Die Zeitlupe des Spätsommers in der Provinz

Wie es dem Arm geht, wurde in den Kommentaren gefragt. Vielen Dank für das Interesse, ich habe die Operation gerade abgesagt. Wie erwartet, wurden die Symptome sofort wieder schlimmer, manchmal ist diese Vorhersehbarkeit wirklich ein wenig nervtötend. In Kürze gibt es noch einen Therapieversuch – und dann weiß ich auch nicht. Neues Jahr, neues Glück – oder so.

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Aber apropos Arm. Das dämliche Gelenk hat mich im September und Oktober davon abgehalten, die Wandererzählung korrekt zu beenden, da fehlen immer noch drei Tage. Mittlerweile habe ich allerdings den Eindruck, es ist einigermaßen egal, ob ich nun stundenlang schreibe oder nicht, der Arm richtet sich mit den Schmerzen eher nach dem Wetter, dem Mond, den Dieselpreisen oder nach Gott weiß was, ich kann also auch einfach schreiben. Das Jahr neigt sich dem Ende zu und nach alter Gewohnheit sind noch vor der Silvesternacht alle alte Themen abzuarbeiten, jeder hat eben so seine Marotten. Erst muss das Alte weg, dann geht es an die Fortsetzung, gerade gestern erst erkundigte sich der Sohn nach der Möglichkeit einer Winterwanderung, “aber ohne Zelt”, wie er sicherheitshalber hinzufügte. Es ist sogar noch Geld für Fahrkarten da, das haben Leserinnen uns bereits freundlich vorfinanziert. Das Projekt der Umrundung Schleswig-Holsteins bewegt sich also wieder etwas, aber zunächst erst einmal zum geordneten Abschluss der Sommerwanderung.

Dafür müssen wir zurück in die Hitze, das wird jetzt bei aktuell drei Grad in Hamburg etwas Fantasie erfordern, aber die haben Sie ja und ich bin immerhin stets bemüht. Sommer, Sonne, Strand also, Sie erinnern sich vielleicht, der Sohn hatte einen seligen Tag am Meer, das war bei Sierksdorf in der Lübecker Bucht an einem der heißesten Tage des Jahres und der letzte Eintrag zum Thema endete so:

“Der Sohn schwimmt, der Sohn steht am Meer, der Sohn sammelt Steine und setzt sich kurz neben mich. Der Sohn macht Strandjugenddinge, denke ich, es ist ganz schön, dass er das einmal so kennenlernen kann. Frierend aus der Ostsee kommen und in der prallen Sonne langsam wieder warmglühen. Auf dem Bauch im Sand liegen und in die Gegend sehen, sonst nichts. Am Meer stehen und Schiffe ansehen, wie sie von Travemünde aus nach Norden fahren. Und immer wieder auch ins Meer gehen, einmal, zehnmal, zwanzigmal an nur einem Vormittag. Er kommt zwischendurch zu mir und will wissen, ob es hier Feuerquallen gibt, die Frau aus dem Nachbarstrandkorb hört das und verneint: “Hier gibt es gar nichts. Also außer Tang.” Sie sagt es, als sei das eine gute Nachricht, dass es im Meer nichts gibt, nicht nur keine gemeingefährliche Feuerquallen, sondern auch keine Krebse oder andere Untiere, im Meer ist einfach nur Wasser.”

Hier war das.

Viel später am Tag werden wir im Zug sitzen und diskutieren, wie lange wir nun eigentlich in Sierksdorf am Strand gewesen sind. Dieser Tag ist jetzt mehrere Monate her, wir diskutieren das gelegentlich immer noch. Denn der Sohn, der in euphorischer Ferienekstase den vermutlich besten Strandtag seines Lebens hatte, er fand das da etwas kurz. Ich aber, der ich mehrere Stunden ohne Lektüre und mit leerem Handyakku in einem Strandkorb bei lächerlich hohen Temperaturen aushalten musste, ich fand das da eher etwas zu lang. Wenn ich also von diesem Tag spreche und darauf verweise, wie lange ich in Sierksdorf für ihn und sein Kinderglück durchgehalten habe, sagt er in einem Tonfall, der mir nicht recht gefällt: “Ist klar, Papa, richtig lange.” Mit diesen beiden Sichtweisen im Kopf und unter Berücksichtigung einiger Fakten wie etwa der späteren Zugabfahrzeit, waren wir nach bestem Wissen etwa sechs Stunden an diesem Strand. Wie auch immer das nun zu bewerten ist, ich jedenfalls war seit 1987 nicht mehr so lange in einem Strandkorb. Und da um mich herum Menschen in allen Stadien der Verbrennung lagen, kann das so empfehlenswert auch nicht sein. Aber da steigen wir also wieder ein in den Bericht:

Nach diesen sechs Stunden ist der Sohn endlich so oft im Meer gewesen, dass er keinen einzigen Zug mehr schwimmen kann. Die Sonnencreme geht langsam zur Neige, wir haben weder Getränke noch Essen dabei, und um etwas zu besorgen, müssten wir erst eine Bank finden, das Bargeld wird auch knapp, das ist alles etwas ungünstig. Der Gedanke, heute noch weiter zu wandern, er kommt uns beiden vollkommen grotesk vor, da sind wir uns einig. Also packe ich alles zusammen und wir gehen langsam zum Bahnhof. Wir gehen zum einen langsam, weil der Sohn sich nicht trennen kann und bei jedem Schritt überlegt, ob er nicht doch noch einmal schnell zum Meer rennt und reinspringt, wir gehen zum anderen langsam, weil ich wieder beide Rucksäcke trage, meinen heute aber viel schwerer als am Vortag finde und den Verdacht nicht loswerde, dass der Sohn heimlich mehrere ihm attraktiv vorkommende Steine beträchtlicher Größe hineingepackt hat.

Am Bahnhof steht ein Häuschen in fragwürdigem Zustand, in dem Toiletten und Fahrkartenautomaten sind, die zu meiner Überraschung sogar funktionieren. Unter einer Bank im Wartebereich finde ich eine Steckdose, ich krieche darunter und stöpsele das Handy ein, aber es passiert nichts, es gibt keinen Strom. Ich umrunde das Haus auch von außen, es ist aber keine weitere Steckdose zu finden. Man findet überhaupt sehr wenig Steckdosen in Schleswig-Holstein, wenn man einmal wirklich eine braucht, das ist wie mit dem Handynetz. Auf dem Bahnsteig warten zwei, drei Familien auf einen Zug, man sieht auf den ersten Blick, dass sie da schon zu lange stehen oder eher lagern. Eingedöste Kinder, fortgeschrittenes Wartekoma in brutal heißer Spätnachmittagsluft. Eine Mutter gräbt leise fluchend in mehreren Gepäckstücken nach Wasserflaschen, findet endlich eine und hält sie hoch, es ist nur noch ein Tropfen darin. Sie sieht sich um.

Neben dem Bahnsteig steht eine Baracke, vor der sitzt ein Mann in Uniform auf einem runtergerockten Drehstuhl. Er hat beide Beine lang ausgestreckt und die Dienstmütze der Deutsche Bahn so western-like in die Stirn geschoben, Detlev Buck hätte es auch nicht schöner inszenieren können, wie der da sitzt, unbeweglich und mit starrem Blick in der grillheißen Sonne, spiel mir das Lied vom Zug. Die Mutter geht zu dem Mann zu und fragt: “Bitte, haben Sie hier Wasser?” Der Mann schiebt die Mütze mit einem Finger höher und guckt, es ist herrlich, wie langsam er das tut, die Zeitlupe des Spätsommers in der Provinz, genau so stellt man sich das vor. Aber er sitzt da beruflich, er möchte nicht gestört werden. Er sitzt sehr gründlich und im Dienst, das müsste man eigentlich erkennen. Jeder müsste das erkennen, nur die Touristen wieder nicht. Er sieht die Frau an und sagt dann: “Jo.”

Die Frau hebt ihre leere Flasche, nach wie vor läuft alles wie in einem Drehbuch ab. Der Mann sieht die Frau an, die Frau sieht den Mann an. Aus dem benachbarten Freizeitpark hört man kreischende Kinder auf der Achterbahn. Langsam lässt die Frau die Flasche wieder sinken, denn das müsste der Typ ja allmählich verstanden haben, was sie will, jeder hätte das jetzt verstanden. Der Mann atmet tief ein, legt den Kopf zurück und sagt: “Aber es ist kein Trinkwasser.” Dann schiebt er die Mütze wieder über die Augen und verschränkt die Arme vor der Brust.

Eine Viertelstunde später steht er ächzend auf und stellt sich an die Bahnsteigkante, ein Zug fährt durch. Ein Zug, der nur in Städten einer respektablen Größe hält. Er fährt enorm schnell durch und der Mann steht wirklich dicht am Zug, der Fahrtwind reißt und zerrt an seinem Hemd. Der Mann guckt stoisch auf die Wartenden, bei denen die Eltern jetzt unwillkürlich die Kinder festhalten, als der Zug auf einmal so dicht an ihnen rasend vorbeilärmt. Der Mann aber steht da und passt auf, das ist sein Job. Nur er darf da so stehen und immerhin weiß er: Die Kinder im Freizeitpark kreischen auf der Achterbahn wegen der vermeintlichen Gefahr, aber das, was er da macht – das ist echt. Und dann setzt er sich langsam wieder hin, auf seinen uralten Bürostuhl.

Der Sohn und ich fahren nach einer schier ewigen Wartezeit an diesem Bahnsteig mit dem Zug zurück nach Hamburg, nur um gleich am nächsten Morgen wieder aufzubrechen. Denn sofort nach dem Aufwachen ist ihm klar, dass er immer noch nicht ganz strandsatt ist. “Wir könnten Brötchen kaufen und im Zug frühstücken”, sage ich. “So machen wir das”, sagt der Sohn. Und so haben wir es dann auch wirklich gemacht.

Fortsetzung hier.

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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Sie können hier Geld in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, das geht heute natürlich in die Wandersparte.

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8 Kommentare

  1. Moin,
    vielen Dank für diesen bleischweren Sommertag im Novembergrau. Auch ein wenig neidisch beäugt, wegen des Detlev Buck Film feelings. Hier eher Erma Bombeck. Sorry der vollständige Satzbau ist noch nicht aufgestanden.
    Janne

  2. “Wir könnten Brötchen kaufen und im Zug frühstücken” sind so Sätze, die in guten Kinderbüchern standen, und nur dort hat dann ein Erwachsener zugestimmt und dann wurde das so gemacht. Niemals in echt.

  3. Sohn II ist anscheinend eine Wasserratte, das kann ich sehr gut nachempfinden. Und warum springt der große Buddenbohm bei der Hitze nicht auch in die Ostsee? Travemünde-Trauma?
    Großartige Beschreibung der Szene mit dem Bahnmenschen, lange geschmunzelt.

  4. Steckdosen zu finden, ist auch in Meck-Pomm nicht so einfach. Zumindest, wenn man in einem 70er-Jahre-Wohnwagen mitten im Wald steht. Lach.

    Gute Besserung für Ihren Arm! (Bzw. Linderung und die passende Therapie.)

    Beste Grüße
    Franziska

  5. Ah, endlich, die Ostsee-Fortsetzung! Danke dafür! Hab lange drauf gewartet, aber als gute Hanseatin drängelt frau ja nicht.

    Ich war selbst am letzten Oktobertag mit Freunden da oben, wollten von Haffkrug nach Scharbeutz laufen, das hat nicht wirklich geklappt, weil wir mehr Meer gucken und sabbeln mussten und es dann irgendwann zu spät wurde, aber jedenfalls hab ich sehr an Sie beide denken müssen, was doch sehr schön war irgendwie.

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