Wie man medienpädagogische Entscheidungen trifft

Wenn man mit einem Erstklässler durch die Stadt geht, achtet man gezwungenermaßen viel mehr auf Werbung, als man es jahrelang gewohnt war. Denn das Kind liest natürlich dauernd ab, woran es vorbeikommt, es kann nicht mehr an Buchstaben vorbeisehen. Man diskutiert also dauernd kryptische Werbebotschaften – und stellt überrascht fest, dass ein enorm hoher Anteil bei Kindern gar keine Chance hat. Völlig unbegreiflich, was da steht, ohne weitere Bezüge oder Produktkenntnisse gar nicht zu verstehen, ohne Englisch nicht zu deuten, ohne Erwachsenenhumor komplett witzlos. Man muss wohl erstaunlich viel Werbung kennen, um Werbung zu verstehen.

Sohn I und ich steigen aus der U-Bahn, da wird auf dem Bahnsteig mittels Riesenposter für Ferris MC geworben. Den Herrn kenne ich nicht, ich bin popkulturell seit Jahren einigermaßen abgehängt. Der Sohn kennt ihn auch nicht und weiß nun nicht, ist Ferris MC irgendeine englische Vokabel, heißt der Mann auf dem Bild da so – oder geht es wieder um etwas ganz anderes, und er versteht es erst nächstes Jahr? Ich verstehe immerhin, dass es um einen Musiker geht, das erkläre ich ihm auch und zack, findet er den gut. Das Bild ist nämlich ziemlich düster, das sieht nach Krimi aus und hey, Musik UND Krimi, wie toll ist das denn.

Und weil wir 2015 haben und totale Topchecker sind, sehen wir auf dem Handy in der Youtube-App eben nach, was der Typ so macht. Und weil man als Vater immer einen medienpädagogischen Auftrag hat, sehe ich noch in der Wikipedia genauer nach, was es mit dem auf sich hat.

Dabei stelle ich fest, dass der Herr nur bedingt grundschulkompatibel ist. Und dass er bei Deichkind mitmacht, die ich zwar auch nicht kenne, von denen aber alle dauernd reden, die sollen ja gut sein. Da kann man also auch mal eben nachsehen, was die eigentlich so machen, wenn man schon dabei ist. Auf Youtube und in der Wikipedia, und bei Gefallen kann man das dann auch gleich alles bei Spotify in der Playlist des Sohnes festhalten, so weit sind wir ja auf der Höhe der Zeit. Durch die Welt gehen und das Wissen der Welt nutzen, das man immer in der Hosentasche dabei hat, so findet Lernen heute statt. Finde ich. Der Sohn findet eher, dass man dadurch lernt, sich sämtliche Videos eines Künstlers mehrfach anzusehen, erklärt er mir. Am besten zuhause auf dem Sofa. Ich höre ihm allerdings nur bedingt zu, in meinem Hirn ist nämlich schon ganz zu Beginn dieser Szene ein Schalter umgelegt worden, und zwar bei dem Wort Ferris. Da wechselt mein Hirn vollautomatisch und unweigerlich auf die Spur “Ferris macht blau”, die Älteren erinnern sich. Und dann erinnere ich mich an diesen Film, der so gut nun auch wieder nicht war, wirklich nicht, den aber alle damals gesehen haben, alle, alle. Und sogar mehrfach, wenn irgend möglich, das war einer der Filme, für die es dann Videotheken gab, dafür wurden die erfunden. Das war ein überaus wirkungsmächtiger Film, gar keine Frage, da konnte man Szenen mitsprechen. Unser eigenes Schulschwänzen war nach diesem Film nichts mehr wert, es war völlig unkomisch, komplett herabgesetzt und machte gar keinen Spaß mehr. Schlimm.

Und dann fällt mir ein, wie lange dieser Film schon her ist, ich rate etwas herum und denke an Mitschülerinnen,m mit denen ich den damals gesehen habe. Dann sehe ich auch das lieber einmal genau nach, meine Güte, doch schon so lange. Und für einen Augenblick fühle ich mich ob dieser Erkentnis sehr, sehr alt, aber leider nicht ebenso weise, weswegen mein Hirn nur eine nicht sehr geistreiche Bemerkung zu diesen meinen Gedanken zustande bringt, die ich dann seufzend vor mich hin murmele: “Ja, ja.”

Es ist ein senioriges „Ja, ja”, es wächst einem irgendwann einfach so zu.

Der Sohn freut sich allerdings sehr über dieses ja, ja, er bedankt sich bei mir, seltsam aufgeregt sogar, wofür genau bedankt der sich jetzt eigentlich? Ich bin etwas verwirrt, und es bedarf dann einiger Minuten vorsichtiger Nachfragen und sorgsamer Rekonstruktion, bis ich darauf komme, dass mich der Sohn genau während meiner nostalgischen Anwandlungen gefragt hat, ob er nicht am Abend reihenweise Deichkindvideos sehen könne. Am besten alle. Und mein “Ja, ja” kam dann genau in dem Moment, in dem er mich erwartungsvoll und ohne große Hoffnung ansah, während ich das Handy sinken ließ.

So werden nämlich medienpädagogische Entscheidungen in dieser Familie getroffen. Unter Einbeziehung modernster Technik und mit ganz viel Nachdenken. Ja, ja.

 

9 Kommentare

  1. Verrrdammt… Kenne ich. Deswegen sollten Eltern niemals zu viel denken. Sagt man gedankenverloren „Ja“, landet noch ein Ü-Ei beim Einkauf. Sagt man ebenso geistesabwesend mit halbem Ohr hingehört „nein“, kann es ein Riesengeschrei geben, dass man nur mit einem Ü-Ei wieder beschwichtigen kann. In beiden Fällen ist man der Loser… Ja, ja.. ^^

  2. Oh je – Deichkind Videos – ziemlich drastisch („Leider geil“ oder „Like mich am Arsch“), durfte er das etwa sehen? In den Neunzigern musste man sich als Eltern ja nur mit Nintendospielen und Fernsehen ja oder nein auseinandersetzen. Das stelle ich mir jetzt im Internet-Zeitalter mit dem ganzen Youtube-Quatsch wesentlich schwieriger vor.

  3. Vielen Dank für die Erinnerung an „Ferris macht blau“. Ein tatsächlich eher mittelmäßiger Film, der durch nostalgische Verklärung zu preiswürdigem Art-House-Kino wird.

  4. Ich habe den Film tatsächlich auf DVD und kann ihn in „nostalgischer Verklärung“ immer wieder gucken…..mit Mann natürlich!

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