durch die Landschaft huscht, in der sie jeden Zweig und jeden Käfer persönlich zu kennen scheint, wie sie mit ihrer Katze spricht und es genießt, viel Zeit zu haben. So als Pensionistin, wie sie sich nennt. Wie sie sich über all ihre Erinnerungen freut, wie sie sich freut, dass ihr “Köppi” so schön voll ist, dass jeder Gedanke so viele andere zum Klingen bringt. Eine Pensionistin, die betont resolut vor sich hin denkt und gerne allein in ihrer Weltabgeschiedenheit ist, stundenlang Assoziationen und Erinnerungen hinterherdenkt. Sie verfolgt nebenbei noch die Politik und die Nachrichten. Sie fühlt sich überhaupt nicht mehr zuständig, findet das gut und sieht lieber aus dem Fenster und im Herbst den Schwalben nach. Und wenn man das halbe Buch gelesen hat, hält man es in einer Stadtwohnung plötzlich nicht mehr aus und möchte aufs Land. So ein schönes kleines Buch. Gleich mehr Nichtlyrik von Sarah Kirsch bestellt. Und aufs Land gefahren. Nun ist das womöglich etwas schräg, sich dem Werk einer großen Lyrikerin nur über ihre Prosa zu nähern, aber ich hatte Urlaub und war unterwegs, da passten keine Gedichte. Gedichte gehen bei mir nur im eigenen Bett. Im Urlaub muss ich beim Lesen Strecke machen, sonst war der Urlaub sinnlos. Also die ganze Prosa von ihr.

Sarah Kirsch: Die ungeheuren bergehohen Wellen auf See. Erzählungen über Frauen in der DDR. Kühl und ohne jedes Pathos erzählt, das liest sich so weg wie kaltes, klares Wasser. Mein Favorit war die Geschichte von der jungen Frau, die in einem Mann verwandelt aufwacht, was dann eine erstaunlich folgenlose Angelegenheit ist und mit größter Selbstverständlichkeit über die Bühne geht. Großartige Geschichte.

Sarah Kirsch: La Pagerie. Notizen über eine Frankreich-Reise, es geht in ein Schloss in der Provence. Die Reisenotizen sind Texte, die manchmal wirken, als könnten sie sich zwischen Lyrik und Prosa nicht recht entscheiden. Da sieht man denen als Leser dann so beim Kippeln zwischen den Gattungen zu und freut sich, wie alles schwankt.

Sarah Kirsch: Irrstern. Skizzen aus Dithmarschen, die kann man sehr gut lesen, wenn man gerade auf Eiderstedt in einem alten Haus auf dem Deich sitzt und Kühe vor dem Fenster hat, die in der Abenddämmerung vor dem Fenster unter den alten Weiden stehen und wie fragend muhen. Im Buch wird irgendwas im Garten beschrieben und vor dem Fenster raschelt gleichzeitig was und das wird es dann schon sein, was da gerade auf der Seite steht, da klingen Buch und Wirklichkeit plötzlich zusammen wie in einem Verwirrspiel, das ist großartig. Wieder gemerkt, wie wichtig die richtige Buchauswahl im Urlaub ist. Muss man viel mehr drüber nachdenken.

Sarah Kirsch: Allerleih-Rauh. Das Buch habe ich nicht verstanden. Aber es sind hübsche Stellen drin. Viele sogar, daher dennoch durchgelesen. Dann etwas recherchiert und eine alte Kritik von Raddatz zum Buch gefunden, der hat immerhin auch nicht ansatzweise verstanden, warum das Buch diesen Märchen-Titel trägt und was das Märchen im Buch überthaupt soll. Gleich nicht mehr ganz so doof gefühlt. Auch gut.

Sarah Kirsch: Schwingrasen. Schwingrasen, das wusste ich auch wieder nicht, sind Wiesen über dem Moor. Das ist noch ein Buch auf der Kippe, zwischen Lyrik und Prosa einerseits und den mittleren Jahren und dem Alter der Autorin andererseits. Diese kippeligen Bücher von Ihr mag ich sehr.

Sarah Kirsch: Spreu. Das sind größtenteils Notizen von Lesereisen und Berichte von Lesereisen finde ich fast immer interessant. Beiläufige Zeilen aus gottverlassenen Kleinstädten und Käffern und Bahnhöfen in der Provinz. Hotelbeschreibungen aus den großen Städten, seltsame Vögel im Publikum, schräge Veranstalter, das liest sich fast bei jedem Dichter gut, das können sie irgendwie alle.

Sarah Kirsch: Das simple Leben. Eigentlich hätte sie auch gut bloggen können. Die Texte sind fast immer in der typischen Blogeintragslänge, weisen sprachliche Marotten auf, leben von Rückbezügen und Andeutungen, das kennt man doch irgendwoher. Hier sehr viel über Schafzucht in Dithmarschen, das Wetter und den Matsch, “wir leben in Matschedonien”. Ein nettes Wort für Dithmarschen.

Sarah Kirsch: Islandhoch. Aufzeichnungen von einer Islandreise, mit dem Schiff unternommen. Liest sich fast so, als würde man da auch einmal hinwollen. Und das will etwas heißen, in meinem Fall. Ich kann zwar ihre Leidenschaft für Botanik so gar nicht teilen, aber was sie über die Gegend schreibt… hach ja.

Sarah Kirsch: Tatarenhochzeit. Das ist wieder etwas mit starkem DDR-Bezug, so etwas lese ich als Westler, der ohne jeden Bezug zur DDR aufgewachsen ist, abgesehen natürlich davon, dass sie immer in Sichtweite lag, als seltsam exotisches Buch. Es spielt in einem sehr weit abgelegenen Land, dass tatsächlich von Travemünde nur wenige Meter entfernt war, das kann man auch keinem mehr erklären, der nicht dabei gewesen ist. Faszinierend. Ob ich das Buch ohne intimere Kenntnis der Vorfälle, um die es da geht, verstanden habe – keine Ahnung. Ich kenne auch sonst gar keine DDR-Autoren, mir fehlt jeder Kontext. Stellenweise rät man ohne Hintergrundwissen so vor sich hin. Einiges dann doch lieber quer gelesen.

Sarah Kirsch: Kommt der Schnee im Sturm geflogen. Worinnen es, um nach all den Büchern von ihr auch einmal im Duktus der Kirsch zu schreiben, um Notate zum Leben und Schreiben sich handelt. Viel über das Dichten, viel über Schnee und Wetter und Landschaft und teures Papier und edle Schreibgeräte.

Bei der Lektüre der Kirsch-Bücher immer wieder verblüfft gewesen, wie viele Pflanzen ich nicht kenne oder nicht als Bild vor Augen habe, nur als Begriff. Gleiches Problem wie bei etlichen Dichtern aus dem neunzehnten Jahrhundert, im Grunde sieht man deren Bilder in den Büchern nicht richtig, wenn man das ganze Grünzeug nicht kennt. Es macht immerhin etwas aus, ob etwas prächtig blüht oder eher ein mittleres Blümchen ist. Wenn man das nicht weiß, fehlt bei der Lektüre doch etwas. Wie etwa auch der mir völlig unbekannte Duft des Heliotrops, der in jedem zweiten englischen Roman vorkommt, darüber habe ich vor Jahren schon einmal etwas geschrieben. Diese Bildungslücken sind vermutlich gar nicht so klein. Als würde man sich unter “Hügel” nichts vorstellen können, oder unter “Tapete”. Auch schade.

Aber dass Sarah Kirsch die Sonne einmal als “Glanzkröte” bezeichnet hat, das fand ich schön und das habe ich mir gemerkt, an diesen heißen Tagen.

Elizabeth Strout: Mit Blick aufs Meer. Deutsch von Sabine Roth. Ein Kleinstadtroman aus Maine, USA. Kleines Küstenkaff, kleine Leute, kleine Schicksale. Immer eine gute Idee, so etwas. Resolute ältere Damen, planlose Jugendliche, Alkoholprobleme – fast kommt es mir vor, als hätte ich auch schon einmal etwas in der Art geschrieben. Travemünde weltweit! Hihi. Ziemlich bittere Geschichten darin enthalten. Hat mir gefallen, wunderbar erzählt, großartig übersetzt. hat nicht umsonst ein paar Preise gewonnen. Liest sich ausgezeichnet am Strand von Pelzerhaken, mit Blick auf Dauercamper.

Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt. Lese ich wahrscheinlich als letzter Mensch in diesem Land. Und ist es denn zu fassen, es macht tatsächlich genauso viel Spaß, wie alle immer gesagt haben. Was für ein vergnügter Erzählstil. Mit herzlichem Dank an die Spenderin.

Werner Koch: See-Leben I. Das hat mir jemand empfohlen und, pardon, ich komme nicht mehr darauf, wer und in welchem Zusammenhang das war. Dank in die Runde jedenfalls, das ist ein schönes Buch. Ich habe das ein paar mal abends im Bett in die Hand genommen und angefangen zu lesen, das geht so los: “Der Mond ließ sich Zeit. Er war weiß und zaghaft, und als ein Fisch durch ihn hindurch sprang, zuckte der Mond zusammen. Dann beruhigte er sich und tanzte kugelrund weiter.” Und weil mir der Anfang so dermaßen gut gefiel, habe ich das Buch danach jeweils wieder weggelegt und bin zufrieden eingeschlafen. Auch ein nettes Ritual, aber etwa nach dem achten Anlauf habe ich dann tatsächlich einmal weitergelesen. Weitergelesen von dem Mann, der seinen Schreibtisch an den See stellt und einfach nicht mehr ins Büro zurückkehrt, eine Home-Office-Variante, lange bevor es so etwas in der Wirklichkeit gab. Von dem anderen Mann, der rückwärts lebt, vom Sarg auf die Geburt zu. Von der stets beleidigten Katze, mit der man niveauvoll streiten kann. Ein feines Buch. Ein ruhiger, klarer Erzählton, ein Roman, der einem Zeit gibt. Auch von Werner Koch gleich mehr bestellt.

Robert Louis Stevenson: Die tollen Männer. Eine Erzählung. Leider keine Angabe zur Übersetzung zu finden. Man müsste das Buch eigentlich auf Helgoland lesen, wo die Nordsee gegen die Felsen tobt und man sich wenigstens halbwegs vorstellen kann, was Großmeister Stevenson hier beschreibt, wenn er von den Tollen Männern erzählt, einer schiffeverschlingenden Verwirbelung im Meer vor einer nordbritischen Insel, wo Wellen geboren werden, die ein teuflisches Eigenleben zu führen scheinen. Und eigentlich müsste es Herbst sein beim Lesen, Sturmsaison. Vielleicht beim nächsten Mal. Stevenson ist immer gut.

Walter Kempowski: Das Echolot – Abgesang 45. Ein kollektives Tagebuch. Ich bin mit dem anderen Echolot-Band von 41 (Barbarossa) noch gar nicht fertig, hatte mir aber diesen Band hier schon einmal auf Vorrat bestellt. Und weil ich in neu ankommende Bücher immer kurz hineinsehen muss, habe ich das auch bei dem Abgesang gemacht und zack, waren drei Stunden rum und ich schon mittendrin. Beklemmend gut, ungemein erhellend. Unheimlich, monströs, beeindruckend, man kann Kempowski nicht genug für die Arbeit danken. Und obwohl bekannt sein dürfte, wie die Geschichte ausgeht, ist die Lektüre unerwartet spannend. Das klingt vielleicht etwas zu leichthin für das Thema, wenn man es spannend nennt, aber genau das ist es tatsächlich. Ein Buch, dass man durchgelesen haben möchte. Während das 41er Buch kaum auszuhalten ist und das Lesen des akribisch geschilderten und letztlich doch unvorstellbar bleibenden Grauens eher Arbeit ist, schwere Bildungsarbeit, ist das hier ein Buch, das man nicht gerne unterbricht.  Aber es geht natürlich auch deutlich besser aus.

Gesehen:

Unfreiwillig eine Folge der Zeichentrickserie Lauras Stern. Und durchaus überrascht gewesen. Habe wirklich nicht geahnt, dass es noch moraltriefendere Kinderunterhaltung als Leo Lausemaus gibt. Man lernt nicht aus! Ebenso unfreiwillig einige Folgen der “Familie Feuerstein”, die aus der Erwachsenenperspektive geradezu erschreckend unwitzig sind. Die Söhne allerdings fanden beides super, mit deutlichem Vorsprung für die Feuersteins. Und dann noch “Lucky Luke” in der Zeichentrickversion. Nicht halb so witzig wie die Comics.

Gehört:

Walter Kempowski: Schöne Aussicht. Gelesen von ihm selbst. Das kannte ich bereits als Buch, aber es ist immer interessant, den Autoren selbst zu hören. Ich finde das löblich, wenn man Autoren ihre Werke einlesen lässt. “Schöne Aussicht” ist übrigens ein gutes Buch, das steht ganz zu Unrecht hinter den bekannteren Werken der Reihe “Deutsche Chronik” zurück. Die Handlung spielt nach dem Ersten Weltkrieg, die Eltern des Autoren beziehen eine Wohnung in einer wenig präsentablen Gegend in Rostock, bekommen Kinder und versuchen den Aufstieg. Wirklich lesens- und hörenswert. Mit herzlichem Dank an die Spenderin.

 

9 Kommentare

  1. Ja, die Sarah Kirsch war eine große Erzählerin…
    Aber auch bei ihr irritiert mitunter das Buchcover den gewillten Leser, siehe diese Kundenrezension zu „Die ungeheuren bergehohen Wellen auf See“:
    „Das Buch war in gutem Zustand. Das Cover hat neugierig gemacht. Es war leider keine Piratengeschichte. Hatte es weiter verschenkt. Kann nicht äußern wie diese Geschichte ausfiel.“

  2. Es gibt noch einen weiteren Menschen auf der Welt, der die Vermessung derselben noch nicht gelesen hat: Mich. Das liegt allerdings daran, dass ich mal beruflich „Ruhm“ von Kehlmann gegenlesen musste und das so furchtbar fand. Seitdem traue ich mich nicht mehr.

    Ansonsten interessante Parallelen: Habe gerade „Uns geht’s ja noch gold“ beendet und die ersten 3 Teile der „Deutschen Chronik“ bestellt – bin gerade kempowski-infiziert. Und: Meine Söhne haben auch gerade Familie Feuerstein für sich entdeckt (watchever?!)!

  3. Hab‘ ich doch gleich an der Kombi von Lucky Luke und Familie Feuerstein erkannt ;-)! Fehlt nur noch „Es war einmal…“.

  4. Sie haben auch später einmal erwähnt, dass Sie sich unter dem Duft von Heliotrop nichts vorstellen können. Und auch nicht wissen, wie Juchten riecht. Und Sie haben Recht: Diesfalls fehlt einem als Leser etwas, so, als würden auf einem Gemälde zwischendrin unbemalte weiße Flecken zu sehen sein.

  5. Oh, ich war wohl der drittletzte Mensch, der Kehlmann erst vor vier Wochen gelesen … und vergnüglich fand … so wie alle immer sagten …

    Tja, das kommt davon, wenn Bücher so lange auf der Spiegel-Bestsellerliste stehen. Die fass ich meistens nicht an.

  6. Hihi, ich bin dann wahrscheinlich einer von den drei Menschen, welche die Vermessung bis dato nicht gelesen haben. Nach „Ruhm“, für mich eine der größten literarischen Enttäuschungen der vergangenen Jahre, kann ich mich nicht mehr dazu aufraffen.

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