Und nun das Wetter

Ich lese weiter in Erich Mühsams Tagebüchern, mir fällt da zu Beginn des zweiten Bandes gerade etwas auf: Es gibt bei Mühsam kein Wetter. Fast nie steht da etwas von Kälte oder Wärme oder Regen, es gibt auch keine Feiertage und keine Saison für irgendwas. Man sieht den Einträgen kaum jemals an, in welchem Monat sie geschrieben wurden, nicht einmal im November, der doch alle Menschen so verlässlich deprimiert, nicht einmal im Dezember, der doch jeden irgendwie mit Weihnachten erwischt.

Es geht bei Mühsam immer nur um die Menschen und wer mit wem was unter Einbeziehung welcher Körperteile, in welcher Kneipe oder Wohnung und vielleicht noch zu welcher Uhrzeit. Er friert nicht, er schwitzt nicht, er wird in keinem Regen nass und geht durch keinen Nebel, er verzweifelt an keinem Grau und freut sich über kein Blau. Die letzten Seiten habe ich schon regelrecht lauernd gelesen, um ihn doch einmal bei einer Erwähnung der meteorologischen Umstände zu erwischen – nichts. Er trifft da gerade Heinrich und Thomas Mann, er hört Thomas lesen und vermerkt eine “gezierte lübeckische Art” des literarischen Superstars, dem er in der Lübecker Heimat schon dauernd auf dem Schulhof über den Weg gelaufen war. (Die beiden sprachen aber erst viele Jahre später in München zum ersten Mal miteinander, viel mehr muss man übrigens über die Kontaktfreudigkeit des Lübeckers an sich nicht wissen) Auch diese Begegnung jedenfalls findet ohne Wetter und überhaupt ohne jede Szenerie statt. Man ist mit X und Y bei Z, das reicht Mühsam aus.

Das ist doch merkwürdig, ist es nicht? Ich schreibe dauernd über das Wetter. Wenn ich mich nicht beherrschen würde, ich würde sogar noch viel öfter über das Wetter und seine Wirkung schreiben. Ich hatte vor Jahren mal einen Plan für ein Gemeinschaftsblog “Und nun das Wetter”, in dem BloggerInnen einfach nur über das Wetter schreiben sollten, als Hausmittel gegen Schreibblockaden und Ideenlosigkeit aller Art, einfach Regen und Nebel und dergleichen auf tausend Arten. Vermutlich hätte das aber niemanden interessiert, also von mir einmal abgesehen. Ich lese ausgesprochen gerne gelungene Wetterschilderungen, Wetter geht immer, finde ich. Man guckt aus dem Fenster und da ist eines und es bedeutet auch immer irgendwas, denn es wirkt ja auf einen und auf alle anderen. Wetter ist immer auch eine Geschichte, ach was, es ist mindestens eine Geschichte, wenn nicht sogar viele.

Wetter wird mir nicht langweilig, was auch daran liegt, dass mein Gedächtnis wettergestützt funktioniert und ich habe erst spät verstanden, dass das nicht bei jedem so ist. Ich erinnere mich aber bei der Februarkälte am Morgen geradezu zwingend an vergangene Februartage und -szenen. Andere haben das eher bei bestimmten Liedern oder Bildern oder Landschaften, bei der Erwähnung von Namen, bei Kleingebäck. Ich brauche eine Temperatur und Wind und Licht. Erinnerungen hängen an so etwas wie der kleinen und unwillkürlichen Bewegung, mit der man die Schultern an einem Februarmorgen fröstelnd hochzieht, wenn eine Böe der heranstürmenden Kaltfront aus Russland um die Hausecke kommt. Erinnerungen hängen an der Schärfe der Luft bei fortgeschrittenen Minusgraden, am diesig-grauen Ausblick über eiskalt ruhendes Wasser, das in wenigen Stunden schon gefroren sein wird, an all diesen Kleinigkeiten, an klammen Fingern und kalten Füßen.

Der nächste Tag gleicht in Bezug auf das Wetter selten dem vorigen – aber je älter man wird, desto eher gleicht er einem Tag aus einem anderen Jahrzehnt. Und dann kann man durch das Wetter und seine Erscheinungen hindurch in die Vergangenheit sehen, in der man damals genau so an einer Hausecke stand und im gnadenlosen Ostwind fror. Am Hals fühlt man dann irgendwann wieder diese Jacke und den Schal von damals, den Schal, von dem man nicht mehr weiß, wo er geblieben ist. Dann wird das Bild immer vollständiger, bis man auch wieder weiß, warum man denn da so stand und erbärmlich fror, worauf man da gewartet hat und wie sie hieß. Bis man schließlich beides gleichzeitig fühlt, die alte und die neue Kälte – und dazwischen liegt eine Geschichte. Also bei mir ist das jedenfalls so.

Ich führe kein Tagebuch, ich führe nur ein Blog. Es ist voller Wetter, ich kann mir das gar nicht anders vorstellen. Aber wer weiß, vielleicht wäre das anders, wenn ich in so völlig unfassbarem Ausmaß wie Erich Mühsam jeden Tag wechselnde Damen küssen würde …

Na, man weiß es nicht. Am Ende spielt es doch auch eine Rolle, bei welchem Wetter man wen küsst.

16 Kommentare

  1. Eigentümlich, der Herr Mühsam, in seiner exzessiven Küsserei und der Wetterlosigkeit. Ich war neulich in einer Ausstellung des Malers Bonnard und sah seine kleinen Taschenkalender: er hat dort jeden Tag eingetragen welches Wetter war. Aber vielleicht achtet man als Maler auch mehr auf Licht und Farben. In Frankreich wrd viel und ausführlich übers Wetter geredet. Anfangs fand ich das total albern, fast lächerlich, man kann es doch eh nicht beeinflussen, dachte ich; war eben eine ignorante Städterin. Frankreich ist ein ländliches Land, es gibt noch so viele (wenn auch immer weniger) Landwirte und Menschen mit großen Gemüsegärten: Wie wichtig das Wissen um das Wetter ist, welchen Einfluss ein Hagelschauer auf die blühenden Kirschbäume, die zukünftige Kirschenernte und den Preis für Kirschen hat, habe ich während meiner ländlichen Jahre in den Bergen begriffen (und nebenbei erfahren, wie beeindruckend Gewitter in den Bergen sein können). Jetzt wohne ich am Meer. Mein Mann (ehemaliger Segler) nimmt jeden Tag wechselnden Wind (Stärke, Richtung), Wolken, Wellen bewusst war. War mir anfangs auch wieder fremd, diese Windfixation. Ich bin hingegen fasziniert von den täglich wechselnden Blau-Varianten von Meer und Himmel. Davon kann ich gar nicht genug bekommen.
    Wetterblog fände ich toll!

  2. Wunderbar! Einen Wetterblog fände ich auch toll. Ich selber fange – ganz unwillkürlich, wie mir anhand des obigen Textes aufging – so gut wie jeden Tagebucheintrag mit der Beschreibung des Wetters an. Falls meine Tagebücher je das Licht der lesenden Öffentlichkeit erreichen sollten, dann wahrscheinlich unter dem Titel „Fünfhundert Arten, das Wetter des Tages zu bemeckern“, oder so ähnlich.

  3. Warum lesen denn diese Mühsam-Tagebücher eigentlich überhaupt und immer noch? Für mich hört sich das schrecklich langweilig an. Aber es ist dabei spannend, bei Ihnen zu lesen wie sie sie lesen.

    Diese Wetter bezogenen Erinnerungen – die habe ich auch! Endlich geht es mal noch jemandem so. Morgens das Fenster öffnen und dieses Gefühl… von damals, in jenem Frühling/Winter/Spätsommer. Es ist für mich aber wirklich eher eine Erinnerung an meinen vergangenen Gemütszustand als an eine konkrete Begebengeit, wobei dieser Zustand mich wiederum auf ein Erwignis schließen lässt. Luft, Licht usw. lösen das aus. Aber vielleicht ist es bei mir dabei auch der Geruch. Nach Regen/Winter/erwachender Erde. Gerüche und Essen, besonders Essen verknüpfen sich für mich auch sehr mit Erinnerungen. Mit den Jahren wird das immer intensiver…

  4. Ich bin wetternörgelresistent. Das Wetter ist keine Dienstleistung, sondern eine Tatsache. (Mit diesem Satz kann man sich sehr unbeliebt machen und ins Abseits stellen, schon weil Wetterjammern als sozialer Kitt funktioniert.) Zugleich liebe ich Wettererscheinungen und ihre Wirkung. Und klar mag ich auch jene Arten von Wetter, die viele als gutes Wetter ansehen. Sogenanntes schlechtes Wetter stört mich praktischerweise nicht. Und ich bin vielleicht der einzige Mensch in Deutschland, der auch November und Februar mag. Auch weil ich die Brandenburger Wälder dann quasi für mich habe beim Wandern.

  5. Eine grandiose Idee der Wetterblog! Ich wäre sofort dabei! Nicht umsonst mache ich jeden Morgen ein Bild vom Himmel und gucke (fast) jeden anständigen Wetterbericht 🙂 #wetterfangirl

  6. Ich würde auch mitmachen. Wetter ist, wie oben schon jemand schrieb, für mich auch (oder hauptsächlich?) wegen dem sich dadurch veränderndem Licht und dem schönen Himmel superwichtig. 🙂

  7. Ein Wetterblog? Puh. Da müssten die Texte aber exorbitant herausragend sein… ich bin schon genervt vom Gemeckere, wenn auch nur die kleinste Wolke die Frechheit besitzt, irgendwo aufzutauchen, ganz zu schweigen von der allgemeinen Ekstase, wenn die Sonne scheint. Sich darüber freuen ist ja schön, aber dieses stundenlange darüber reden, wenn es doch jeder sehen kann, der einen Blick aus dem Fenster wirft! Schön fand ich früher im Radio die Ansagen zum erwarteten Hoch- oder Niedrigwasser, das hatte so was praktisches, alltagstaugliches, fast schon poetisches.

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