A man of constant sorrow

I am a man of constant sorrow, wie einmal gesungen wurde. Die Wikipedia zum Song ist auch wieder interessant, stelle ich nebenbei fest und lese die Lyrics ebenfalls noch einmal nach. Es gibt von diesem Song selbstverständlich etliche Versionen, mein Favorit bleibt die von Tia Blake, die allerdings auch als Person wieder nachlesenswert ist – wie leicht man immer von allem abkommt. Kaninchenlöcher überall.

Constant sorrow jedenfalls, ich zähle mir meine Probleme auf. Ich überlege deren Verlauf und die Möglichkeiten der Entwicklung. Und schön ist das dann nicht, worauf ich dabei komme. Nicht einmal öffentlich beschreibbar ist das alles zu meinem großen Ärger, was doch womöglich auch eine Hilfe sein könnte. Ich denke mir also, es muss etwas anders werden.

Ich weiß mir aber gerade keinen Rat, was nun zu tun sein könnte. Da hilft mir das bemühte Overthinking nicht mehr weiter. Ich sehe die Optionen für den günstigeren Verlauf im Moment nicht. Das ist mir erstens unangenehm und zweitens ist es vielleicht, noch schlimmer, ein Hinweis auf einen Mangel an Kreativität. Und den möchte ich mir nun nicht nachsagen lassen. Nicht einmal von mir selbst.

Ich denke also weiter über Strategien für dieses und jenes nach. Ich komme auf keine.

Vielleicht gibt es auch tatsächlich keine passende. Was immerhin eine Option ist, die man nur in völliger Verblendung ignorieren sollte. Bei mir ist der Optimismus nicht das, was er so vielen ist, also volkstümlicher Religionsersatz.

Egal. Ich gehe ins Badezimmer, ich sehe in den Spiegel. Dort steht der Mensch, bei dem, mit dem, um den herum etwas anders werden muss. Ich rasiere mir kurzentschlossen den Bart komplett ab. Sensationell verändert sehe ich nun auf einmal aus, es ist überaus faszinierend. Ich starre den seltsam fremd wirkenden Menschen im Spiegel lange grübelnd an.

Neues Gesicht, neues Glück, denke ich mir schließlich, wo ich schon beim volkstümlichen Religionsersatz bin. Magisches Denken kann ich immerhin auch. Und wie gut ich das kann! Vielleicht kann ich es besser als andere. Umschulen auf Voodoo und Schamanismus, am Ende gibt es mehr Optionen, als man zunächst parat hat.

Den Söhnen fällt der fehlende Bart dann allerdings gar nicht auf. Den Kolleginnen auch nicht. Den Kollegen nicht, den Nachbarn nicht, auch der Herzdame und meiner Mutter nicht. Wieder so ein Selbstbild/Fremdbild-Ding, denke ich mir, die bekannte Sollbruchstelle im Denken. Oder aber ich bin dermaßen uninteressant – wie gesagt, man muss die negativen Varianten mitdenken, zumindest versuchsweise.

Ich habe kein Rasierwasser, daran bestand jahrelang kein Bedarf. Ich gehe welches kaufen. In einem echten Laden in der Innenstadt. Shopping wie früher. Die Düfte, an die ich mich noch erinnere, gibt es allerdings nicht mehr. Was sind das alles für kurzlebige Produktzyklen, und welches absurdes Alter habe ich denn schon erreicht.

„Kann ich irgendwie helfen?“, fragt mich eine rabiat überschminkte Verkäuferin. „Ja, wenn’s mal so wäre!“, sage ich knurrend, und sie guckt verständlicherweise leicht irritiert. Pardon. Ich sage ihr, was ich früher genommen habe, am Ende kann sie wirklich helfen. Sich wie ein normaler Mensch verhalten, auch einmal mitspielen, Regeln einhalten. Sie kennen das.

Ich frage also noch, was denn so ähnlich sei wie das, was ich früher genommen habe. Ich zähle das auch noch einmal auf. Das wisse sie nicht, sagt sie ohne jede Bedenkzeit freundlich und guckt ebenso leer wie desinteressiert. Aber sie habe hier … und dann zeigt sie mir einfach irgendwas. Quasi blind ins Regal gegriffen, eine Art Glücksspiel, Rasierwasserroulette. Der Fachpersonalmangel, denke ich, das ist der Fachpersonalmangel.

Ich lehne dankend ab und rieche ohne weitere Hilfe an den Testflaschen in den endlosen Regalen. Ich rieche an diesen Flaschen, bis mir etwas blümerant wird und mein Kreislauf sachte kippelt. Es ist unfassbar warm in diesem Laden, die Luft aromenschwer und betäubend. Ich finde schließlich etwas, das knapp passen könnte. Diese Marke hat auch schon mein Vater geschätzt, fällt mir beim Blick auf die Verpackung wieder ein. Traditionen, denke ich, Traditionen sind ebenfalls wichtig. Auch einmal in einer Spur bleiben.

Wie hätte mein Vater wohl meine aktuellen Probleme gelöst? Mein Vater ist sämtlichen Problemen dadurch begegnet, dass er sich unermüdlich in Arbeit verbissen hat. Terrier nichts dagegen, aber eigentlich ein One-Trick-Pony, wenn ich schon bei Tiervergleichen lande. In jedem Familienroman, so überlege ich weiter, müsste ich aber auf eine andere Variante als er verfallen. Da findet der Wechsel in fast allen Aspekten doch so gerne von Generation zu Generation statt. Siehe auch Buddenbrooks etc., da kann ich sogar heimatverbunden weiter anlegen.

Ich gehe wieder nach Hause. Ich lege mich etwas hin, ich arbeite nicht, kein Stück. Das ist immerhin neu. Zumindest familiengeschichtlich gesehen. Also ist es vielleicht sogar richtig, ist es wenigstens im Sinne des Aufbaus einer guten oder passablen Geschichte.

Auch wenn man seine Probleme nicht zu lösen vermag, kann man sich dennoch weiterentwickeln, denke ich mir. Und im Einschlafen kommt mir dies sogar wie ein vergleichsweise guter Gedanke vor. Außerdem rieche ich gut. Wenn auch wildgemischt und etwas zu intensiv, von zu vielen Testsprühstößen direkt getroffen.

Aber immerhin: Ich habe etwas verändert.

Die gläserne Dachkonstruktion der U-Bahnstation Elbbrücken im Abendlicht

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Ein wenig Pferd und Wagen, ein wenig Dampf

Ich las im Bett und legte wieder weg: Die Kurzgeschichten von Miranda July, „Zehn Wahrheiten“ (Perlentaucherlink). Ich bin allerdings unsicher, ob sie mir tatsächlich nicht gefielen oder ob sie nur in denkbar ungünstigster Weise nicht zum gerade erst gehörten Thomas Mann passten. Wofür die Autorin dann überhaupt nichts könnte.

Aber egal, das Buch war aus dem öffentlichen Bücherschrank. Ich stelle es also dorthin zurück und wenn es noch einmal dort für mich erscheint, nachdem es einige weitere Runden durch fremde Hände gedreht hat, gibt es vielleicht einen weiteren Versuch. Was weiß ich denn, welche Bücher mir in ein paar Wochen oder Monaten gefallen werden. Meine abendlichen Urteile sind eher unverbindlich.

Ersatzweise habe ich etwas anderes angefangen, und es wird viel eher etwas: Terézia Mora, „Alle Tage“. Unterm Link wieder die Perlentaucherseite dazu. Lauter Bejubelungen gab es damals in den Feuilletons. Aber das war bei Miranda July auch der Fall und beweist oft wenig für die eigene Leselust.

In der „Königlichen Hoheit“ von Thomas Mann, ein Buch, das 1909 erschien, fragt man sich übrigens, ob es womöglich dem Klima schaden könnte, wenn man zu viel Wald rodet. Aber das nur am Rande.

Blick über das abendliche Alsterfleet zum Turm der Alten Post

Ich fange beim Wochenendspaziergang, während ich am ersten richtigen Hitzetag des Sommers durch den schmalen Schatten an den Hauwänden im kleinen Bahnhofsviertel schleiche, den „Tristan“ von Thomas Mann an. Eine Erzählung aus dem Jahr 1901, gelesen von Gert Westphal. Ich kann mich erstaunlich gut an den Text erinnern, den ich vermutlich zu Oberstufenzeiten gelesen habe. Was daran liegen mag, wie mir dann wieder einfällt, dass meine Mutter und ich etliche Wendungen daraus in die damalige Alltagssprache übernommen haben. Etwa wenn jemand aussah „wie ein verwester Säugling“ oder wenn jemand blass und apathisch aussah: „Sie hatte beim Husten ein wenig Blut aufgebracht.“ Oder beim Anblick der beleibteren Rentnter am Strand: „Reichtum und sitzende Lebeweise!

Die Herzdame, die gerade eine Woche auf Föhr war, reist währenddessen zurück zu uns. Sie braucht wegen des Generalversagens aller beteiligten Dienstleister länger, viel länger als eine wirklich große Menge Hörbuch dauert. Fast romanlang ist sie unterwegs. Sie braucht genau genommen so dermaßen lange für diese nicht eben weite Reise, dass die Wegzeit vermutlich in etwa der entspricht, die man auch zu Zeiten der Tristangeschichte gebraucht hätte. Ein wenig Pferd und Wagen, ein wenig Dampf – vielleicht war man damals auch schneller als heute. Ich wäre nicht überrascht.

Insofern ist es auch wieder alles stimmig, wenn ich nur lange genug nachdenke.

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Gesehen: Eine leider anlassbezogene Weiterbildung, „Die Beach Boys – Genie und Wahnsinn“ bei arte.

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Gehört: Eine Folge Radiowissen über Bruce Springsteen – Die Vermessung des amerikanischen Traums.

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Einige Anmerkungen an einer Ampel

Als ich vor etlichen Jahren, Jahrzehnten sogar, einmal beruflich in New York war, gab es etwas Verstimmung im Team, weil ein Teil der Gruppe sich strebsam reiseführerorientiert durch die Stadt bewegen wollte, mit Zeitplan, Etappen und allem, und ein anderer Teil, zu dem ich gehörte, einfach herumgehen, herumlungern und irgendwo stehenbleiben und gucken wollte. Etwa an irgendeiner Ampel am Broadway, an der wir nur zufällig vorbeikamen. Weil es so dermaßen interessant war, was da alles für verschiedene Menschen vorbeigingen.

All diese Styles, diese Gruppen, diese Richtungen und so leicht erkennbaren kulturellen Varianten, die man in dieser Mischung bisher nur aus dem Kino kannte. Da liefen sie nun herum und durcheinander, direkt vor uns. Ich stand und starrte, vermutlich war ich schon auf den ersten Blick durch und durch ein Tourist. Man ist nicht sicher davor, auch einmal zu dieser Ausprägung zu gehören. Ich nehme jedenfalls an, dass niemand sicher davor ist.

In der letzten Woche fiel es mir wieder ein, dieses Ampelerlebnis in einem New York vor unserer Zeit. Denn Hamburg hat doch etwas aufgeholt in den letzten Jahren. Wenn hier nun jemand aus der Provinz landet, aus irgendeiner Provinz irgendwo auf der Welt, dann steht er vielleicht in manchen Momenten ähnlich staunend, wie ich damals am Broadway stand.

Eine Ampel am Hauptbahnhof, ich erkläre am Beispiel. Ich stehe und warte, denn man geht hier, es ist fast schon erstaunlich, noch mehrheitlich bei grünem Licht. Mir gegenüber, auf der anderen Straßenseite, drei Männer, die warten auch. Einer trägt einen schrägen, dunkelblauen Zylinder, etwas abgenutzt und halbmast sieht der aus. Dazu etwas, das auf eine schwer zu beschreibende Art dezent an ein Theaterkostüm erinnert, aber wohl doch keines ist. Eher etwas, das mit viel Aufwand aus Second-Hand-Läden zusammengekauft wurde. Es wird Zeit gekostet haben, das alles zusammenzufinden.

Ein Hemd mit seit langer Zeit unmodischem Kragen, ein frackähnliches Gewand, das vielleicht auch aus Teilen einer alten Livree besteht. Eine silberne Uhrenkette an der Weste darunter. Stiefel in schuppigem Leder und an der einen Hand etliche Ringe aus Silber mit reichen Verzierungen. Ein schwarzglänzender Spazierstock mit silbernem Griff. Der Bart des Mannes ist weiß und hebt sich etwas seltsam von seiner dunklen Haut ab. Er könnte auch gefärbt sein, denn das Weiß harmoniert nicht mit dem Alter, das man in diesem Gesicht abzulesen meint.

Baron Samedi, denke ich. Einen weiten Weg hat der hinter sich, und er hat mir gerade noch gefehlt in diesen Wochen, in denen man es schon mehrmals auf mich abgesehen hatte. Ich berichtete, der fallende Koffer, die stürzenden Trümmerstücke der Hausfassade.

Neben dem Baron ein älterer Japaner. Was immer ein gewagter Satz ist, denn ich habe seinen Ausweis nicht gesehen, was weiß ich denn, was er wirklich war. Aber klischeemäßig doch durch und durch ein älterer Japaner, und zwar einer, den ich fast von Instagram zu kennen meine. Er ist es doch nicht, nein, auf den zweiten oder eher dritten Blick ist er es nicht. Der auf Instagram ist aber auch so gut angezogen, das ist die hervorstechende Gemeinsamkeit. So betont fein und an der Herrenmode von vor etlichen Jahrzehnten orientiert, grobe Richtung Dreißiger. Dabei aber lässig, unangestrengt und auf eine Art elegant, dass man spontan neidisch werden könnte. Weil die eigenen Sachen nie so dermaßen gut sitzen werden wie bei dem da. Obwohl die Sachen auch gebraucht sein werden, aus etwas besseren Second-Hand-Läden vielleicht

Aber wo die Sachen auch herkommen mögen, die ich hier an ihm vor mir sehe, da steht ein japanisches Jil-Sander-Model aus der neuen Herrenlinie, so geschickt gezeichnet sieht diese Figur aus. Damit hat man in etwa ein Bild, das die Erscheinung bündig zusammenfasst. Was er trägt, das wirkt gleichzeitig zusammengetrödelt und sauteuer, was man auch erst einmal hinbekommen muss.

Dabei steht er, und da wird es fast schon albern, aber was soll ich als Chronist machen, wenn ich in einer albernen Welt lebe, auf eine hier unübliche Art etwas in den Knien. Mit leicht angebeugten Knien, in dieser Haltung also, die wir alle aus den Karate-Kid-Filmen und ähnlichen Werken gut zu kennen meinen.

Der dritte Mann schließlich steht dort in einem gewöhnlichen blauen Anzug von der Stange, so sieht es jedenfalls aus. Nicht eben die billigste Version, das nicht, aber doch unauffällig mittelmäßig. City-konform eben, ein Anwalt vielleicht, der aus seiner oder eher einer Kanzlei kommt, er ist noch ziemlich jung. Seriös und gediegen, durch und durch als verlässlich und vertrauenswürdig kostümiert. Auch der Haarschnitt, die Rasur, die lederne Reisetasche, die wohl unter Weekender fällt. Es ist alles so gewählt, dass er damit problemlos in das Straßenbild der meisten Metropolen weltweit passen würde, ohne auch nur ansatzweise aufzufallen.

Wenn man ihn nicht komplett ansieht. Denn seine Figur endet unten in Lackstiefeln. Auf Absätzen mit nicht gerade geringer Höhe. Schwarzes Lackleder, an sich auch wieder bürotauglich, wenn auch in dieser Form meist eher von Frauen getragen. Von Frauen mit modischem Selbstbewusstsein könnte man ergänzen. Aber was ist schon dabei, es ist ein freies Land und es ist erst recht eine freie Stadt, wie man etwa an dieser Ampel sieht. An der Alster, an der Elbe, an der Bill‘, dor kann jeder eener mooken, wat he will, wie schon Heidi Kabel nach einem Text von Richard Germer sang.

Kein Schwein guckt da genauer hin. Wenn nicht gerade ein Blogger im Geiste etwas mitschreibt, versteht sich. Man kann und darf hier so herumlaufen, und es ist entschieden ein wichtiger Grund, hier zu leben. Auch wenn ich selbst nur mäßig auffällig bin, in meinem weißen Leinenhemd, dem tropentauglichen Anzug und dem Panama-Hut.

Schon gut, ich merke es selbst.

Bei Grün gehen die drei dann gleichzeitig los und an mir vorbei. Es könnte auch die etwas bemüht schräge Besetzung eines Films sein, denke ich. Vermutlich die Stars einer etwas melancholischen Komödie. Es ist immerhin noch ein Glück, überlege ich weiter, wenn etwas schon nach Film aussieht und man es dann als melancholische Komödie deuten kann. Ich meine, in was für einem Film würde man sich lieber wiederfinden? Alles andere wäre übel.

Eine Komödie vielleicht, bei der das Drehbuchteam mit Raffinesse herausgearbeitet haben würde, wie es zu der unfreiwilligen Begegnung der drei Männer kam, und außerdem einen feinen und geistreichen Grund geliefert hätte, warum sie nun gemeinsam irgendein Abenteuer mit Bravour bestehen müssen. Sie kennen das. Der Baron Samedi, der Jil-Sander-Japaner und der Anwalt für, was weiß ich, Verkehrsrecht aus Hamburg-Mitte.

Was ich nur eben sagen wollte: Man kann mittlerweile auch hier an Ampeln stehen und starren. Und das ist auch gut so.

Poststraße, Blickm auf die alte Post mit flirrender, bunter, sommerlicher Deko über Straße, bunte Stoffstreifen im Wind

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Denken, was man möchte

Ich sehe nach dem Aufstehen mit dem ersten Kaffee in der Hand aus dem Fenster. Im Frühdienst des Stadtteils geschieht schon einiges. Auch in den Stunden, in der routinemäßig nur wenige Menschen mitzuspielen bereit sind, am Ende der wee small hours of the morning.

Drei Möwen belagern etwa einen Mülleimer und rauben ihn aus. Wobei sie sich so abwechseln, dass es verdächtig nach einem System aussieht. Und mit Schnabelbewegungen machen sie ihre Räuberei, die derart energisch und zielorientiert sind, dass man beim Zusehen gleich etwas mehr Respekt vor diesen Vögeln gewinnt. Wie die da mehrere Plastikverpackungen gekonnt zerlegen … sie haben, es ist im Grunde eine simple Gleichung, immer noch mehr Kraft und Geschick, als man ihnen ohnehin schon zutraut.

Tauben beäugen währenddessen die Sandkiste auf dem Spielplatz und prüfen hier und da mit gewohnter Akribie, ob es sich bei gewissen interessanten Objekten um Kies oder womöglich essbare Krümel aus Kinderhänden handelt. Krähen marodieren flatternd und verhalten kakelnd durch sämtliche Blumenkästen an den Balkonen ringsum, von Stockwerk zu Stockwerk vorgehend, nein, vorfliegend.

Meisen inspizieren Stuckornamente an Gründerzeitfassaden und beseitigen Insekten, die sich dort dummerweise sicher gefühlt haben. Ein Junkie durchwühlt derweil mit bebenden, fliegenden und sehr dreckigen Händen ein Versteck, das ich nicht näher bezeichnen möchte.

Eine schwarzweiße Katze schnürt mit demonstrativem Desinteresse und adeliger Kopfhaltung quer durch die ganze Szenerie. Sie hat offensichtlich etwas Wichtigeres vor, als sich um das niedere Volk an ihrem Wegesrand zu kümmern. Sie ist nicht einmal gewillt, es auch nur am Rande zu beachten, dieses niedere Gelichter, das irgendwas treibt. Was sollte es da auch zu beachten geben.

Ein Blogger sieht aus einem Dachfenster auf die diversen Vorkommnisse, trinkt Kaffee und kramt in seinen Gedanken.

Eine Nachbarin im Haus dem Dachfenster gegenüber öffnet gähnend eine Balkontür. Sie hält ihren Kopf kurz wie einen Temperaturfühler hinaus und zündet sich dann im Türrahmen eine Zigarette an. Während sie den Rauch des ersten Zuges ausstößt, sieht sie hoch zur Kirchturmuhr und schüttelt dann den Kopf.

Ein Taxifahrer jagt sein Auto in höchst unzulässiger Geschwindigkeit durch die Tempo-30-Zone, wobei er einen Arm aus dem Fenster hängen lässt, lässig wie in alten Opel-Manta-Filmen.

Das Ringeltaubenpärchen sitzt neben einer Amsel im Holunder am Spielplatzrand. Alle drei Vögel strecken sich gerade. Ein leises Gurren und Zwitschern ist dabei zu hören. Man muss sich beim Zusehen mühsam vergegenwärtigen, dass sich diese Tiere nach jetzigem Erkenntnisstand der Wissenschaften vermutlich nicht morgens über Artgrenzen hinweg höflich darüber unterhalten, wie wohl die Nacht auf jenem anderen Zweig gewesen sei.

Aber dennoch, denkt man dann vielleicht noch, aber dennoch! Es sieht doch dermaßen deutlich danach aus. Und kann man nicht denken, was man möchte.

Ein Wind aus Südost macht schließlich schwungvoll das, was die Stimmung bei den meisten Menschen um diese Uhrzeit noch nicht macht: Er kommt auf, und zwar mit nachhaltiger Munterkeit und belebender Frische. Er spielt mit den Blättern, dieser Wind, mit den Büschen und den Bäumen, so wie wir gleich mit irgendetwas anderem spielen werden.

Vielleicht allerdings, es gibt Grund zu dieser Annahme, wird der Wind heute etwas ausdauernder spielen als wir.

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Der Alte Wall neben dem Rathaus, gerade menschenleer

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I’m gonna sit and watch the waves

Zu meiner Verwunderung finde ich „Königliche Hoheit“ von Thomas Mann so interessant, dass es fast den ganzen anderen Medienkonsum verdrängt, das hätte ich bei seinen Werken nicht mehr vermutet.

Aber gut, währenddessen wurde bereits der „Tristan“ in der Audiothek serviert, man wird dort stetig weiter und auf Vorrat versorgt. Und gelesen wird diese Erzählung von Gert Westphal, schlechter wird es auch nicht gerade.

***

Wir winken außerdem Brian Wilson. „Summer’s gone“ ist das letzte Lied vom letzten Beach-Boys-Studio-Album von und mit Brian Wilson, ein hervorragend passendes Endstück.

„Summer’s gone
I’m gonna sit and watch the waves
We laugh, we cry
We live, then die
And dream about our yesterday.”

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Davon abgesehen Unbeschreibliches im Familienalltag und dazwischen ein gewöhnlicher Bürotag in Hammerbrook mit dezenter Überlänge und zu vielen Meetings. Im Roman „Königliche Hoheit“ ist es in der Erziehung des Prinzen die höchste, schlimmste Strafe, wenn das Kindermädchen ihn traurig ansieht. Ich probiere das mit KollegInnen, es scheint aber nicht zu funktionieren. Sie werden es am Ende nicht einmal bemerkt haben. Ich werde erheblich an meiner Mimik arbeiten müssen, um diese Methode fortzusetzen.

Bürobauten am Südkanal in Hammerbrook, Smileys als Graffiti an den Fassaden

Zuhause sehe ich dann die Söhne traurig an, es gibt in ihrer Altersphase immer Grund dazu. Aber Problem: Die Söhne sehen mich nicht an.  In den Büchern ist doch vieles einfacher, als es sich im echten Leben darstellen lässt. Siehe auch Happy End etc.

Währenddessen versteht immerhin der gestern erwähnte Sohn mit dem Stochastik-Problem plötzlich alles. Und nicht nur das, er findet jetzt auch alles großartig, er begeistert sich auf einmal erheblich für das Fach, möchte Mathematiker werden und fängt spontan an, sich berufliche Szenarien vorzustellen, in denen er wunderliche Begabungen bis zum Exzess austoben kann.

Es bleibt allerdings vollkommen unerfindlich, woher er diese Neigung zur Übertreibung und die seltsam blühende Fantasie haben könnte.

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Wahrscheinlichkeiten

Mir fällt beim morgendlichen Lesen der Nachrichten auf, dass ich es in diesem Jahr womöglich noch nicht erwähnt habe, aber ich bin jedenfalls mit der Gesamtlage nach wie vor nicht einverstanden. Es zieht sich nun seit etwa 2015 so durch und muss daher allmählich als chronifiziert bezeichnet werden. Die typische Ärztinnenfrage, wie lange haben Sie das schon, und dann sagt man leise: „Zehn Jahre“. Wohl wissend, ein größeres Problem zu benennen.

Ein unschöner Zustand. Aber solange man sich noch indigniert geben kann, ist man kaum betroffen und eher privilegiert, das ist schon klar. Ich habe auch immer meine Mutter relativierend im Sinn (Jahrgang 1938), die fassungsloser als ich vor den aktuellen Nachrichten sitzt und sich zwar immer wieder zum bescheidenen Trost sagen kann und es auch tut, dass sie was auch immer vermutlich nicht mehr erleben wird – die aber lange Zeit auch nicht damit gerechnet hat, solche Rückschritte, wie sie unsere Gegenwart in bedrohlicher Eskalation zu bieten hat, auch nur in Ansätzen zu erleben. Man hat es so nicht vorhergesehen.

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Passend dazu: Das Buch „Verlust“ von Andreas Reckwitz liegt hier schon seit Wochen bereit zur Lektüre, ich werde wohl demnächst dazu kommen. Beim SRF in den Kultur-Sternstunden gibt es ein Interview mit ihm vom Jahresanfang, das ist auch sehenswert. Ein Thema, das ich für enorm wichtig und unterschätzt halte – der Verlust der Zukunft in „unserem“ Teil der Welt.

Das Video hier auch wieder als Link.

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Sohn II braucht etwas Hilfe in Mathe und sieht mich fragend an, was bei dem Fach eine eher originelle Idee ist. Allerdings geht es, wie ich kurz darauf erleichtert feststelle, um Stochastik, da kann ich sogar etwas. Da kann ich vor allem dem Sohn sinnige Vorträge darüber halten, dass dies jenes Thema ist, bei dem ich damals zu meinen Schulzeiten auf einmal sogar in Mathe alles verstanden habe und sofort logisch und einleuchtend fand. Als hätte man mein Hirn über Nacht irgendwie justiert. Weswegen ich dann am Ende des Halbjahres auch eine verblüffend glanzvolle Note erhielt und mich damit zum Abitur retten konnte.

Diese Rettung war also eine Frage der Wahrscheinlichkeitsrechnung, aber es war doch eine Wahrscheinlichkeit der Rettung, mit der man fraglos nicht rechnen konnte.

Und diese Wahrscheinlichkeitsrechnung, ich rede einfach immer weiter, merke aber längst, dass der Sohn dabei unauffällig nach dem Smartphone gegriffen hat, sie gehört zu den wenigen Themen aus dem Fach Mathematik, die tatsächlich und ernsthaft im späteren Leben vorkamen. Mehrfach! Die Sache mit dem Urnenmodell und dem Zurücklegen etc., das Rechnen mit der Fakultät, das gab es alles auch „in echt“ und bei verschiedenen Gelegenheiten.

Die Wahrscheinlichkeitsrechnung ist nützlich, ich kann es beweisen, ich habe es erlebt. Der Sohn gähnt und wirkt unwahrscheinlich müde.

Ich habe es hier auch nicht immer leicht.

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Das Spiegelgebäude in Hamburg im Abendlicht

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Diverses, Dienstag

Die Kaltmamsell zitiert eine Stelle von Nils Minkmar, die mir auch zitierwürdig vorkam, da lasse ich ihr gerne den Vortritt. Außerdem weist sie auf Arbeiten an der Blogroll hin, die ich auch in meiner kleinen Blogbude lange nicht mehr angesehen habe, wie mir dabei auffällt. Zu vermelden ist bei der Durchsicht, dass ich Lu wieder aufnehmen konnte. So etwas ist immer erfreulich – manchmal kommen sie wieder. Und nur ein Blog aus der Liste hat noch keinen Text aus diesem Jahr zu bieten und muss etwas strenger angesehen werden. Das kommt mir wie eine hervorragende Quote vor. Fleißbienchen für alle, Lob und freundliche Zurufe.

Bei Patricia gibt es eine lesenswerte Reisereihe, ausgehend von dem schönen Satz: „Also dachte ich: meinen 50. Geburtstag sollte ich nutzen und meine potenziellen Beerdigungsgäste besuchen gehen.

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Es gibt ansonsten neues Futter für den Freundeskreis Geschichte: Beim Podcast „Alles Geschichte“ drei Folgen „Stars des Absolutismus“, die inhaltlich eher etwas neben dem üblichen Schulwissen liegen, es ist erfreulich. Über die Sonderrolle und seltsame Begabung zur Politik der Maria Theresia, über Friedrich den II. und seine Seidenraupen sowie über die Strategien der Madame Pompadour.

Jeweils rund 20 Minuten.

Außerdem hat man, falls überhaupt noch jemand mehr Thomas Mann vertragen kann, einen weiteren Roman nachgelegt: „Königliche Hoheit“. Gelesen von Dietmar Schönherr, die wählen da klug aus. Ich zumindest halte noch durch und mache mit, zumal ich diesen Roman bisher noch nicht gelesen habe. Die Vorliebe Thomas Manns für albern sprechende Namen nervt erheblich (Graf Trümmerhauf, meine Güte), aber davon abgesehen ist es unterhaltsamer als gedacht.

Ein Trümmerhaufen nach Hausabriss vor älterer Fassade

Zwischendurch wird den Hauptfiguren ein Gabelfrühstück gereicht. Das ist ein Begriff, der mir schon sehr lange nicht mehr begegnet ist. In der Wikipedia gibt es eine aufschlussreiche Seite über Zwischenmahlzeiten im deutschen Sprachraum, gucken Sie mal. Mir geläufig ist vor allem das plattdeutsche „Fofftein“, zumal ich aus einer Handwerkerfamilie komme. Liebenswert und deutlich in der Bezeichnung kam mir beim Lesen das „Bettmümpfeli“ aus der Schweiz vor, interessant ist aber auch „Imbs“ aus Rheinhessen. Beides noch nie gehört.

Schließlich hörte ich bei Radiowissen eine Folge „Thomas Mann und die Seinen – Im Hofstaat des Zauberers“. Vor allem interessant, wenn man sich mit der Familie noch nicht intensiv befasst hat. Dann kann man etwa über die tragische Rolle der Monika noch einmal staunen. Wenn man tendenziell schon eine Überdosis der Sippe hat, wird man bei der Sendung nichts Neues mehr lernen können.

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Neues von der fortgesetzten Musiksuche. Ich hörte mich durch das Gesamtwerk von Phil Ochs (Wikipedia) und stoße auf „Remember me“. Da singt ein im Zweiten Weltkrieg gefallener US-Soldat, und man möchte den Text in den Vereinigten Staaten groß plakatieren. Aber nicht nur dort, schon klar, nicht nur dort.

„Remember me when the crosses are a-burnin‘
Remember me when the racists come around
Remember me when the tides of peace are turnin‘
Remember me and please don’t let me down

When the Fascists started marching many millions had to pay
We saw them come to power but we looked the other way
It happened once before and it can happen once again
Will you show me that I didn’t die in vain?”

Das Video hier auch als Link.


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And your shoes are laced up wrong

Währenddessen ist es Herbst geworden, ohne dass der Sommer uns aufgefallen oder sehr groß gewesen wäre, wie es die Dichtung doch fordert. Aber gut, man muss die Feste feiern, wie sie fallen. Es sind zwölf Grad, mit einem „Real-Feel-Faktor“ von bescheidenen neun Grad. Es regnet, es schüttet und gießt, dazwischen wird man benieselt. Spätoktobrig fühlt es sich an, und spätoktobrig, das mag ich.

In der Innenstadt sehe ich die Regenjackenparade der trotzenden Tagestouristen mit Schirmscharmützeln am Rande, man kommt sich dort erstaunlich oft ins Gehege. Am Ende fehlt aber nur die Gewöhnung, wir haben in der langen Trockenzeit auch das Herumlaufen mit Schlechtwetterzubehör womöglich ein wenig verlernt.

Man kann hervorragend getragene Musik der fortgeschritten melancholischen Art hören, es passt zum Bild und zur Stimmung, die mit sämtlichen Pfingstassoziationen einfach nicht zu verbinden ist. Das kommt meinem Geschmack freundlich entgegen und ich sortiere also emsig die passenden Playlists neu. Mit einer zeitverschwendenden Leidenschaft, wie sie wohl allen sammelnden Menschen eigen ist. Und wie sie in uns angelegt sein wird, seit wir überhaupt angefangen haben, auf diesem Planeten irgendetwas zusammenzuklauben.

Es ist nun einmal unsere Art, denke ich mir, wir gehören nun einmal so. Und ich beruhige mich damit, denn manchmal muss man seine Zeiteinteilung auch sich selbst gegenüber rechtfertigen. Sie werden es kennen, nehme ich an.

Eine HVV-Fähre am Anleger Landungsbrücken, neblige, graue Stimmung

„Homburg“ finde ich bei meiner Suche am Pfingstsonntag. Ein Lied von Procol Harum, das mir nicht geläufig war. Der Nachfolger des Erfolgsgiganten „A Whiter shade of pale“. Musikalisch nahe dran am anderen Stück, viel zu nahe dran, so fand man damals wohl. Textlich ist es ähnlich angenehm spinnert und ins Surreale überlappend. Drogeninduziert oder nur poetisch, man kann es deuten, wie man möchte, je nach Gnade oder Geschichtswissen.

Ich bin jedenfalls zufrieden mit dem Fund und höre es dann oft genug, so dass es mir bald ähnlich vertraut vorkommt, als sei es immer schon dagewesen. Was zeitlich auch hervorragend hinkommt. Es ist von 1967, es war tatsächlich die meiste Zeit da, in der ich auch da war.

Das Video auch als Link, denn das Einbetten scheint bei einigen nicht recht zu funktionieren, las ich.

Your trouser cuffs are dirty

And your shoes are laced up wrong

You’d better take off your Homburg

Cause your overcoat is too long.”


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Davon abkommen

Ich scheine am Ende der Notizen angekommen zu sein. Also der Notizen, die hier noch gebrauchsfertig herumlagen. Zwei Themen nur sind noch übrig, die mir aber gerade nicht von der Hand gehen. Da fehlt mir noch der Zugang, die müssen noch etwas nachreifen.

Manche Notizen, das kam schon vor, reifen sogar jahrelang. Und dann auf einmal, man wacht auf und weiß nicht einmal, was an diesem Tag anders sein könnte, ist es klar, was damit zu tun ist und man kann losschreiben. So geht es mir auch mit einigen Geschichten. Irgendwann werden sie wohl dran sein, nehme ich an, und Eile spüre ich nicht mehr dabei.

Mir fällt ohne besonderen Grund die Film-App der öffentlichen Büchereien wieder ein, Filmfriend. Die hatte ich irgendwann auf dem Bildschirm des Smartphones kurz verschoben und dann prompt vergessen. Aus den Augen, aus dem Sinn, siehe auch Menschen, darin bin ich gut. Ich mache die App auf und sehe überrascht, dass da immer noch „Weitersehen“ steht. Eine Maigret-Folge mit Bruno Cremer wird mir dort angezeigt, etwa halb habe ich sie damals angesehen. Diese Serie von 2005, die ich gar nicht genug loben kann.

Ich mache dann, was ich sonst nie mache, ich sehe doch einmal im Blogarchiv nach, wann und wie ich davon abgekommen bin, diese Serie bis zum Ende zu sehen. Ich kann mich nicht erinnern, aber es war im September des letzten Jahres, stelle ich fest. Es war wegen der „So long, Marianne“-Serie über Leonard Cohen und Marianne Ihlen, guck an.  Na gut, die war auch ganz interessant. Aber der Maigret, es ist im Nachhinein doch recht deutlich, ist besser, viel besser.

Und wieder frage ich mich bei dieser Gelegenheit, aber es ist nur ein flüchtiger Nebengedanke, was wohl wäre, wenn wir alle weitermachen würden mit dem Zeug und mit den Gedanken und Vorhaben, von denen wir im März 2020 abgekommen sind. Als die Pandemie ausbrach und alles so nachhaltig durcheinanderbrachte.

Aber die Frage ist selbstverständlich sinnlos, der März 2020 ist schon furchtbar viele lange Jahre her. Niemand kann sich an die Zeit davor erinnern. Wir kennen diese Zeit nicht mehr, wir wissen nicht, wo sie liegt. Und schon wieder ist man bei Asterix.

Ich habe einen Kollegen, der auch schon ein Mitschüler war, damals in Lübeck. Wir haben uns gegenseitig Asterix in den Lateinstunden zitiert, wir tun es heute noch im Büro. Die Gallier als Lebenskonstante. Da man Asterix aber auch nicht mehr so liest wie früher, kommen da andere, vor allem Jüngere, nur noch manchmal mit. Wir wachsen da also aus dem allgemeinen Verständnis langsam heraus und reden seltsames Zeug. „Ach, die beiden zitieren wahrscheinlich wieder ihre Kindheitscomics.“

In der letzten Woche hatte ich, fällt mir dabei ein, einen ausgesprochenen Boomer-Moment. Als ich anlässlich eines kleinen Fehlers in Daten in einem Call sagte: „Das versendet sich.“ Da guckten die Jüngeren einigermaßen ratlos, den Ausdruck kannten sie nicht. Nie gehört, was soll das denn heißen? Ich suchte ihnen eben die Erklärung aus dem Internet, immer serviceorientiert bleiben. Die Erklärung aber bezog sich dann auf so alte Zeiten, dass da nicht einmal etwas vom Radio stand, aus dem dieser Ausdruck selbstverständlich kommt, sondern vom Rundfunk.

„Ich bin eben von damals“, sagte ich, und ich fühlte es auch sehr in diesem Moment.

Aber wie auch immer. Jetzt den Maigret weitersehen. Das passt auch vom Wetter her, es ist kalt und regnerisch in der Bretagne.

Ein Fleet in Hammerbrook im Nebel

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Vor dem Seniorenteller

Und dann habe ich doch tatsächlich gestern bei einer Stelle von Thomas Mann laut gelacht und nehme stark an, dass mir das zum ersten Mal im Leseleben passiert ist. Und denke mir, okay, jetzt bist Du also auch in diesem Alter angekommen, in dem man bei Thomas Mann lacht. So ist das nämlich, wenn man auf die 60 zugeht, so äußert sich das. Und dann gibt es auch schon bald den Seniorenteller im Restaurant.

Eine Stelle im „Wälsungenblut“ war es, die mich da so amüsiert hat. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Ironie in der Passage als jüngerer Leser überhaupt verstanden hätte. Ich befürchte aber das Schlimmste. Was selbstverständlich den Eindruck verstärkt, der sich mir ohnehin schon länger aufdrängt, dass man im Grunde alles noch einmal lesen muss.

Also alles zumindest, was einem groß und wichtig vorkommt. Was man geliebt hat oder was für uns Geltung zu haben scheint, nach wessen Deutung auch immer. Denn es sind doch deutlich andere Bücher, wenn man als lesender oder hörender Mensch bereits mehrere Jahrzehnte herumgelebt hat und also ganz anders mitreden und mitdenken kann.

Meine Urteile jedenfalls fallen signifikant anders aus als beim ersten Lesen, das merke ich immer wieder. Mein Vergnügen oder mein Missfallen ebenfalls.

Und einen Gedanken habe ich beim Wälsungenblut vermutlich zum ersten Mal gedacht, obwohl er mir einigermaßen naheliegend vorkommt. Aber gut, man kann auch nicht jeden nahelegenden Gedanken bereits selbst gedacht haben, schon klar.

Es ist jedenfalls einigermaßen erschütternd, ja, das ist wohl das richtige Wort, wenn einem auffällt, dass die Literatur, die man schätzt, mit einem mitgealtert ist. Und daher jemand wie Thomas Mann nun ein paar Jahrzehnte mehr etwa von den Jahrgängen der Söhne entfernt ist, als er es damals von mir war. Was nämlich auch heißt, ich habe ihn damals auf eine Art lesen können, die unwiederbringlich ist. Schon wegen der anderen assoziativen Anschlussmöglichkeiten an den Text. Ich war deutlich näher an seiner Zeit, an seinen Deutungen, an seinen Begriffsinhalten, Bezügen usw.

Wie gesagt, es ist ebenso logisch wie naheliegend, ich habe es nur noch nie bedacht. Dass etwa mein Fontane ausdrücklich meiner bleiben wird, niemals der der Nachkommenden werden kann. Während ich dies notiere, ist mir ein wenig so, als sei das auch ein feines Essay-Thema, aber wer hätte Zeit für so dergleichen: „Assoziative Brücken zu literarischen Werken im Wandel der Jahrzehnte.“

Am Ende aber hat auch das schon längst jemand geschrieben.

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Der Innenhof des Hamburger Rathauses

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Ein kleiner Nachtrag noch zum gestern verlinkten Video von Tim Minchin. Ich kam auf ihn, weil ich gerade alte Links aufräume und umsortiere, Arbeiten im digitalen Keller gewissermaßen (durch die Schließung von Pocket getrieben).

Da fand sich in den verstaubten Kisten nämlich dieser Link zu der Ansprache von Tim Minchin vor Studentinnen, der „damals“ weit gestreut wurde. Ich habe mir das Video noch einmal angesehen und finde es immer noch gut. Wie auch die ähnlich gelagerte Rede-Variante von Anne Lamott über ihre Learnings als älterer Mensch

Mir macht beides immer noch Spaß und falls Sie die Clips vielleicht nicht kennen sollten, zeige ich sie noch einmal. Man kann, wenn man sie morgens ansieht, auf jeden Fall etwas mit in den Tag nehmen, wie man so sagt.


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