Berlin, Lübeck, Basel

Ich habe noch gar nicht von meinen Reisen berichtet, so geht es ja nicht. War ich doch innerhalb von zehn Tagen in immerhin in drei Städten, womit es sich um die vermutlich mobilste Phase der letzten zehn Jahre handelt, das muss natürlich verarbeitet werden.

Ich habe gerade irgendwo gelesen, dass die Zeit im Alter deswegen schneller verrinnt, weil man mehr und mehr einem genormten Alltag verfällt. Alles ist immer gleich, dadurch wird es rasend schnell, morgen ist schon wieder Weihnachten, gestern haben wir erst den Tannenbaum entsorgt, wer würde das nicht kennen. Für die Söhne ist Weihnachten unendlich lange her, denn die Söhne lernen jeden Tag dazu, jede Stunde ein Abenteuer, so wird das Jahr lang und immer länger, der eine oder andere wird das noch aus den Sommerferien erinnern, die früher unfassbar und herrlich lang waren, während heute sechs Wochen um sind, ehe man sich einmal richtig auf etwas konzentrieren kann. Das geht einem, so stand es in dem Artikel, den ich gerade nicht wiederfinde, auch im Urlaub so. Die ersten zwei, drei Tage sind lang, denn alles ist neu, die letzten Tage sausen vorbei, denn man hat sich schon wieder einen Alltag gebastelt. Man kann also, langer Rede kurzer Sinn, die Zeit ausbremsen, wenn man nur genug erlebt. Genug Neues, wohlgemerkt, nicht genug Routine. Da kann man also zehn Tage ganz prächtig in die Länge ziehen, wenn man ab und zu die Stadt wechselt. Wobei ich festgestellt habe, dass es all dieser intellektuellen Erkenntnisse gar nicht bedarf. Um Minuten zu Stunden zu dehnen muss man nicht wild durch die Gegend fahren, es reicht vollkommen aus, im Abflugbereich des Flughafens Basel eine Stunde warten zu müssen. Aber ich greife vor, vor Basel waren noch zwei andere Metropolen.

Berlin

Ich war geschäftlich in Berlin und mit mir und Berlin ist es ja so: ich kenne da nichts. Ich war vor etwa zehn Jahren einmal zehn Minuten in Berlin, beiden Angaben sind keine humorige Überspitzung, das war tatsächlich so. Während alle Welt irgendwas in Berlin kennt, kenne ich da nichts, ich habe nur mal ganz kurz das Brandenburger Tor gesehen, von ganz weit weg. Lustigerweise kenne ich dennoch sehr viel in Berlin, nämlich aus der Literatur und aus Filmen. Jede Ecke der Stadt kam schon einmal in irgendeinem Buch vor, jede S-Bahnstation hat man schon gehört, jedes berühmtere Gebäude kennt man aus irgendeinem Geschichtsbuch. Das ist nur New York und in Berlin der Fall, nehme ich an. Ich fuhr mit dem Zug zum Hauptbahnhof, hatte ein wenig Zeit und sah mir die Tschingbummgegend mit Reichstag etc. an.

Berlin

Schön ist es da nun nicht, einen Willen zur Ästhetik sieht man den neueren Gebäuden eher nicht deutlich an. Dafür ist es zwischen den Gebäuden überraschend schlammig im Regierungsviertel, das ist sicher so eine subtile Botschaft der Stadtplaner. Nun ja. Zum Brandenburger Tor und zurück, dann in ein Taxi gesetzt und “Zum Ikea Tempelhof” gesagt, denn dort fand das Meeting statt. Die Taxifahrerin war anscheinend tatsächlich eine Bilderbuchberlinerin, denn sie antwortete: “Ikea Tempelhof? Kenn ick nich! Aber fahrnwer ma hin und kieken nach Blaugelb, wa? Werma schon finden. Kiekense mal mit?” Das fand ich schön, das klang so authentisch, das gehört doch so.

Als ich vor zehn Jahren in Berlin war, fuhr ich übrigens in Begleitung einer sehr schönen Dame. Als ich jetzt nach Berlin fuhr, traf ich ebendiese sehr schöne Dame zufällig im Zug, so etwas kann man sich für einen Roman auch nicht ausdenken, das glaubt einem doch kein Mensch. Jedenfalls saßen wir die ganze Zeit händchenhaltend und plaudernd im Abteil, weswegen ich immer noch nicht weiß, wie Brandenburg aussieht. Auf der Rückfahrt war es dann leider schon dunkel um etwas sehen zu können. War ich überhaupt schon einmal in Brandenburg? Ich glaube nicht.

In Berlin traf ich noch das Nuf. Leider musste ich mit ihr in ein Etablissement der schäbigsten Systemgastronomie, weil es im Hauptbahnhof keinen anständigen Coffeeshop gibt, das ist anzuprangern. Und nein, Sie müssen mich in den Kommentaren nicht auf Starbucks hinweisen, das ist sinnlos. Ein Treffen mit dem Nuf wäre selbstredend auch allein schon ein Grund nach Berlin zu fahren. Im Grunde ist Berlin nämlich verblüffend dicht. Das gilt auch für

Lübeck

Dort habe ich mit der Familie die Familie besucht. Menschen, die ich teilweise sehr, sehr lange nicht gesehen habe, Menschen, die die Herzdame teilweise gar nicht kannte, weil ich längere Zeit keinen Kontakt hatte, das klingt auch schon wieder nach Roman, was soll ich machen, das Leben ist so. Ein Treffen, bei dem ich gerne auch andere Menschen dabei gehabt hätte, was aber nicht ging. Meine Großmutter etwa ist schon lange nicht mehr, wird aber einfach immer fehlen, wenn ich auch nur an Lübeck denke. So eine Kaffeetafel mit Verwandtschaft, bei der sie nicht in der Mitte sitzt, das ist seltsam falsch und das wird es wohl auch immer bleiben. Damit hat man etwas im Leben erreicht, denke ich, wenn man so eine Lücke hinterlässt. Meine Cousine hatte Frankfurter Kranz gebacken, eine Torte, die es früher immer auf den Familienfesten gab. Eine wahnwitzig nahrhafte Angelegenheit, im Grunde wohl eine Kriegsgenerationstorte, wir haben wieder Butter! Gute Butter! Butter, die meine Oma immer als ihr Lebenselixier bezeichnet hat. Möchtest du noch ein Brot? Mit Butter? Und dann das Unverständnis, wenn man nein sagte. Rätsel Kind, hat einfach keinen Hunger. Frankfurter Kranz hatte ich seit Ewigkeiten nicht mehr gegessen. Und mit dem ersten Bissen war es dann gar nicht mehr November, sondern der 17. Juni. Ein Tag, der in dem Land meiner Kindheit ein Feiertag war, weil da nämlich meine Oma Geburtstag hatte, das war soweit nachvollziehbar und logisch. Man saß im Garten vor dem Haus in der Siedlung am Rand von Lübeck. Es gab sehr viel Torte und sehr viel Kaffee und Bier der Marke Lück. Die Damen trugen knisternde Kleider aus Synthetik, deren Muster ich heute noch vor Augen habe. Die Herren trugen steif gebügelte Oberhemden und legten nach zwei Stück Torte die Schlipse ab, wobei sie etwas von “Marscherleichterung” murmelten. Die Kaffeetafel im Garten war sehr lang, manchmal waren es mehr als vierzig Personen, die da zum Geburtstag des unzweifelhaften Familienoberhauptes kamen. Ich bekomme nicht mehr alle Verwandtschaftsverhältnisse zusammen, die Namen schon gar nicht. Fast alle Erwachsenen rauchten, damals rauchte man noch immer und überall, sogar im Bus! Liebe Kinder, das könnt ihr euch heute gar nicht mehr vorstellen. Es war schönes Wetter, der Rauch zog gerade nach oben und die Kinder standen am Goldfischteich, in den nach den Erzählungen der Erwachsenen alle Kinder einmal hineingefallen waren. Seltamerweise konnte sich kein Kind daran erinnern. Dann saß ich auf dem Schoß meiner Oma, trank Fanta, spielte mit ihrer Bernsteinkette und hörte den Erwachsenengesprächen zu, die mir nichts sagten, da ging es immer darum, aus wem gerade was geworden war. Irgendwann kamen im Radio die Grüße ferner Verwandtschaft, dazu musste man leise sein und genau hinhören, denn in den Schlagerpausen konnte immer etwas kommen, was für uns war, für die Menschen in diesem Garten, in Omas Haus.

So war das mit den Erinnerungen an der Kaffeetafel im Haus meiner Cousine, in dem sich die Söhne aus unerfindlichen Gründen zwei Stunden lang so gut benommen haben, wie im ganzen Leben noch nicht. Meine Oma wäre stolz auf sie gewesen, so viel steht fest.

Nicht ganz so dicht wie Lübeck ist

Basel

Aber eigentlich ist es doch verblüffend dicht, denn wenn man mit der S-Bahn in Hamburg zum Flughafen fährt, sehr kurz fliegt und dann in Basel gleich in die Tram steigt, dann vergeht von Tür zu Tür wirklich verblüffend wenig Zeit. In Basel war ich auf einem Autorenkongress, der “Fairlag-Kongress” hieß, ein Name, der mir eher unangenehm ist. Wie diese Friseursalons, die sich Mata Haari nennen oder dergleichen. Schlimm. Dort war ich eingeladen als Teilnehmer einer Podiumsdiskussion. Es ging bei dem Kongress um die Frage, welche Verlagsmodelle Autorinnen und Autoren jetzt und in Zukunft brauchen, ich war da als Berufs-Blogger und damit auch als Exot vom Dienst vorgesehen. “Herr Buddenbohm, wie sieht denn so ihre Arbeit aus? Das können sich ja viele hier gar nicht vorstellen?”

Da war ein Saal voller bemerkenswert intellektuell wirkender Menschen, das war mir gleich sehr sympathisch, wie sehr diese Versammlung jedem Klischee über Schriftsteller entsprach. Schwarze Rollkragen, distinguiert ergraute Schläfen, Grübelgesichter und Brillen mit Goldrand, das war ganz großartig besetzt. Und was ein Spaß, dass man zunächst nicht wusste, wer was ist. Ein Verlagsleiter? Oder ein Nachwuchsautor? Der Moderator des Tages? Ein Agent? Die Veranstalterin oder die bekannte Lyrikerin? Da konnte man herrlich Spielchen spielen und sich fragen, welche Rolle man am besten mit wem besetzen würde. Ich war erst am Nachmittag dran und habe mir bis dahin angehört, wie man über die deutsche Verlagslandschaft und die in anderen Ländern sprach, über den Literaturbetrieb, über die Rolle der Autoren, die, das wurde dann schnell klar, in den Augen der meisten Anwesenden eher eine Opferrolle ist. Oder zu sein hat. Diese Meinung teile ich nicht, aber es schienen sich doch etliche in der Leidenspose ganz gut zu gefallen. Zunehmend skurril wurde es dann, als immer mehr Rednerinnen Bezug auf die guten alten Zeiten nahmen, als immer öfter die Namen Grass, Böll, Frisch und Walser fielen, die alle ein ach so gutes Verhältnis zu ihrem Verlag hatten und deren Bücher ach so gut waren und deren Lektoren ach so kenntnisreich und so weiter, Du meine Güte. Die mussten sich nicht selbst vermarkten, die Großen der alten Zeit, die mussten nur den richtigen Typen in Reinbek kennen! Dichter können sich gar nicht vermarkten, das ist ihnen gar nicht zumutbar, und jetzt womöglich noch online, das muss doch der Verlag! Mir wurde ganz anders. Früher, früher, früher, die Zukunft grau und traurig, die Literatur tot und die Autoren verhungert. Insgesamt hatte ich bald den Eindruck, dass diese Branche kollektiv die Vergangenheit vergöttert und in seltsamen heidnischen Ritualen den anscheinend untoten Herren Unseld und Rowohlt huldigt, dass die Branche die Gegenwart mit ihren grässlichen E-Books, Onlinegefahren und Urheberproblemen meidet und dass sie die Zukunft fürchtet. So sehr fürchtet sie die Zukunft, dass sie sie auf keinen Fall gestalten will, das können bitte andere machen, über die man dann schön jammern kann. Aber doch, sagte eine Verlagsdame, mit der ich mich ansonsten blendend verstanden habe, aber doch, wir arbeiten ja an der Zukunft! Wir bauen doch einen neuen E-Book-Reader!

Tja. Warum es gutgehen soll, wenn Verlage plötzlich Hardware basteln, das habe ich dann nicht verstanden, sie war aber sehr überzeugt von dem Projekt und seiner Notwendigkeit.

Wolfgang Tischer vom Literaturcafé hat eine Rede gehalten, die man hier nachlesen kann und die später von anderen als “Amazon-Werberede” zitiert wurde, das sagt auch schon viel.

Es gab dann noch eine Diskussion um E-Bookpreise und alle erklärten sich gegenseitig feierlich nickend, wie teuer E-Books unbedingt sein müssen und ich habe mich mit dem Hinweis auf die etwas anderen Interessen der Kunden ganz bestimmt nicht beliebt gemacht.

Ich danke aber dem Verband Deutscher Schriftsteller ganz herzlich für die Einladung, ich fand das sehr interessant und lehrreich und, das muss man allerdings auch sagen, die Diskussionskultur so etwas von erholsam kultiviert, geistreich und elegant – man möchte als Mensch, der die Telefonkonferenzen internationaler Konzerne gewohnt ist, schluchzend von dannen gehen, wenn man so etwas erlebt.

Ich danke dem Verband auch für das mittlerweile selten gewordene Gefühl, als Blogger richtig exotisch zu sein, das hat Spaß gemacht, gerne wieder. Und wenn ich Zeit habe, lese ich die Bücher der Menschen nach, die ich da kennengelernt habe, ich bin serh gespannt. Doch, das war kontrovers aber toll.

Dann begleitete ich die Dame, die den neuen E-Book-Reader projektiert, zum Bahnhof und fuhr selbst weiter zum Flughafen, wo ich dann anderthalb Stunden zu früh war und in ein seltsames Zeitloch fiel.

Man kann im Abflugbereich des Flughafens Basel nichts kaufen, der Kaffee kostet fünf Euro, da hört der Spaß wirklich auf. Man kann auch nicht sitzen, es ist nämlich abends ziemlich voll. Man steht also herum und sieht auf den Menschen am Flipper – da steht ein Flipperautomat im Gate – der immer wieder eine Münze nachwirft und mit seltsam hölzernen Bewegungen ein Spiel nach dem anderen absolviert, eine ganze Stunde lang. Mit diesen Geräuschen, die man noch früher kennt, tüdelüütpinpingping. Der spielte da Flipper wie in einer Jugendherberge, während ringsum die Rollkofferarmee der Berufsreisenden stand und stumpf zusah. Die grauen Damen und Herren, um ihn aufgereiht wie im Theater, der Flipper wie eine Requisite im modernen Regietheater, ab und an die Durchsage, man möge auf sein Gepäck achten, man möge immer auf sein Gepäck achten, das war sicher irgendwie symbolisch gemeint, das ist im Regietheater ja immer so, und er warf immer noch eine Münze ein, wie eine aufgezogene Blechspielzeugfigur. Das war die längste Stunde des Jahres.

Als man endlich in das Flugzeug einsteigen konnte, wurden die Premiumkunden der Airline zuerst abgefertigt, das waren nur sieben Leute, danach kam ich. Die standen dann aber sinnlos vor einer Glastür, man war noch nicht ganz so weit, doch noch ein wenig Wartezeit. Ich stand hinter den sieben Leuten vor der Glastür und damit ich nicht so einfach bei ihnen stand, es waren ja Premiumkunden, kam eine Angestellte und zog ein blaues Absperrband zwischen mich und die anderen. Und als die Tür schließlich aufging, ließ sie diesen glorreichen Sieben etwa zehn Meter Vorsprung, bevor sie die Klassenschranke vor mir entfernte und mich auch durchließ, denn die hatten ja mehr bezahlt als ich. Das war, nach der längsten Stunde des Jahres, dann noch das vermutlich albernste Ritual des Jahres.

Ich habe von Basel fast gar nichts gesehen, außer dem Literaturhaus. Aber es war wirklich interessant dort. Bis zur letzten Minute.

8 Kommentare

  1. Basel lese ich, wenn der Kloß im Hals und die Tränen in den Augen weg sind. Was für ein schöner und so wahrer Satz „Meine Großmutter etwa ist schon lange nicht mehr, wird aber einfach immer fehlen, wenn ich auch nur an Lübeck denke.“ Hier ist es nicht Lübeck … aber das Gefühl ist identisch.

  2. Kuchenkonzentrat, so nannten wir auf Omas Feiern den Frankfurter Kranz. Braucht man nur dran zu denken, schon ist man satt.

    Mittlerweile ist er eingestellt, aber auf gefuehlskonserve.de gibt es eine anschauliche Sammlung von Friseursalonnamen aus der Hoelle. Vorhair Nachhair.

    „Das war die laengste Stunde des Jahres“, grossartig. Insgesamt wie immer ein sehr unterhaltsamer Text!

  3. „Ich habe von Basel fast gar nichts gesehen, außer dem Literaturhaus.“

    Schade! Dabei ist Basel solch eine wunderbare Stadt! Also nochmal hinfliegen und Basel kennenlernen! 😉

  4. „sehr kurz fliegt und dann in Basel gleich in die Tram steigt“

    Welches Tram (sächlich!) fährt denn hier zum Flughafen? Vielleicht sollte ich öfter rausgehen.

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