Geschichte findet statt

Sonntag, der 1. Oktober, Nordostwestfalen. Vor dem Fenster am frühen Morgen ein Luftduell im ersten Licht, Krähen gegen Greifvögel, da braucht man keinen Actionfilm, wenn so etwas geboten wird.

In den sozialen Medien wird noch einmal das Zitat von Maja Göpel zur Zwischenzeit herumgereicht: „Wir befinden uns in der sogenannten Zwischenzeit. In der Transformationsforschung bezeichnet man damit die Phase, in der das Alte stirbt, der Status quo also keine Zukunft bietet, das Neue aber noch nicht geboren und damit noch wenig anfassbar ist. Wir sehen im Moment, wie die Krisen stärker werden neben den spürbaren Folgen der Klimakatastrophe – Corona als Zoonose mit harter Wirkung auf die Menschen, und jetzt noch der Krieg in der Ukraine, die Inflation und die geopolitischen Verschiebungen im Weltmaßstab. In dieser Unsicherheit beobachten wir die Versuchung, wieder ins Alte zurückkehren zu wollen, um unsere Un­sicherheit einzuhegen. Und das ist kein gutes Rezept.“

Es wird zutreffend sein, nicht wahr, und der Begriff Zwischenzeit wird es irgendwann hinterher, nach uns vermutlich erst, treffend beschreiben, was gerade weltweit passiert. Das Zitat kommt aus diesem Interview aus dem April, auch der Rest ist lesenswert.

Beim Familienfrühstück geht es um die Frage, was im Laden des Bäckers, der im Dorf gerade für immer geschlossen hat, eigentlich vorher war. Da kommt man erst lange nicht drauf, dann fällt es doch wieder ein: Der Sattler. Diese lapidare Erwähnung kann man auch auf Maja Göpel beziehen, wie schnell Wandel nämlich gehen kann, wieviel Wandel in einen Lebenslauf passt – es ist also noch erinnerbar, dass hier Sattler Geschäfte betrieben haben. Meinen Söhnen müsste ich vermutlich erst erklären, was ein Sattler war, vielleicht werden sie ihren Kindern später erklären müssen, was ein Bäcker war. So geht Geschichte weiter, und wenn man es so sieht, haben wir in den nächsten zwanzig, dreißig Jahren noch einiges vor uns.

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Ich schließe eine Bildungslücke und lese „Das Rätsel der Sandbank“ von Erskine Childers, Deutsch von Hubert Deymann, auch wenn es ein wenig widersinnig anmutet, weiter ins Binnenland zu fahren, um dort dann Geschichten von der Küste zu lesen. Der Roman stand im öffentlichen Bücherschrank im kleinen Bahnhofsviertel und passte mir gerade aus Recherchegründen sehr gut, er ist aber auch, nach den ersten dreißig Seiten zu urteilen, eine angenehme Lektüre, fein erzählt.

Ein angestoßenes Taschenbuch: Erskine childers, Das Rätsel der Sandbank

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Ich beobachte meine Wände jeden Tag

Ein weiterer Artikel zur Tourismus-Entwicklung, diesmal gefunden bei der Kaltmamsell. Auch interessant gefunden: Über den Leerstand in China.

In Hamburg findet das Einheitsfest statt, und wie auch immer da gefeiert werden soll, ich möchte bitte keiner Großveranstaltung beiwohnen. In der Innenstadt werden weiße Pavillons aufgebaut, Thüringen, Land der Burgen, lese ich im Vorbeigehen, dann Bierstände, natürlich Bierstände, und dann noch mehr Pavillons, viel mehr davon, auf einem steht in grüner Schrift Sachsen und bestimmt kommen alle anderen Bundesländer auch irgendwo vor, wie auf einer Tourismusmesse, aber ich kehre um und gehe nach Hause, es ist mir jetzt schon zu voll in der Stadt.

Wir fliehen und fahren durchs sonnige Niedersachsen, ins Heimatdorf der Herzdame. Bunt sind keine Wälder, voller Mais die Felder, und der Herbst fällt aus. Die Herzdame sagt, es sehe doch alles normal aus, ich sage, der Herbst sei deutlich verspätet, wir werden uns nicht recht einig. Später lese ich beim deutschen Wetterdienst nach, der phänologische Herbst ist etwa neun Tage verspätet, das liegt vor allem an den nicht vorkommenden kalten Nächten. Neun Tage sind nicht viel, wir haben also irgendwie beide Recht, was ohnehin immer am besten ist. Der Herbst ist verspätet, aber nur ein wenig, bei der Bahn wäre das alles noch im Rahmen, es fällt immerhin nichts komplett aus. Die nachfolgenden Jahreszeiten verspäten sich um …

Fasane am Feldrand, zertretene Eicheln auf den Wegen, Krähen auf den Scheunen, Habichte in der Luft. Es gibt Pflaumenkuchen im Garten, und der ist nicht vom Bäcker, der ist von Schwiegermutter, ist also sehr gut. Haben wir das auch erledigt, gerade noch vor Oktober, das war knapp. Immer noch kommt es mir aber seltsam und unpassend vor, da Oktober hinzuschreiben, ich bekomme das nicht justiert, es kann doch einfach nicht Oktober sein, mit dermaßen lauen Nächten, mit Kaffee und Kuchen auf der Terrasse, und man braucht dabei nicht einmal einen Pullover.

Pflaumenkuchen mit und ohne Streusel auf einem Teller

Ich sehe Dead Man von Jim Jarmusch auf arte. Der Soundtrack, lese ich, entstand, indem sich Neil Young den fertig geschnittenen Film ansah und dazu improvisierte. Man findet auf Spotify Playlists, die sich an diesem Soundtrack orientieren, so etwas wie Dark Country oder Gothic Country, aber auch dafür ist es im Grunde noch lange nicht Herbst genug, dieser Soundtrack passt nicht zum norddeutschen Landschaftsbild. Na, vielleicht ja in neun Tagen.

Ich lese in den Briefen von Charles Bukowski: „Ich halte nichts davon, eine Story zu schreiben, die nicht aus der Wand gekrochen kommt. Ich beobachte meine Wände jeden Tag, aber es tut sich sehr wenig.

Ich sehe die Wand an. Da ist nichts.

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Währenddessen in den Blogs

Frau Novemberregen über Bluesky und Mastodon. Ich kann wiederum etwas ergänzen, was vor einer Weile für Mastodon galt, jetzt aber für Bluesky: In der Browserdarstellung am Notebook ist die Seite deutlich klarer und lesbarer als Mastodon, ist also jetzt meine dtv-Großdruck-Entsprechung, um den Scherz von damals mit anderen Vorzeichen zu wiederholen. Ich bleibe dennoch Team Mastodon.

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Bei Vanessa geht es um den Erwerb eines E-Autos, ein Thema, das sich gewiss noch durch viele Blogs ziehen wird. Es ist überhaupt interessant, wie das Thema Auto in den Blogs aufscheint, die Verkehrswende findet immerhin auch dort statt, also wenn sie denn stattfindet. Insofern sollten wir die Einstellung zum Thema Auto ab und zu aufgreifen, denke ich: „Heute Mittag kam der Anruf, dass das Auto wieder abgeholt werden solle. Wie von so einer Kita.“ Frau Novemberregen findet Autos ähnlich spannend wie ich.

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Frau Büüsker über Solarenergie

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Mely Kiyak schreibt über die Lage , und die Lage ist schlecht.

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Heiko über Haltung.

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Ein Traum von Staub und Sommer

Ich habe über ein paar Tage eine Lücke in meinen Notizen, vielleicht fanden diese Tage gar nicht statt. Ich weiß es schon nicht mehr, und worauf soll man noch alles achten. Egal. Am Sonntag der letzten Woche, das weiß ich doch noch, war unser 19. Hochzeitstag, und das klingt doch schon erstaunlich fortgeschritten. Die Kalender-App auf dem Handy meldete es mir in anderen Worten, sie schrieb ins Pop-Up „Zuhause“ habe 19. Geburtstag, und das hat sie ausnahmsweise einmal sehr gut ausgedrückt.

Die ersten Kastanien rollen mir an einem dieser Tage vor die Füße und ich meine, mich deutlich zu erinnern, dass dieser Moment in den Vorjahren deutlich herbstlicher geprägt war. Das ganze Setting war anders, die Kulissen, die Stimmung. Allerdings traue ich meiner Erinnerung da nicht ganz, die überhaupt ein bemerkenswert unzuverlässiger Zeuge ist, wie mir mit jedem Jahr mehr klar wird, sie ist jederzeit vollkommen skrupellos zum Meineid bereit. Ich frage andere Menschen, und die sehen das wie ich, aber auch das muss nicht stimmen. Bias, Bubble etc. man kennt das. Ich könnte es selbstverständlich in meinem Blog nachlesen, wie es früher war. Ich könnte überhaupt vieles im Blog nachlesen, tatsächlich mache ich das aber nie, bei keinem einzigen Thema.

Eine frisch gefallene Kastanie, eine geringe Menge Herbstlaub auf einem Fußweg in Hammerbrook

Ich denke beim Schreiben oft, dass etwas später interessant werden könnte und schreibe manchmal auch ein wenig sogar für mich selbst als späteren Leser – dieses nachfolgende Interesse tritt dann aber kategorisch nicht ein. Ich bin stets zu sehr beschäftigt mit der Verarbeitung der Gegenwart, da kann ich mich nicht auch noch um „heute vor zwei, drei, vier Jahren“ kümmern. Außerdem besteht bei so etwas immer das nicht geringe Risiko, aus Versehen etwas nachzulesen, was man heute ganz anders sieht, was zwar bei lernfähigen Menschen einerseits normal und erwartbar ist, aber doch auch irgendwie peinlich, wie konnte man denn jemals so falsch liegen, was hat man den da bloß gedacht, was war man denn bloß für einer, und dann schämt man sich wieder für sich selbst, mehr als ohnehin schon … nein, das muss alles nicht sein.

Ich lese lieber bei anderen, wie es in diesem Jahr um den Herbst und den Sommer steht: Der Sommer, der nicht enden will. Also bitte, da haben wir es doch, q.e.d.

Auch gestern noch, das war in diesem Text der 27. September, ein sonniger Mittwoch, war es um die Mittagszeit und am Nachmittag Augustwetter in Hamburg, war es im Sakko schon zu warm und dreimal im Laufe des Tages hörte ich das Wort „unheimlich“ in Bezug auf das Wetter, was sicher eher milde ausgedrückt ist. Die weiteren Meldungen in den diversen Medien werden Sie vermutlich gesehen haben, die Klimaziele müssen als gerissen betrachtet werden, 1,5 Grad, 3 Grad, was auch immer, here we go, Artensterben, Extremwetter und alles. Wir sind alle unfassbar wenig aufgeregt angesichts der apokalyptischen Meldungen.

Wie auch immer. Wir schlafen hier noch bei offener Balkontür, es ist viertel vor Oktober. In der Nacht habe ich den ersten Klima-Albtraum, an den ich mich erinnern kann, es ist Hochsommer im späten November, und die immer noch fallenden Eicheln zerbröseln nach dem Aufprall auf dem Boden sofort zu Staub.

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Doppelungen, Spiegelungen, Nachhall

Wir beschäftigen uns mit dem, was uns aufregt, nicht mit dem, was uns betrifft, habe ich neulich irgendwo gelesen und die Quelle sofort wieder vergessen, aber ich fand den Hinweis doch gelungen, es ist wohl oft etwas dran. Es bezog sich hauptsächlich auf das, was uns in den sozialen Medien als geistiges Futter, Zeitvertreib oder Anregung dient. Da auch mal bei Gelegenheit drüber nachdenken.

Apropos soziale Medien. Bluesky holt im Vergleich zu Mastodon deutlich auf, was Teilnehmerinnenzahl, Takt und Interaktion betrifft, Mastodon aber lässt für mich zumindest jetzt noch nicht spürbar nach, beides wird in absehbarer Zeit also etwa gleichauf sein – oder ist es bei Ihnen schon, das fällt immerhin bei uns allen anders aus.

Auf beiden Plattformen wird gerne und allzu häufig erwähnt, wie abwegig und doof die jeweils andere ist, das ist auf Dauer ein wenig anstrengend, to say the least. Und anstrengend ist auch, dass viele ihre Inhalte doppelt posten, textgleich, bildgleich. Da ich in der Regel kaum noch beachte, in welcher App ich gerade bin, sie sehen einfach zu gleich aus, lese ich dauernd alles zweifach, wenn nicht sogar dreifach auf noch weiteren Diensten. Als ginge man durch eine Party, durch das Gedränge im Kreis, und würde dabei immer wieder identische Satzbrocken hören, eine surreale Repeat-Schleife in der Menge, Smalltalk mit Echo.

Das wird noch schlimmer durch die Doppelungen der Bewegtbilder und Fotos auf Instagram und Tiktok, wobei Instagram allerdings die Krönung ist, da gar nicht wenige Anwenderinnen dort ihre Inhalte gleichzeitig im Stream und sicherheitshalber auch noch als Story posten, und es ist vermutlich gut, dass ich Facebook mittlerweile gar nicht mehr beachte, denn dort wird Instagram auch noch einmal gespiegelt, und würde ich jemals Whatsapp-Statusmeldungen ansehen, ich würde dort ebenfalls nichts Neues finden, nehme ich an.

Es ist ein wenig so, als hätten wir alle einen nachsprechenden Papageien auf der Schulter, als gäbe es immer öfter im Netz einen nervtötenden Nachhall, und besser wird dadurch nichts. Es ist eine seltsame Zeit des Übergangs, bis sich irgendwann wieder eine neue Ordnung etabliert, was sie vielleicht aber auch gar nicht tun wird. Vielleicht bleiben wir einfach dauerhaft im kleinteiligen Durcheinander der konkurrierenden Anbieter und Möglichkeiten und beobachten einen Niedergang, keinen Fortgang. Wobei ich nicht so tun möchte, als ginge es um einen kulturellen Verlust bedeutenden Ausmaßes, wirklich nicht.

Egal. Hauptsache ich habe mein altmodisches Blog, denke ich manchmal und murmele dann kopfschüttelnd abfällige Kommentare über neuere Entwicklungen, die auch von Waldorf und Statler kommen könnten. Immerhin bemerke ich die Ähnlichkeit noch.

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Kürbis, Tee, Regen

Mittwoch, der 20. September. Gestern sah ich, dass es jetzt auch in meinem Discounter die Weihnachtsregale gibt, Lebkuchen, Dominosteine etc. Andere hatten dergleichen in meinen Timelines allerdings schon viel früher vermeldet, Wochen vorher, nach welcher Logik das wohl gehen mag? Ob es eine systemgestützte Entscheidung für die einzelnen Märkte ist, ob es im Ermessen der Filialleitung liegt oder läuft es ganz anders, ist es am Ende wieder bloß ein Verkauf gemäß der Verfügbarkeit? Fragen über Fragen. Aber egal, ich habe eh nichts davon gekauft, selbstverständlich nicht. Immer erst einmal eine Runde Mäßigung üben, Verzicht und Selbstkasteiung. Spartaner stehen im September vor Stollen und gucken sparsam.

Die Völlerei kommt dann erst wieder bei einbrechender Kälte, und in meinem Wetterbericht kommt die weit und breit nicht vor, nicht in diesem Monat, und auch nicht zu Beginn des Oktobers. Herzensternebrezelvertagung.

Ich sehe währenddessen einen etwas seltsamen neuen Trend bei den Herbstvideos auf Instagram und Tiktok, bei diesem ganzen Dark-Academia-Zeug also, mit Kürbis, alten Büchern, Ledersesseln, Tee, Edinburgh und Regen vor den Fenstern, viel Regen: Man zerhackt jetzt die Clips in viele Schnitte, um möglichst viele dieser Bilder in einer Sequenz unterzubringen. Als wolle man in möglichst wenigen Sekunden zeigen, was man alles vorrätig hat an dunkel abgetönten Aufnahmen, die tiefe, tiefe Ruhe ausstrahlen. Chillige Bilder in rasendem Takt also, es geht dabei wohl um eine Steigerung der Entspannungseffizienz. Auch du wirst relaxed, wenn du dir nur ausreichend hektisch wechselnde Bilder von gemütlichen Umgebungen ansiehst, und hier, nimm noch eben zwei, drei Sekunden beschleunigten Chopin mit, das beruhigt.

Ich weiß nicht, bei mir funktioniert es nicht recht, fürchte ich. Am Ende muss ich also doch wieder selbst vor die Tür und mir oktobrige Stimmungsbilder in der echten Landschaft ansehen, in mittelalterlichen Altstädten im Speckgürtel der Stadt oder in Museen und Bibliotheken. wie so ein Mensch aus dem letzten Jahrhundert.

Schlimm ist das, die Digitalisierung klemmt wirklich überall.

Ein heranreifender Hokkaido hinter Brennnessellaub

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Wegsinkende Kapuzinerkresse

Dienstag, der 19. September. Das Datum klingt allmählich wie Ende September, also wie gleich ist schon Oktober, und heute nach dem Aufwachen hört es sich da draußen auch so an, denn der Wind heult ums Haus und flötet munter auf der Lüftung im Bad. Es wird hier ein wenig Herbststurm gespielt, wenn auch nur mezzo piano, und von dem im Wetterbericht mehrfach erwähnten Regen wird wieder so gut wie nichts mitgeliefert. Auf dem Spielplatz unten kreist währenddessen am frühen Morgen ein hysterisch schreiender Crack-Junkie durch den Sand und wirft alle paar Schritte die Hände zum Himmel, wie eine Gestalt in einer griechischen Tragödie. Das bloße Heulen des Windes wäre deutlich romantischer gewesen.

Home-Office, es wird nebenbei ein Rasenmähbeschluss gefasst. Es ist ein guter Tag dafür, immerhin ist es windig, dann gibt es endlich auch in der großen Stadt halbwegs frische Luft, der Spätsommer wird einmal durchgepustet. Ich fahre in den Garten. Die riesigen Pappeln hinter der Laube biegen sich mit erstaunlicher Grazie im Wind und die letzten Blüten tanzen in den Beeten, verblassende Rosen schwanken, wankende Gladiolen und wegsinkende Kapuzinerkresse, die keine Kraft mehr hat, sich an den Zäunen noch zu halten, morbides Ballgeschehen verblühender Schönheiten.

Die Kornelkirschen sind jetzt reif, ein sattes, dunkles Rot, verlockend sieht das aus. Ein letzter Hokkaido reift am Kompost, zwei Birnen hängen auch noch. Steckrüben könnte ich heute ernten und eine Handvoll Herbsthimbeeren gibt es weiter zuverlässig bei jedem Besuch auf der Parzelle. Den letzten Tomaten aber fehlt nun deutlich die Süße, aus denen wird nichts mehr. Die Tomaten sind durch und mit ihnen also der intensive Glühsommer. Die Kreuzspinne hinten am Schuppen hat eine gemeingefährliche Größe erreicht, ich stehe davor und staune. Es gibt die üblichen Kreuzspinnen – und es gibt diese hier.

Ich sehe ansonsten heute kein einziges Tier, keinen Vogel, kein Insekt, kein Eichhörnchen, keinen Igel, keine Maus. Lebendig wirkt nur der Wind, der an allem herumspielt, als würde er versuchen, ob ihm das wieder Spaß macht, auch in dieser Saison, er fasst alles schon einmal versuchsweise an. Und ich fuhrwerke also mit dem Rasenmäher durch die Stille der werktäglich verlassenen Gartenanlage, der Mensch erscheint wieder als lärmender Lästling für all die kleinen Wesen im Verborgenen.

Fallobst auf einem Holztisch im Garten, im Vordergrund eine Laterne mit einer Kerze darin an einem Baum

Es liegen nach wie vor kaum Blätter auf dem Rasen, es sind auch kaum gelbe Fleckchen in den Bäumen zu ahnen, man trägt noch mattes Grün. Ich sammele die späten, schon teilvermoderten Äpfel auf, und auch die ersten Zweige, die der Wind bereits gerissen hat.

Ich setze mich nach dem Mähen in die Laube, in der ist es immer noch augustwarm.

Vor dem Fenster der Wind in der Weide.

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Septembertropen

Montag, der 18. September. Immer noch ist es warm am Morgen, sommerwarm, schwülwarm auch, es ist fast Ende September und die Wohnung kühlt nachts kaum ab. Nicht einmal kalte Füße bekomme ich am Morgen, während ich mir einen Eimer Kaffee zum Wochenstart mache. Ich mache das Radio an, da reden sie von einer weiteren Tropennacht, die Temperaturen liegen in vielen Gegenden in Deutschland nicht unter 20 Grad. Septembertropen. Oktobertropen klingen dann noch besser, vielleicht haben wir die auch in ein paar Jahren. Vermutlich wird es so sein.

Gestern gab es am Nachmittag einige dünne Regenschauer und es waren wieder solche, um die sich niemand gekümmert hat. Keine aufgeklappten Schirme, keine Regenjacken, nichts. Ein paar Tropfen auf T-Shirts, es stört einfach keinen mehr, es ist eher ganz angenehm, eine kleine Erfrischung, auf dem Spielplatz unten wurde einfach weitergeschaukelt. Kein Gedanke an schlechtes Wetter.

Home-Office, Datenschubsen, Excel bunt ausmalen, was man so macht.

Nach der Arbeit kurz in die Stadt, wenn es jemals Herbst werden sollte, brauche ich noch ein zwei Kleidungsstücke. Schweißausbrüche beim Anprobieren.

Nein, es wird kein Herbst, da draußen jedenfalls nicht, es sind auch kaum Blätter gelb geworden bisher, es ist keine herbstliche Atmosphäre. In den Timelines aber kippt die Stimmung angesichts der weltweiten und deutschen Entwicklungen unübersehbar ins Dunkle, dort ist es schon später im Jahr, dort herrschen Gallenbitternis und Depression, Zynismus, Sarkasmus und alle Varianten von Schwermut, Anhedonie und Dysphorie, Fatalismus und Aufgabe. In den Timelines ist längst tiefster Stimmungsnovember, herrscht schon lastende Dunkelheit.

Und nachdem ich das mit den sozialen Medien nun schon lange mitmache und dort einiges erlebt habe – schlimmer war es noch nie. So runtergerockt waren wir als soziale Gruppe bisher nicht, so schlecht wurde die Gesamtsituation von uns nie gedeutet. Ich kann mit dieser Erkenntnis allerdings nichts anfangen, ich weiß nicht, was daraus abzuleiten ist. Es hilft mir jedenfalls nicht weiter, das alles zu lesen und zu verstehen oder wieder und wieder zu teilen, man sinkt nur immer tiefer, dann eben gemeinsam.

Ich teile den Fatalismus inhaltlich, so ist es nicht, aber ich verweigere mich noch der durchgehenden Depression und der Selbstaufgabe. Die Bordkapelle spielt weiter. Ich habe das immer sehr gemocht, das Bild.

Wenn wir untergehen, sei es politisch oder anders, dann doch bitte mit Haltung.

Ein Schriftzug an einem Fensterrahmen von außen: "I'm still standing"

Hier noch ein Song, dessen Einstieg meine Generation vielleicht für die letzten Jahrzehnte und auch für das Heute nutzen kann, denn es wird fraglos alles besser, wenn man den richtigen Soundtrack hat: „Dass es gut war, wie es war, das weiß man hinterher, dass es schlecht ist, wie es ist, weiß man gleich.“ Es ist auch ein Song über das Weitermachen, und das passt schon. Es ist Montagmorgen, jeder rollt seinen Stein.

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Neues von St. Florian

Sonntag, der 17. September. Ich hänge durch Helgoland wieder etwas zurück, das gibt sich in Kürze. Am Morgen gelesen: Der Bürger am Ende der Welt. Und dann auch noch Lars Fischer über die aktuelle Lage an der Virenfront, die Updates von ihm sind immer lesenswert.

Gesehen: Diese Doku über Simon & Garfunkel auf arte, die, so nehme ich an, besonders auch für Menschen interessant ist, die selbst Musik und Aufnahmen machen. Sehr abgefahrene Erzählungen zu den alten Produktionen, die man dann hinterher auch gleich noch einmal hören kann, versteht sich, und so kommt man dann auch zu ausgefüllter Freizeit.

Zu einem der Themen, die hier öfter vorkommen, gibt es ein Update, nämlich zur sozialen Lage am Hauptbahnhof um die Ecke. Ich hoffe, ich liege da nicht richtig, aber die Motive der Behörden kommen mir doch arg vorgeschoben vor und ich nehme an, man will die Menschen, die da als Problem empfunden werden, schlicht loswerden, in andere Gegenden verdrängen, wozu also auch gehört, sie nicht mit Verteilaktionen zum Bleiben zu bewegen oder gar dorthin zu „locken“, so wird es wohl sein. Es löst, wie man sich unschwer denken, kann, exakt gar kein Problem. Und dass bei den Verteilaktionen vermüllte Standorte zurückbleiben, das habe ich noch nicht beobachtet. Aber ich komme da auch nicht so oft vorbei, nur etwa drei- bis viermal täglich.

Der Bahnhof ist eben einer der Punkte auf dem Stadtplan, an denen man es sieht, was man weder sehen möchte noch aus wirtschaftlichen Gründen überhaupt sehen soll, schon gar nicht als Tourist in dieser Stadt, die so gerne „die schönste Stadt“ genannt wird: Das Elend in dieser Gesellschaft ist erheblich größer als es sich jene Menschen gemeinhin vorstellen, die solche Punkte auf dem Stadtplan nicht auf ihren täglichen Wegen haben. Dramatisch viel größer ist es, unfassbar groß, und wenn ich hier oft schreibe, dass ich regelmäßig Szenen sehe, die an Charles Dickens erinnern, dann meine ich das wörtlicher, als es vielleicht klingt. Es ist nicht übertrieben, und es ist nur der Zufall der Wohnlage, dass ich es dauernd sehe und Sie vielleicht so gut wie nie.

Aber ich wollte mich ja nicht mehr aufregen, ich war doch im Empörungsfasten. Woher sind nur wieder diese Bissspuren im Schreibtisch.

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Gesehen: Mystery Train, es läuft gerade auf arte, auch anderes von Jim Jarmusch gibt es da. Ich habe also noch mehr vor, danach kommt dannn gleich Night on earth. Ich stelle übrigens wieder fest, dass ich mit arte fast jederzeit voll ausgelastet bin, das Programm dort trifft einfach oft meinen Geschmack. Ich finde so viel Brauchbares, ich schaffe dann jedenfalls kein Netflix oder anderes mehr. Man will ja ab und zu auch noch was lesen, ne.

Gelesen: Weiter in „Süßer Ernst“ von A.L. Kennedy, für das ich offensichtlich erstaunlich lange brauche, was daran liegt, dass mir so viel einfällt, beim Lesen. Es sind viele Stellen drin, die mir einigermaßen blognah vorkommen, seltsam vertraut wirkende Alltagsbeobachtungen, Straßenszenen, Bahnhofsvorkommnisse, ich finde das sehr anregend und schweife gedanklich permanent ab, weil ich beim Lesen gleichzeitig schreibe, also zumindest im Geiste. Ein auf ungewohnte Art schwieriges Buch für mich.

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Währenddessen in den Blogs

Heute im Bio-Unterricht: Über die Fluss-Seeschwalben. Lang und interessant, das wusste ich so gut wie alles nicht.

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Was Vanessa über die Bahnreise schreibt.

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Und hier ein Reisebericht aus Brüssel, die Urlaubs- und Unterwegssaison ist schier endlos in diesem Jahr, so scheint es, Teil eins und Teil zwei.

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Frau Herzbruch war im Theater

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Ilse Helbich (empfehlenswerte Lektüre, wenn man älter wird oder werden möchte!) wird bald hundert Jahre alt.

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Das Wort Latwerge kannte ich nicht, aber jedenfalls wird es Herbst in Frankreich.

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