Ich wohne schon seit zwanzig Jahren nicht mehr an der Küste. Das ist meist nicht weiter schlimm, denn ich wohne in Hamburg, der einzigen Großstadt, die nicht am Meer liegt, in der die See aber dennoch überall zu spüren ist. Die Elbe trägt Geruch und Wetter von der Nordsee mit der Tide in die Stadt, die Möwen, die hier schreien, waren eben noch draußen am Strand und wenn man an den Landungsbrücken steht, kann man das Meer zwar nicht sehen, aber es ist doch da. Immer wieder stehen da Touristen an den Fischbrötchenständen, die wirklich meinen, daß da irgendwo, da gleich hinter den riesigen Docks von Blohm & Voss vielleicht, der Fluß münden müßte, so überzeugend ist das Küstengefühl am Hamburger Hafen.
Es fehlt mir nicht, das Meer zu sehen, es fehlt mir nicht, am Strand entlang zu gehen. Ich habe oft genug erlebt, wie grausam langweilig, endlos öde und leblos das Meer in einem norddeutschen Winter aussehen kann, in so einem zähen Winter ohne Schnee, der nichts als bitterkalte Tage bringt mit dem immer schneidendem Wind, mit immergrauen Wolken über dunkelgrauer See an fahlgrauem Strand. So grau ist das dann alles, daß man verrückt werden möchte, vor Sehnsucht nach einer Farbe. Wenn man da überwintert, wenn es da dann nicht März werden will und die leeren Villen an der Promenade Woche um Woche verlassen dastehen wie Geisterhäuser – das vermißt man nicht, nie.
Es fehlt mir nicht, im Sommer im Meer zu sein, ich habe als Kind mehr gebadet als die meisten Menschen es im ganzen Leben schaffen werden. Es fehlt mir nicht, auf heißem Sand zu liegen, ich habe Jahre darauf verbracht, es hat gereicht. Wenn ich heute mal an das Meer fahre, ziehe ich mir nicht mehr die Schuhe aus und gehe barfuß über den Strand, ich setze mich lieber in ein Café und sehe den anderen zu, die das machen und meinen, sie müßten sofort und auf der Stelle dadurch sehr glücklich werden, obwohl sie sich nur blutige Füße laufen, auf den Muschelschalen
Ich denke fast nie an das Meer. Aber wenn es Herbst wird und die ersten diesigen Tage kommen, an denen man etwas von Nebel ahnen kann, der hier in der Großstadt doch nie so ganz richtig zum Nebel wird, dann fehlt mir doch etwas: Das Geräusch des Nebelhorns am Abend.
Das Nebelhorn von Travemünde hörte man mit Beginn des Herbstes nahezu jeden Tag, erst mit dem Frühjahr gab es wieder sonnige Tage mit klarer Luft, an denen es ganz stumm blieb.
Mit der Abenddämmerung der Oktobertage setzte es ein, ein tiefes, sehr tiefes Geräusch, langgezogen, langsam, gewaltig. So tief, daß man es nicht nachmachen konnte, so weit kommt keine menschliche Stimme hinunter. Das Geräusch schob sich durch die Dunkelheit, durch den Dunst, weit auf die See, den Schiffen entgegen. Es war nicht gleichmäßig, es blieben Stücke im Nebel hängen, es franste aus, es waberte durch die dicke Luft und das Ende verlor sich unklar und weit im Osten, drüben in Mecklenburg und draußen, auf dem Meer. Man nahm das Nebelhorn an den Abenden erst gar nicht wahr. Es war immer da, man hörte es aber nicht, wie man den Wind nicht hört oder wie man den Regen an den Scheiben nicht beachtet. Aber wenn man ins Bett ging und das Licht ausmachte, die Augen schloß und sich in die richtige Lage gedreht hatte – dann war es unüberhörbar da. Ein majestätischer Ton, der die Nacht regierte, von weit, weit weg, nebelverhangen, nachtgedämpft und doch immer so laut, daß es im ganzen Ort zu hören war. Im ganzen Ort, auch noch in den Nachbardörfern und draußen, auf der Fahrrinne, wo die Schiffe aus Schweden oder Finnland auf Travemünde zuliefen. Das Nebelhorn war regelmäßig, es tutete ein paar Sekunden, dann kam eine längere Pause, dann wieder ein Tuten. Man konnte mit dem Rhythmus atmen, man konnte auf das nächste Einsetzen warten und bei diesem Warten in Träume fallen, zwischen zwei Töne fiel man da und wenn man nachts mal aufwachte, war es wieder da. Man lag im warmen Bett und immer mahnte das Horn im Minutentakt, daß es draußen kalt sei, Herbst und Nebel. Durch das offene Fenster kam die Nachtkälte, ein wenig tiefer unter die Decken gerutscht und auf das Nebelhorn gewartet, da war es wieder. Es war an manchen Abenden kaum zu hören, wenn die Luft sehr dick war und die Wolken besonders tief über dem Meer hingen, aber irgendwann fand man den Ton doch in der Nacht, wie man ein großes Gebäude im Dunst eben doch irgendwann sieht. Auf das Nebelhorn war Verlaß und um von den Tagesgedanken zu den Traumbildern zu kommen, war es das Beste, genau hinzuhören, so angestrengt genau hinzuhören, daß man schon meinte, zwischen zwei Einsätzen des Horns den leisen, grauen Wellenschlag am Strand zu hören, da war man aber schon eingeschlafen und die letzte Wahrnehmung war gerade eben noch das nächste Einsetzen des Horns, das einen tiefer in die Dunkelheit schob.
Das wird mir immer fehlen. Das Nebelhorn als meine sichere Brücke in die Nacht.
Wunderbar deine Erzählung vom Meer. Ich werde trotzdem immer am Strand die Schuhe ausziehen um glücklich zu sein, denn ich hatte noch zu wenig Meerestage in meinem Leben.
Lieber Merlix
Ich stelle mir vor, wie Du diesen Text in einer Bloglesung liest. Denn da gehört er hin. Die Worte werden die Zuhörer reisen lassen, auf dem Ton des Nebelhorns, in eigene sichere Welten der Erinnerung, in denen man die eigene Geborgenheit vermutet oder fühlt oder eben gar erinnert.
Dein Text ist wunderschön. Du kommst ohne Wortakrobatik aus, aber die Sätze reihen sich dennoch in künstlerischem Schwung an einander.
Ich liebe die Sensibilität, die Wehmut und die Ruhe in Deinen Worten.
Und ich denke daran, dass man sich immer wünscht, was man selber nicht hat. In meiner Schweizer Enge ist wenig so attraktiv wie Weite: Ob es die mongolische Steppe ist oder eben die Nordsee: Die Weite ist eine Sensation. Und sie darf auch farblich monoton sein. In mir schreit genug Freiheitsdrang, der in der Ruhe erst nach aussen dringt und mir einen Frieden schenkt, den mir kein Alpengipfel schenken kann.
Danke, vielen Dank für Ihre Anmerkungen, ich freue mich sehr. Und genug Meertage gehabt zu haben, ist sicherlich eine eher seltene Erscheinung, das ist mir schon klar. Dafür passen bei mir gerne noch ein paar Bergtage – und hoffentlich sehr, sehr viele Großstadttage.
Ein Erzähler ist ein Erzähler, ist ein Erzähler…
Ich hatte Travemünde zwar nicht als Wohnsitz, habe aber dort im Sommer einen Grossteil meiner Kindheit auf der kleinen Yacht meiner Eltern verbracht. Mit deinem Bericht kam die Erinnerung an das Nebelhorn zurück, dass gelegentlich im Spätsommer auch schon zu hören war.
Du erinnerst dich bestimmt auch an die Niethämmer von der Schlichtingwerft, die damals in den 50er Jahren durch den ganzen Ort schallten.
Erinnerungen kommen wieder an den Sommerfährverkehr vom Ostpreussenkai nach Trelleborg mit der „Konung Gustav“ und „Drottning Vicotoria“, nach Kopenhagen mit der „Dania“ und von der Überseebrücke nach Helsinki mit der „Oihanna“, die so schmal war, dass sie jedes Mal mit Schlagseite in den Hafen einlief, weil die Passagiere immer auf der Steuerbordseite standen.
Schön war’s – eine Zeit, die mein Leben ganz ohne Zweifel geprägt hat.
Ich habe das unbestimmte Gefühl, die wundervolle Nebelnacht von vorgestern hat zu der Inspiration dieser Erzählung beigetragen. Falls Du Bilder (aus einer Dachwohnung quer über St. Georg) dieses Abends brauchen kannst, meld Dich doch nochmal.
Es war nur ein sehr bescheidener, fast schon ungültiger Nebelstreif am Morgen, der da inspiriert hat, aber er paßte gerade ins Konzept. Den Nachtblick habe ich leider komplett verpaßt, wäre sonst natürlich selber auf das Dach gestiegen. Man sollte doch öfter mal rausgucken.
@Hans-Georg: Bis in die Fünfziger kann ich mangels rechtzeitiger Geburt nicht zurückdenken, aber die Schlichtingwerft gab es tatsächlich auch noch zu meiner Zeit, Hämmer inklusive. Und die Fährschiffe hießen natürlich anders, aber es wird dennoch sehr ähnlich gewesen sein. Die Geschichte mit dem schmalen Schlagseitenschiff kannte ich nicht, sehr schön.
Ihren Titel trägt die Geschichte zu recht, und doch ist er viel zu technisch für das, was da wirklich auf einen wartet. Ich bin begeistert – wie ich es so oft von deinen Texten bin.
Als ich Nebelhorn las, war ich erstaunt. Was macht der Herr Merlix in den Bergen? Für mich ist Nebelhorn das hier: http://www.nebelhorn.de/
Die Beschreibung dieses anderen Nebelhorns empfinde ich fremdartig, bezaubernd, ungewohnt, intensiv. Danke dafür.
Das ist wirklich unglaublich gut beschrieben. Beim Lesen stellte sich tatsächlich das gleiche wohlige Gefühl wieder ein, dass ich früher beim Lauschen und Einschlafen hatte. Genau so. Total toll.
Lieber Merximilian,
ich habe gerade dein Buch ausgelesen und wegen der Nebelhorn-Geschichte angefangen zu heulen. Wie konnte das nur passieren. Danke für das schöne Buch.
Ich bin jetzt erst drauf gekommen, es zu kaufen, weil mir meine Freundin Sabine vor zwei Wochen ganz viel von ihren Kinderferien in Travemünde erzählt hat (sie ist aus Lübeck und nach dem Abi in Lübeck nach Berlin, Ende der Siebziger. Dann ist mir wieder eingefallen, dass du ein Buch geschrieben hast und da doch irgendwas mit Travemünde war. Als ich die genaue Beschreibung gelesen habe, hab ich sofort zwei Stück gekauft, eins für Sabine! Ich hab meins schon ausgelesen, ganz schnell. Der kleine Maximilian ist mir richtig ans Herz gewachsen. Und das Nebelhorn. Sabine sehe ich ungefähr in zwei Wochen wieder und kann sie fragen, ob sie es schon ausgelesen hat. Auf jeden Fall hat sie mit dem Epilog angefangen, hat sie mir zuletzt gesagt, weil sie wissen wollte, ob es vielleicht doch irgendwas gegeben hat, das dich sentimental werden lässt. Also danke noch mal. Mir hat alles in dem Buch gefallen.
Lieben Gruß aus Berlin!
Gaga