Gelesen, vorgelesen, gesehen, gespielt und gehört im November

Ilse Helbich: Vineta.

Vineta

Die Dame kam nun schon mehrfach vor, die muss ich wohl nicht mehr vorstellen. Dies sind ihre Jugenderinnerungen. Nicht stringent erzählt, eher Erinnerungsfetzen, heranwehende Bilder von Menschen, Situationen und Gegenständen aus einer gründlich vergangenen Zeit.

Meir Shalev: Fontanelle.

Fontanelle

Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Eine Familiensaga aus Israel, erzählt von einem Mann, dessen Fontanelle sich nie geschlossen hat, weswegen er etwas mehr wissen und sehen kann als andere. Ich habe nach einem Drittel des Buches immer noch nicht verstanden, was dieser halbphantastische Kniff mit der Fontanelle soll, ich rätsele auch an anderen erzählerischen Marotten herum und werde das vermutlich nicht durchlesen. Wobei die Figuren nicht uninteressant sind. Eventuell bin ich in einer ungnädigen Phase. Schlimm.

November – Gedichte. Ausgewählt von Evelyne Polt-Heinzl und Christiane Schmidjell.

Novembergedichte

Das habe ich gar nicht gewusst, dass es so ein kleines Reclam-TB mit einer Gedichtauswahl zu jedem Monat gibt. Das kostet nur 5 Euro und ich fand es sehr interessant, das habe ich tatsächlich gleich mehrfach gelesen. Das Büchlein passt in jede Anzugtasche, das kann man zwischendurch kurz herausnehmen und in der knackvollen S-Bahn zwischen Hauptbahnhof und Hammerbrook ein paar Strophen über menschenleere, neblige Wälder nachlesen, das ist wie einmal kurz den Kopf aus dem Fenster halten und draußen ist nichts als Natur, die sich korrekt und jahreszeitenkonform verhält. Das hat mir wirklich sehr gefallen und die anderen Monatsbände kaufe ich mir nach und nach auch. Der Dezember liegt schon bereit.

Passend wie kein anderes Gedicht angesichts des Wetters in den ersten Wochen des Novembers in diesem Jahr:

Sonne, was machst du?
Spät noch im Jahr
Äugelst und lachst du
Freundlich und klar.

Lockest die Bienen
Wieder nach Seim,
Weckest den grünen
Schlafenden Keim.

[…]

Seim, so ein hübsches Wort, fast ausgestorben, das lebt nur im geschützten Reservat der Feuilletons, wenn es süßliche Lyrik zu verreißen gilt und einem Dichter die Produktion von Seim oder Honigseim vorgeworfen wird. Das zitierte Gedicht ist von Martin Greif, den ich nicht kannte, wirklich nie gehört den Namen. Immer diese Bildungslücken, schlimm. Es scheint nichts mehr von ihm lieferbar zu sein, da muss ich doch glatt mal wieder in eine Bücherei gehen.

R C Sheriff: Septemberglück.

Septemberglücl

Das hat mir jemand, ich habe leider vergessen, wer es war, auf Facebook empfohlen. Ich kannte weder den Namen des Autors, noch hatte ich vom Buch je gehört, es ist auch gar nicht so einfach zu bekommen. Den Autor hätte ich allerdings gekannt haben können, wie ich jetzt weiß, so unbekannt ist er nicht. Das Buch selbst ist großartig, eine Freude. Da geht es um nichts Besonderes, man liest von einem bescheidenen Urlaub an der See in England, eine Vorortfamilie im jährlichen Ritual, alles ist wie immer. Die Kinder sind teils schon ziemlich groß und gehen in Berufe, man reist aber doch noch einmal zusammen, man tut das sogar gerne. Der Vater plant generalstabsmäßig das Packen der Koffer, die Mutter tut so, als würde sie sich über alles freuen, hat aber eigentlich Angst vor dem Meer und möchte nur bloß niemandem den Spaß verderben. Ein kleines, fragiles Glück, das hier ausgebreitet wird, man ahnt die Zerbrechlichkeit einer Familie, die entschlossen glücklich sein möchte. Ordinary life at it’s best, hier eine Rezension zum Buch (englischer Text). “All of human life is here in the seemingly simple description of the family’s annual holiday in Bognor.” Eines der besten Bücher in diesen Listen in diesem Jahr.

Arthur Schnitzler: Der Mörder – Eine Novelle. Als gemeinfreies Buch bei Sobooks gelesen, ich finde die Darstellung des Textes im Browser sehr angenehm, wobei ich mittlerweile sehr lange Texte doch wieder lieber auf Papier lese. Dies ist aber ein Kurztext. Schnitzler schreibt ein berauschend schönes Deutsch, man möchte schon den ersten Satz gleich mehrfach lesen, so prächtig steigt man da ein: “Ein junger Mann, Doktor beider Rechte, ohne seinen Beruf auszuüben, elternlos, in behaglichen Umständen lebend, als liebenswürdiger Gesellschafter wohl gelitten, stand nun seit mehr als einem Jahre in Beziehung zu einem Mädchen geringerer Abkunft, das, ohne Verwandtschaft gleich ihm, keinerlei Rücksichten auf die Meinung der Welt zu nehmen genötigt war.”

Da wird die Wanduhr langsamer, wenn man so etwas liest. Schön.

Vorgelesen

Hamburg. Ja, Hamburg, das klingt nur komisch, ist es aber gar nicht. Wenn man nämlich ein Kind hat, das gerade lesen lernt, dann liest man die Stadt. Die Werbung, die Schilder an den Gebäuden und Haltestellen, die Gedenktafeln, die Stolpersteine, die Kinoplakate, die Veranstaltungshinweise an Kirchen, die Ausstellungsplakate an Museen und immer so weiter. Die Stadt ist voll von Schrift, überall steht irgendwas. Und wenn man mit einem leselernenden Kind durch die Stadt geht, dann merkt man erst wieder, wie sterbenslangweilig oder rätselhaft das alles ist. Blöde Abkürzungen, die für Investementfonds werden, immer gleiche Verkehrsschilder, unauflösbare Anglizismen, seltsame Rechtschreibung. Warum steht da BackCafe? Wieso ist der Buchstabe da mittendrin groß? Ja, das möchte ich auch mal wissen. Was ist Debeka, was heißt Edeka, was ist eine AG? Haspa? Dr.? Wieso heißt ein Fitnessstudio “Body Street”? Wenn man es mit Kinderaugen sieht, ist die Stadt gar nicht so einfach zu lesen und Papa erklärt und erklärt und erklärt. Und denkt sich insgeheim, dass es für Leseanfänger auch ganz nett wäre, wenn irgendein Restaurant noch “Zum goldenen Ochsen” heißen würde, mit entsprechendem Bild dabei. Aber tempi passati, heute muss ich “Hollywood Canteen” erklären. Es ist wirklich kompliziert.

Gesehen

Akram und die Mauer im Meer” ist ein Kurzfilm über einen Jungen aus dem Gaza-Streifen, der die Schule verlassen hat, weil er Fischer werden musste, um die Familie zu ernähren. Das habe ich mit den Söhnen gesehen, die, ich weiß gar nicht mehr warum, etwas über Gaza wissen wollten, über den Krieg dort. Der Film war ein Zufallsfund, aber ein guter. Hier kann man ihn ansehen (sorry, Link kaputt). Auch die anderen dort verlinkten Filme aus der Reihe “Schau in meine Welt” sind sehenswert.

Hogi. Da mir das Kinderfilmangebot bei Watchever nicht mehr richtig zusagte und ich selbst da fast nie etwas gesehen habe, habe ich das wieder gekündigt und probeweise Kixi auf dem iPad installiert. Das ist eine App nur für Kinderfilme und -serien, ich bin noch gar nicht dazu gekommen, mir das Angebot wirklich näher anzusehen. Immerhin aber habe ich mit den Söhnen schon einmal Hogi gesehen, das ist ein Naturfilm über einen Igel, von der Geburt an bis zum Winterschlaf im Haus einer Igelschützerin. Schön gefilmt, Aufnahmen aus Igelhöhlen sieht man ja nicht jeden Tag. Leider wird der Begleittext etwas kinderfilmtypisch dümmlich gesprochen, aber das stört natürlich immer nur Erwachsene, nicht die Kinder. Immerhin die Erkenntnis: Naturfilme finden die Söhne super, es gibt jetzt also mehr davon.

Gespielt

Nichts, glaube ich. Die Söhne haben Lego wiederentdeckt, das läuft alles von selbst. Auch mal schön. Ab und zu bewundere ich die Konstruktionen, das reicht vollkommen aus.

Lego

Gehört

Renato Carosone. Den kennt man noch am ehesten durch dieses Stück, das kürzlich durch eine Coverversion wiederbelebt wurde. Der hat aber noch viel, viel mehr produziert, in so einem lässig-vergnügten Swingstil, das ist wirklich Musik, die aufhellt. Auf Spotify findet man viel von ihm. Wenn man Renato Carosone über Kopfhörer abspielt und dabei durch Hamburg im November geht, dann sieht alles plötzlich so aus, als könnte die Geschichte gleich lustiger werden. Vielleicht fängt die junge Frau, die da gelangweilt im Geschäft steht, plötzlich an zu tanzen? Vielleicht küssen sich die beiden doch noch, die da ohne Blickkontakt im Bus sitzen, aber nur drei Zentimeter Abstand zwischen ihren Händen haben? Na, vielleicht beim nächsten Lied. Muss doch irgendwann.

 

6 Kommentare

  1. „Hamburg vorlesen“ ist eine schöne Wendung, als Vater einer ebenfalls gerade lesenlernenden Tochter habe ich das sofort verstanden. Ging heute mit ihr die Straße entlang, da sagte sie plötzlich das Wort „Waschsal“, ohne erkennbaren Zusammenhang. Waschsal, was ist denn Waschsal, fragte ich (und dachte innerlich an Schicksal). Das steht da, sagte sie. Ich musste erst suchen, erklärte dann: Da steht eigentlich „Waschsalon“, bloß war es den Schilddesignern eingefallen, das O durch ein lachendes Gesicht zu ersetzen. Ein solches Bild signalisiert dem lesenlernenden Kind natürlich, dass hier die Schrift zu Ende ist, denn Bilder sind ja keine Buchstaben, da hat das Kind ja eigentlich völlig recht, und der Papa erklärt und erklärt und fragt sich, wo das Gasthaus „Zum Goldenen Ochsen“ geblieben ist..

  2. Von diesen reclam Gedichtbänden habe ich bis aus Dezember nun alle, jeden Monat hat die Buchhändlerin eines für mich im Regal liegen, ich freue mich jeden Monat und weiß gar nicht, was ich nächstes Jahr ohne das monatliche Büchlein tun soll…

  3. Merci vielmals für den „Septemberglück“-Tipp. Was für ein wunderschönes Buch! Ich bin noch nicht komplett durch, aber mein Herz ist schon ganz erwärmt.

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