Ein Polizeiauto fährt mitten in der Nacht an unserem Haus vorbei, es biegt an der Ecke nach rechts ab, fährt um den Block, ein kurzes Stück an der Alster entlang und kommt dann gleich noch einmal die Straße hoch, immer wieder und wieder. Die Reifen quietschen in den Kurven und es hat eine seltsam kaputte Sirene, sie klingt nicht so kräftig wie sonst, sie ist schwächer, dünner, elender – fast klingt sie wie ein weinendes Baby. Fast klingt sie sogar wie unser Baby. Ich wache auf.
Es ist drei Uhr sechsundzwanzig, Regen und heftiger Wind am Dachfenster, das Baby weint, die Herzdame schnarcht. Ganz friedlich und ungerührt liegt sie da, gleichmäßig und tief geht ihr etwas lauter Atem, von Regentropfen zersplittertes Mondlicht spielt um ihre Nase. Das Baby weint, ich überlege wer ich bin, wo ich wohne und wieviel Arme und Beine ich wohl habe, es ist drei Uhr siebenundzwanzig. Die rechte Hand der Herzdame hebt sich wie von einem Faden hochgezogen vom Laken, geisterhaft schwebt sie über der Bettdecke, der Zeigefinger klappt aus wie bei einer beweglichen Puppe und zeigt auf das Kind. Sie schnarcht dabei leise weiter und sieht aus, als würde sie seit Wochen im Koma liegen. Ihre Hand bewegt sich sachte vor und zurück, der Zeigefinger stupst immer wieder in die Luft, dahin, wo das weinende Baby liegt. Der Mund der Herzdame bewegt sich jetzt sacht, ganz leicht kräuseln sich die Lippen und ich höre einen ganz leisen, nur hingehauchten, kaum wahrnehmbaren, aber doch gut erkennbaren, gekonnt nachgemachten Babyfurz. Die Lippen der Herzdame entspannen sich wieder, der Finger klappt ein, die Hand sinkt sanft zurück auf die Bettdecke, sie schnarcht leise weiter, wie sie es seit Stunden tut, das Mondlicht verweilt auf ihrer schlafglatten und von keinem störenden Gedanken getrübten Stirn.
Es ist drei Uhr achtundzwanzig. Ich gehe das Baby windeln.
Was Sie für Schlaf halten, dürfte eher eine Art Wachkoma sein, welches bei Müttern neugeborener Babys aufgrund chronischer Erschöpfung häufig auftritt. Denke ich mal.
Gnihihi. Made my day. 🙂
\o/
Sehr schön geschrieben, Merlix! Ich habe alles vor mir gesehen. „von Regentropfen zersplittertes Mondlicht“ finde ich super. Daß Du zu dieser nachtschlafenden Zeit innerhalb von einer Minute weißt wer Du bist, wo Du wohnst etc., das erstaunt mich aber schon…
Mich ebenfalls. Ich weiß das oft nichtmal morgens. Da kann ich meinem Hirn gleichsam dabei zusehen, wie es verzweifelt versucht, sich zu orientieren. Es beginnt mit ‚Wer bin ich?‘, dann kommt ‚Wo bin ich überhaupt?‘ und setzt sich eventuell mit einem ‚Wie zum Geier bin ich hierhergekommen?‘ fort. Dass Dir dazu noch poetische Beschreibungen einfallen, zeigt den großen Künstler, der du bist. Jajaja. 🙂
Ah, noch einer von den Papis mit Ammenschlaf.
@Mark: Das trifft es, in der Tat.
„You may find yourself in a beautiful house,
With a beautiful wife.
You may ask yourself:
Well… How did I get here?“
(Talking Heads, „Once In A Lifetime“)
Sehr anschaulich beschrieben. Mir gefiel besonders die stummfilmhafte Szene mit dem Zeigefinger. Fast wartete ich auf die Einblendung einer schwarzweißen Texttafel. „Horch! … das Kind!“
„Then add the wedding bells
One house where lovers dwell
Three little kids for the flavour
Stir carefully through the days
See how the flavour stays
These are the dreams you’ll savour“
Dean Martin, Memories are made of this 🙂 Die Sache mit den „three“ kids halte ich für optional.