Ich sitze am Schreibtisch und arbeite, die Herzdame ist mit dem Sohn auf dem Spielplatz. Ich habe gebeten, eine Stunde nicht gestört zu werden, da ich mich konzentrieren muß. Ich versuche ebenso intensiv wie erfolglos zu verstehen, was der Steuerberater mir geschickt hat, außerdem muß ich dringend einen Text korrigieren – da klingelt das Telefon. Es ist die Herzdame.
Ich: Und ich sach noch, bitte nicht stören
Herzdame: DU MUSST SOFORT RUNTERKOMMEN! DEIN SOHN!
Ich: Bitte? Was ist denn passiert?
HERZDAME: SOFORT RUNTERKOMMEN!
Ohne weitere Verzögerung spurte ich zur Tür, hämmere auf den Fahrstuhlknopf, haste dann doch lieber in Sprüngen die Treppe hinunter, stürze mich fast durch die Glastüren im Erdgeschoß, renne zum Spielplatz und bremse in einer Staubwolke vor der Herzdame, die in gelassener Pose an der Sandkiste sitzt, in der der Sohn gemächlich Sand von links nach rechts schaufelt. Ringsum lachende Kinder und dösende Mütter, in den schattenspendenden Bäumen ringsum zwitschern die Vögelein, an der Kirchentür im Hintergrund lehnt der Pfarrer und besieht sich lächelnd die Szene. Ein Bild des Friedens.
Ich: Was zum Teufel ist los?
Herzdame: Er wollte gerade auf die große Rutsche. Ich komme da nicht mehr hoch. Zu schwanger.
Ich: Sonst nichts?!
Herzdame: Nein, sonst nichts.
Ich: Dafür rufst Du mich in dem Tonfall an?
Herzdame: Ja. Sonst wärst Du ja nicht gekommen.
Man kann Nordostwestfalen vieles vorwerfen. Mangelndes Einfühlungsvermögen, kommunikative Verhärtungen, Ignoranz gegenüber anderen Lebensformen, Egozentrik in Reinkultur – alles berechtigt. So sind sie, fraglos. Aber man muß doch zugeben: Es ist immer alles ganz logisch, was sie tun.
Ach, du, Herzdame, Königing der Nordostwestfalen…
Hätte das nicht der Pfarrer für Dich übernehmen können, oder war er katholisch?
Was übernehmen und wieso sollte Katholikentum davon abhalten?
Neben einem famosen Text erfreut wie immer auch die Google Anzeige zum Beitrag. Diesmal: „Die Borderline Störung – Aufklärungsbücher für Angehörige und Beziehungspartner“. :-)))
Ich dachte, die Melkmaschinenwerbung vom letzten „Sohnemann auf dem Land“-Text wäre nicht mehr zu toppen, aber weit gefehlt 🙂
Wobei die Melkmaschinenwerbung auf lange Zeit mein Favorit bleiben wird, glaube ich.
Die google Anzeige habe ich glaube ich noch nie bewusst wahrgenommen. BIS JETZT!
Danke für den Hinweis.
(obwohl… „Hilfe bei Aphasie“ zu diesem Beitrag … damit macht man normal keine Witze)
Ihre Charakterisierung des Nordostwestfalen trifft den Punkt. Es erkennt sich darin absolut wieder und fühlt sich sogar geschmeichelt: OSKAR!
P.S.: Da Sie gegenwärtig von der Keun lesen und davon begeistert scheinen, empfiehlt OSKAR Ihnen die Lektüre der Tagebücher von Harry Graf Kessler, bei dem nicht das Berliner Nachtleben der „einfachen“ Leute, sondern das Alltagsgeschäft und die Stimmung in Berlin der 1920er/1930er Jahre wieder auflebt. Sehr zu empfehlen!
Der Pfarrer hätte dm Kind auf die Rutsche helfen können…
Ich bewundere Ihren Umgang mit dieser Situation.
LoL – Nach 20 Jahren als Wahlrheinländerin versuche ich nun seit 2 Jahren die Menschen hier in Ostwestfalen zu verstehen, Geschichten wie dieses sind mir dabei eine große Hilfe und Ihre humorvolle Haltung dazu ein Vorbild 😉
@Manuel: Auweia! ;-))