Sohn I ist in einem Schwimmverein. Einmal in der Woche gehen wir zum Training und wie es aussieht, ist es seine allerliebste Freizeitbeschäftigung. Was auch ein wenig daran liegen mag, dass er eine außergewöhnlich attraktive Trainerin hat, eine wahre Bilderbuchschönheit. Hätte ich als Kind bei dieser Frau Schwimmunterricht gehabt, ich hätte vor Olympia nicht aufgehört, mir Mühe zu geben. Aber ich hatte natürlich nur den trinkfreudigen Herrn K., der Kinder gerne mal ins Wasser warf, deswegen konnte ich mich in Ruhe und mit bestem Gewissen chlorallergisch stellen.
Sohn I geht also zum Schwimmen, hüpfend und voller Begeisterung. Schon am Morgen des Schwimmtages klappt alles tadellos, nur weil er weiß, dass er nach der Vorschule zum Schwimmen geht. Das Kind zieht sich freiwillig an, putzt freiwillig Zähne usw., das Schwimmen ist ein Segen.
Sohn II geht nicht zum Schwimmen. Sohn II stellt sich eher wasserscheu, obwohl er Herrn K. nie kennengelernt hat, womöglich ist er tatsächlich wasserscheu. Wenn Sohn I mit mir zum Schwimmen geht, macht Sohn II mit der Herzdame etwas anderes und dabei gibt es ein kleines Problem. Denn wenn Sohn II sich Freunde einlädt oder woanders eingeladen wird oder überhaupt irgendetwas macht, was darüber hinaus geht, nur zuhause herumzusitzen, dann kann Sohn I trotz aller Begeisterung für das Schwimmen nicht ganz ausschließen, etwas zu verpassen. Und das ist schwer, das ist sogar sehr schwer. Dieses Abwägen, was nun besser ist, dieses oder jenes Vergnügen – das kann man auch Erwachsener nicht unbedingt gut, aber als Sechsjähriger ist es wirklich furchtbar. Schwimmen? Spielen? Doch Schwimmen? Doch lieber Spielen? Herrje. Das kreist im Kopf und geht geht endlos hin und her und weil man mit sechs Jahren noch nicht mit der Ratio hinterherkommt, wenn es darum geht, seine wirren Gefühle halbwegs plausibel zu verbrämen, hat das Kind auf dem Weg zum Schwimmen plötzlich Knieschmerzen. Schlimme Knieschmerzen, versteht sich, so schlimm, dass man eigentlich auch umkehren könnte, nach Hause. Wo man dann natürlich mitbekommen würde, was der Bruder gerade mit seinen Freunden tut. Nach Hause zu wollen, das wäre maßlos übertrieben, aber so ein Schmerz im Knie – hey, da kann man eben nichts machen. Oder?
Doch, doch. Man könnte versuchen, ob der Schmerz im Wasser weggeht. “Wasser ist gnädig” sagt die Trainerin immer, viele Beschwerden geben sich plötzlich im Wasser. Also probeweise ins Wasser? Oder doch besser gleich zurück zum Bruder? Den Sohn zerreißt es fast, man kann es sehen, wie es in ihm wogt. Der Knieschmerz wird schlimmer und schlimmer, geradezu unerträglich, es ist phänomenal, wie schnell sich so etwas verschlechtern kann. Ich mache den Sohn dezent darauf aufmerksam, dass ihm bei Beginn der Schmerzen noch das andere Knie wehtat, nicht das, welches er jetzt gerade wehklagend umklammert. Das verwirrt ihn etwas, ratlos sieht er seine Beine an und stellt fest, dass doch auch beide wehtun können, so abwechselnd.
Mir tut das leid, wie das Kind sich in eine Argumentation flüchtet, die niemals aufgehen kann. Nicht jetzt und auch sonst nicht im Leben, so kann man mit Problemen nicht umgehen, so lösen sich Dramen nun einmal nicht auf. Zielführende Problemlösungsstrategien müssen sicher mühsam erlernt werden, aber man sollte damit doch wohl beginnen, bevor einem irgendwann Consultants auf die Sprünge helfen müssen.
Und deswegen nehme ich ihn beiseite und erkläre ihm eine goldene Lebensregel, an die er hoffentlich noch lange denken wird: “Wenn du etwas simulierst, mein Sohn, dann musst du immer bei genau einem Symptom bleiben. Nur dann klappt das auch. Und jetzt ab ins Wasser.”
Man ist als Vater auch immer in der Pflicht, etwas Weisheit weiterzugeben.