Es schleicht sich ein

24.5. ein Mittwoch. Ich höre Radio am Morgen, es geht da gerade um Heizungen, immer geht es um Heizungen, ob ich nun das Radio anmache oder das Internet. Eine Moderatorin sagt, die Ampelstimmung sei schlecht, man streite sich eskalierend. Das deckt sich vermutlich mit dem, was die Mehrheit annimmt, das deckt sich wohl auch mit der Wirklichkeit, aber als Beweis für die zunehmend raue Tonlage in der Koalition zitiert man dann ausgerechnet Überschriften aus deutschen Medien, die diese Zustände kommentierend bis herablassend beschreiben. Ich bin kein Medientheoretiker oder -kritiker, aber wenn ich so etwas höre, möchte ich glatt einer werden.

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Im Büro habe ich am Rande wieder Kontakt mit ChatGPT und technischen Konsorten. Überlegungen dazu, Diskussionen darüber. Ich lerne nebenbei, dass es die Bezeichnung Buchhaltroniker gibt, die habe ich noch nie gehört. FiButroniker auch, lese ich später noch nach, guck an. Mein eigener Beruf wäre dann wohl entsprechend der Controllotroniker, das klingt nach deutscher Science-Fiction aus dem letzten Jahrhundert.

Zwischendurch sehe ich in den Timelines ähnliche Gespräche zu verwandten Themen, es ist überall das Gleiche, von Firma zu Firma, von Schreibtisch zu Schreibtisch, man denkt über das neue Zeug nach. Zwischenstand aus meiner Sicht, der ich allerdings absolut nicht als Experte durchgehen kann: Die Auswirkungen kommen schneller als noch vor ein paar Wochen gedacht, sind aber erst einmal geringer, alltäglicher als von vielen zunächst angenommen. Es schleicht sich ein, wie immer und wie bei allem. Wir erinnern uns, selbst die Smartphones haben 2007 nicht über Nacht die Welt verändert (ich habe das Geburtsjahr der Smartphones immer so schön parat, weil es mit dem Geburtsjahr von Sohn I zusammenfällt.). Vor ein paar Wochen habe ich noch gedacht, dass spätestens in fünf Jahren vieles gründlich anders sein wird, besonders in den Büros, auch in meinem, mittlerweile denke ich eher in zwei Jahren, und ich werde nicht besonders überrascht sein, wenn ich das noch einmal auf ein knapperes Timing korrigieren muss.

Später am Tag spiele ich mit einem weiteren neuen Chatbot herum, PI von Inflection (hier ein Artikel darüber, im englischsprachigen Raum findet man mehr Texte). Der oder eher es ist im Gegensatz zu ChatGPT ausdrücklich auf emotionale Intelligenz getrimmt, es ist ein betont freundlicher Gesprächspartner, benimmt sich ähnlich wie ein Therapeut im Erstkontakt und stellt Nachfragen, die einfühlsam sein sollen und, wenn ich es recht verstehe, die einem helfen sollen, das eigene Denken zu strukturieren. Was auch bei kreativen Prozessen interessant sein kann. Wenn man der Software etwa sagt, dass man heute die große Stadt satthabe und aufs Land wolle, vertieft sie die Gedanken durch geduldiges Nachfragen und Vorschläge. Und es läuft, wie ich beeindruckt feststelle, hervorragend. Meine Güte, kann Software gut reden mittlerweile. Allerdings kann sie kein Deutsch und man möchte ihr, weil man ja in diesem emotional warmen Textumfeld ist, wenn man da chattet, gleich schreiben: „Das verstehe ich, dass du Deutsch noch nicht kannst, es ist wirklich eine sehr schwere Sprache. Bestimmt kannst du es später noch lernen.“ Also auf Englisch müsste man das dann sagen, versteht sich.

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Nach der Arbeit gehe ich mit einem Sohn zur Kieferorthopädin. Im Wartezimmer sickert flauschige, belanglos perlende Sedativ-Musik aus den Boxen an der Decke, die mich in Sekunden aggressiv macht. Gibt es im Ernst Menschen, die eine solche Geräuschkulisse beruhigend finden und wie bitte sind die denn drauf? Beruhigungsgedudel, schauderhaft, das triggert meine Wellnessallergie.

Später sitze ich wartend zwischen den Behandlungszimmern, es gibt hier etliche davon, aus denen erlesen fiese Schleifgeräusche im hohen Frequenzbereich kommen und weiß für einen Moment nicht, ob in diesem speziellen Fall nicht doch vielleicht die willenlos wabernde Musik besser sein könnte … Pest oder Cholera.

Haben Sie übrigens gewusst, wieviel Eltern bei kieferorthopädischen Leistungen für ihre Kinder dazuzahlen müssen? Das mal bei der Familienplanung mitbedenken, wenn Sie noch in dieser Phase sein sollten.

Ansonsten ist dieser Mittwoch der Tag der überaus seltsamen Aktionen gegen die Letzte Generation und wie viele andere Menschen auch brauche ich recht lange, bis ich verstehe, dass der Text auf der beschlagnahmten Homepage kein Fake ist, dass das mit der „kriminellen Vereinigung“ da wirklich vorverurteilend stundenlang stand und auf die Strafbarkeit der Spenden im Ernst hingewiesen wurde. Wow.

Ich habe es eine ganze Weile nicht glauben können. Plötzlich spendenwillig sein, so kann es also zugehen.

Siehe zu dem Thema auch hier oder noch ausführlicher bei der Lage der Nation.

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 29.5.2023

Weiter im Orkney-Bericht, hier noch mit einigen Vögeln. Krähenscharbe – was ist das wieder für eine großartige Artbezeichnung, und was für eine feine Beleidigung auch, du olle Krähenscharbe. Herrlich.

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Eine Cannes-Nachlese mit interessanten Details zu Falken, Tauben und Möwen als Festival-Gäste.

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Eine Brandgans, wir bleiben noch kurz bei Vögeln, hatten wir schon als Gartengast, hier steht etwas mehr zu ihr. Man beachte bitte, dass in so einem Natur-Artikel auf einmal der Zweite Weltkrieg vorkommt. So etwas lernt man nicht im Geschichtsunterricht, dafür braucht man das Internet.

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Eine kleine Anmerkung zu Corona nur, die genau an dem Tag erschien, als ich es auch dachte und vor so einem Schildrelikt stand, deswegen verlinke ich es eben.

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Solar-Erfahrungen, vielleicht findet sie jemand nützlich.

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Die Duldsamkeit des Vinyls. Mir kam neulich in ähnlicher Situation eine LP-Seite auch erstaunlich kurz vor, meiner Erinnerung nach dauerten die länger. Und zwar erheblich länger. Nun, Erinnerungen täuschen, und wie sie täuschen.

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Später Tagesschau hinterhergeguckt: Acht von 15 Minuten über deutschen Männerbundesliga-Fußball. Das halte ich für sehr falsch: Menschen, die sich für dieses Thema interessieren, haben sicher genügend andere, auch öffentlich-rechtliche Quellen dafür.

Genau. Es ist eine Zumutung, und ich meine es nicht freundlich-scherzhaft.

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Pandemiemeldungen – man kann immer noch mitspielen. Gute Besserung!

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Über Lehneriche und Eckensteher. Bei Eckensteher muss ich noch zwingend Nils Koppruch anlegen, leider finde ich das gleichnaige Lied von Fink (von dem übrigens großartigen Album „The return of the Tüdelband“, das wiederum auf die Gebrüder Wolf verweist) nicht online, hier steht aber zumindest der Text.

Und weil es gerade Sommer wird und Kirschen hier auch schon vorkamen, nehmen wir ersatzweise einfach dieses Lied, denn es ist sicher nie falsch, des Koppruchs zu gedenken.

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Berufe mit Tieren

23.5., Dienstag erst, es ist erstaunlich, gefühlt bin ich schon komplett freitagsdurch und wochenfertig. Aber das war erwartbar.

Auf einem Plakat an der Haltestelle Hammerbrook sehe ich am Morgen Werbung für den Job als Lokführer, es wird in großer Schrift auch gleich das Gehalt angegeben: 4.000 Euro netto. Es steht noch mehr dabei, ich sehe aber nicht alles im Vorbeigehen. Ich habe keine Zeit für das Kleingedruckte, wer hat die schon auf dem Weg zur Arbeit. Vermutlich stimmt die Gehaltsangabe nur mit Schichtzuschlägen und mehreren Sonderbedingungen und sonst etwas. Egal. Es ist jedenfalls nicht so lange her, da wäre so eine öffentliche Verkündung von Gehältern noch seltsam gewesen, mittlerweile wird sie aber auch auf den bunten Zetteln, mit denen an Cafés, Kiosken, Schwimmbädern dringend etc. nach Personal gesucht wird, immer üblicher und die Zahlen werden dabei größer, sowohl im Wert als auch in der Darstellung. Ich habe damals in einer vollkommen anderen Welt mit diesem Berufsspiel begonnen.

Und die Lokführer werden nun nicht mehr so banal benannt, wie wir es früher gewohnt waren, sondern werbend „Loklöwen“, das macht gleich viel mehr her. Was macht denn ihr Sohn? Der ist jetzt Loklöwe. Das klingt ausbaufähig, da geht sicher noch mehr, vom Tunnelbautiger über den Paketpanther bis hin zum Pflegepferd. Wobei letzteres nicht beeindruckend genug klingt, merke ich gerade, da müsste man vielleicht nochmal ran.

Büro. Man arbeitet so vor sich hin.

Am Nachmittag wird beim Discounter jemand mit Gewalt rausgeworfen, während ich Toast und Dosentomaten und anderes Zeug in den Einkaufswagen lege. Kurze Szenen des energischen Zupackens und schnellen Abschiebens, der sonst so freundliche Security-Man kann auch anders. Jemand hat betrunken die Kundinnen belästigt, lallendes Schreien und Toben. Es ist nicht so selten, dass jemand aus diesem Laden fliegt, und Alkohol ist meistens an den Vorkommnissen beteiligt. Das liegt an der nahen und personalstarken Trinkszene am Hauptbahnhof, die wirkt sich bis weit ins Viertel und in meinen Alltag aus. Solche Szenen kommen hier also vermutlich öfter vor als etwa bei Ihnen, wenn Sie nicht gerade ähnlich in einer anderen Großstadt wohnen. Ich müsste es vielleicht öfter erwähnen, dass es vorkommt. Es könnte längst zu selbstverständlich für mich sein, ich sehe es teils nicht mehr.

Vor dem Geschäft stürzt eine Frau mit einem Scooter auf dem Gehweg, sie sammelt ihn wütend brabbelnd wieder auf und schiebt ihn dann in Schlangenlinien und laut schwadronierend weiter, schon die nächste Volltrunkene. Normal. Ich bin kein Abstinenzler, aber abschreckende Beispiele für den fortgeschrittenen Missbrauch von Alkohol gibt es hier überreichlich, jeden Tag und an jeder Ecke.

Die Herzdame ist währenddessen schon wieder auf Reisen, diesmal im schönen Dortmund, ich dagegen gebe das Heimchen am Herd. Ich koche Spaghetti Bolognese. Kinder, auch große Kinder, wollen Klassiker, zumindest beim Essen. Bei der Wahl der Lektüre ist die Lage dann deutlich anders.

Ich dagegen lasse mir beim Braten weiter Joseph Roth vorlesen, „Zipper und sein Vater“, die wehe Traurigkeit nach dem Ersten Weltkrieg wird gerade verständlich und nachvollziehbar dargestellt. Bis zur Traurigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Herr Roth es dann bekanntlich nicht mehr geschafft.

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Juliwarm, gelbes Licht

Der 22.5., ein Montag, ein Werktag. Wir ruckeln uns nach der Reise ins Heimatdorf mühsam in den Alltag zurück. Mehrere Familienmitglieder bestaunen nach dem Wecken erst einmal die seltsame Uhrzeit und fragen sich, ob sie früher auch zu der aufgestanden sind, ob das denn tatsächlich sein kann, es fühlt sich heute alles dermaßen falsch an.

Ich bin mutig und glaube dem morgendlichen Wetterbericht, ziehe mich tropentauglich an und gehe ins Büro. Und ja, der Wetterbericht lag richtig, es wird warm, sehr warm sogar, auf einmal juliwarm, fast könnte man es heiß nennen. Aber überall noch skeptische Menschen, die das mit der plötzlichen Erwärmung nicht recht für bare Münze genommen oder auch komplett ignoriert haben, die noch Pullover tragen, Übergangsjacken, Mäntel und dergleichen. Im Laufe des immer schwüler werdenden Tages bekommen sie rote Gesichter, atmen schneller, schwitzen mehrere Lagen Klamotten durch, zerschmelzen dann am späten Nachmittag und werden nie mehr gesehen. Der Mensch muss sich anpassen können, es zeigt sich auch im Alltag, nicht nur über Jahrhunderte.

Ich gehe nach der Arbeit noch durch die Innenstadt, ich hole bei einem Arzt etwas ab, es gibt immer irgendwas zu besorgen oder von A nach B zu tragen. Jeden Tag Strecke machen und alles ablaufen. Es wird währenddessen noch wärmer. Ich höre Simon & Garfunkel dabei, was singen sie da: „I can gather all the news I need from the weather report.“

Yes, we can.

Ich höre danach noch einen Podcast über den Song „Mrs. Robinson“ von den beiden und lerne, dass der ursprünglich als „Mrs. Roosevelt“ gedacht war, das wusste ich nicht. Daher auch die Liedzeile „going to the candidate debate“, die ist einfach aus dem ersten Entwurf dringeblieben und wurde nicht durchgetauscht. Beim nächsten Hören wissend nicken an der Stelle, dann fühlt man sich gleich wieder etwas eingeweihter.

In der Innenstadt sehe ich einkaufende Menschen in allen Stadien der Hitzeverwahrlosung („Mir doch egal, ich ziehe das jetzt aus!“), aber wer bei diesem Wetter in Kaufhäusern Hosen und dergleichen anprobiert, der hat auch selbst schuld.

Im Hamburger Hauptbahnhof steht etwas, das da vorher nicht stand, ich sehe es auf dem Rückweg. Es ist groß und beeindruckend und es trägt verdammt schwer an der Welt: Der gerettete Atlas. Hier die Geschichte dazu, es ist noch eine Kriegsgeschichte aus diesem Land, nach all der Zeit noch.

Die Atlas-Skulptur im Hauptbahnhof

Atlas hat, das passt schön zum Wetter, nichts an, nicht einmal unten herum. Es ist ein Wunder in unseren immer spießiger werdenden Zeiten, das man nichts davor gehängt hat.

Und während ich diese Zeilen schreibe, wird das Licht vor dem Wohnzimmerfenster auf einmal deutlich gelb und die Unwetterwarnung poppt zeitgleich auf dem Handy auf, während auf den Dachfenstern die ersten großen Tropfen trommelnd zerplatzen. Es ist alles wieder sehr schön synchron heute. „Teils unwetterartige Entwicklungen mit Starkregen. “

Okay. I can gather all the news I need from the weather report.

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Eidechsen und Lindenblütenbeobachtungen

21.5., Sonntagmorgen. Ein taz-Artikel mit einem Schlusssatz, der einerseits auf der Hand liegt, andererseits aber eher selten in den Medien festgestellt wird. Es ist doch immer wieder faszinierend, wie viel Ungerechtigkeit wir alle in der Gesellschaft hinzunehmen bereit sind, wieviel davon wir auch bereitwillig entschuldigen, dabei kann das doch jeder Kita-Morgenkreis plausibel erklären, was gerecht ist. Und dass wir uns an so vielen Stellen auf der Welt gleichzeitig in seltsamster Weise irgendwie faschofeudalistisch zu finstersten Zeiten zurückentwickeln, ich hätte es mir als jüngerer Mensch wahrhaftig nicht träumen lassen. Aber die Zeiten, sie sind nun so.

Abseits der Politik kommen jetzt zwei, drei wärmere Tage, richtig warme Tage sogar. Die Vögel auf dem Spielplatz klingen am Morgen gleich etwas munterer, wir frühstücken zum ersten Mal bei offener Balkontür. Ende Mai erst! Aber der Mann, der früh auf dem Rad ankommt und das Kirchenbüro aufschließt, ich sehe es vom Balkon, er trägt immer noch die gleichen Sachen wie im April, März, Februar, Januar. Vielleicht ändert er das nie, es gibt solche Menschen.

Der Spielplatz ist am Vormittag besser besucht als sonst, Eltern in T-Shirts und kurzen Hosen, Kinder ohne Schuhe im Sand, beides habe ich lange nicht mehr gesehen.

Die Herzdame liest beim Frühstück im Blog, wobei sie wie stets weit zurückhängt, immerhin aber nicht mehr jahrelang. Das gab es auch schon. Ich frage nach, sie ist gerade am 2. März angekommen. Ich habe nur noch eine ungefähre Ahnung, was ich im März geschrieben haben könnte. Etwas über die Kälte vermutlich, die einfach nicht weichen wollte.

In einer Hamburger Kleingartengruppe im Internet postet jemand ein Eidechsenbild. Gerade erst ging es bei uns in einem Gespräch darum, dass wir in Hamburg nie Eidechsen oder Schlangen sehen, prompt wird der Gegenbeweis geliefert, ab und zu ist es doch bemerkenswert, wie das ineinandergreift. Wenn nachher eine Natter auf unserem Kompost ruht, ich wundere mich nicht. (Späteres Update: Auf dem Kompost war keine, aber in einem Blog postete jemand prompt und wie bestellt noch am gleichen Tag ein Natternbild. Es ist unheimlich.)

Ansonsten ist jetzt die Zeit der Lindenblüte. Die Autos, die unter den Bäumen geparkt wurden, sehen nach ein paar Tagen aus, als könnte man sie direkt abmelden und verschrotten, so dick ist die Schmierpappklebeschicht auf dem Lack und auf den Scheiben, komplett rettungslos sieht das aus und manchmal bekommt man mit, wie jemand laut fluchend in sein Auto steigt, durch dessen Scheiben man kaum noch etwas sehen kann. Händeringen auf dem Fahrersitz, da hat man einen tollen neuen SUV, und dann ist da überall Natur drauf. E-kel-haft.

Auf den Tischen der Außengastro daneben die pflegeleichten Blüten der Plastikblumen in den wasserlosen Vasen.

Ich schleppe den portablen Mini-Backofen zum Auto, den fahren wir in den Garten und haben damit wieder eine voll ausgerüstete Laube, es kann alles losgehen, sogar Kuchen kann es im Garten wieder geben. Die Radieschenernte wird allmählich üppiger und die erste Mohnblüte hat sich auch geöffnet.

Einige frisch geerntete und gewaschene Radieschen, noch nass

Apropos Blüte, ich habe im Internet so lange auf Herrenmodewerbung geklickt, jetzt wird es allmählich wunderlich und also erträglich, was mir nun noch angezeigt wird. Heute etwa sehe ich mehrfach Werbung für seidene Stoffblumen, die man sich ans Revers des Sakkos steckt, sogenannte Boutonnières (die Kornblume lieber vermeiden, siehe dazu den eben verlinkten Wikipedia-Artikel. Fast gerate ich bei dieser Werbung in Kauflaune, aber nur fast. Ich sehe nach, ich habe gar kein richtiges Knopfloch am Revers, es ist nur aufgestickt, nicht geöffnet, eine bloße Attrappe. Billigschund! Mehr auf sich achten, auch wichtig.

Der ewige und unvermeidliche Wind steht heute so, dass das Gebell aus dem nahen Tierheim zu uns in den Garten weht. Wutbellen, Angstbellen, Verzweiflungsbellen, eine Stimmung dort wie auf Twitter in den schlimmsten Stunden, und es ist ein passender Zufall, dass der Wind von rechts kommt.

Von Baum zu Baum springt dieser auffrischende Wind am Nachmittag, erst rauscht der Weißdorn auf, dann die Birke, dann die Weide, und aus den Apfelbäumen rieseln schließlich die letzten Blüten weiß auf den Rasen.

Der Deutsche Wetterdienst mahnt auf seiner Seite streng: „Es ist noch kein Sommer!“

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Das Sommermorgenwochenendgefühl

20.5., ein Sonnabend. Der Efeu an der Spielplatzmauer hat neue Blätter ausgetrieben und über die alten geschoben, ich sehe es beim Brötchenholen. Frisches, leuchtendes Grün, hier sieht es auf einmal wie renoviert aus, alles so glänzend. Sich ab und zu einmal etwas Neues überwerfen, wie gut das tut, ich kenne das. Da wirkt man gleich wie eine andere Pflanze.

Frische Erdbeeren mit Quark zum Frühstück, für das bisschen Sommermorgenwochenendgefühl bei allerdings immer noch allzu bescheidenen Temperaturen. Die Herzdame und ich reden über die neu festgestellte Vorabendserienhaftigkeit ihres Heimatdorfes. Wie leicht man aus den Leuten und Lebensläufen dort ein in endlos viele Folgen zerteiltes Epos mit kauzigem Personal, heiteren Verwicklungen und tragischen Wendungen machen könnte, was solche Serien eben jahrelang zuverlässig füllt. Aber das fällt uns natürlich nur auf, weil wir aufmerksam wie Urlauber hingesehen haben. In Wahrheit hat so gut wie jede Stichprobe menschlichen Beisammenseins diese Vorabendserienhaftigkeit, man muss sie nur interessiert genug beobachten. Wenn ich etwa an das Haus denke, in dem ich wohne – mindestens ein Viertel der Bewohnerinnen und Bewohner ist mehr als seltsam, mich selbst natürlich eingeschlossen, lauter merkwürdige Typen, Etagen voller schräger Vögel, die wunderbare Welt des Buddenbohms. Jede Partei ein Original, genau wie alle anderen auch. Menschlich eben.

Ich höre „Zipper und sein Vater“ von Joseph Roth, gelesen von Harald Seeböck. Ich notiere mir die Formulierung, etwas sei „traurig wie ein aufgeräumtes Zimmer.“ Das mal merken, das irgendwann mal anwenden. Ach guck, schon erledigt.

Und immer noch denke ich darüber nach, was es ausmacht, dass die Artikel hier gerade so erscheinen, wie es im Moment der Fall ist. Alleine der Freitag gestern, sehe ich gerade, wurde im Blog zu drei Texten, und ein besonderer Tag war es wirklich nicht. Ob ich mir hier wohl gerade die Geschwindigkeit aus dem Alltag schreibe, und ob ich, wenn mir das am Ende gelingen sollte, sofort Lebensratgeber schreiben müsste. Nein, keine Sorge.

Dann wieder in den Garten gefahren. Ein Straßenschild auf dem Weg hat man nachts überklebt, der kleine Weg heißt jetzt „Fickteuchallee“, alles in einem Wort. Für Bindestriche wäre auch kein Platz mehr gewesen, es wurde alles etwas eng beschriftet.

In der Gartenkolonie winkt der Nachbar von seiner Parzelle herüber, als ich ankomme. Ob alles gut sei, will er wissen, was antwortet man da. Und was sind das überhaupt für Menschen, bei denen alles gut ist, passen die nicht auf oder was. Ich winke nur freundlich, denn der Nachbar ist ein netter Mensch, ich mag ihn. Immer lächeln und winken, stoisch durch die social awkwardness.

Ich pflanze noch schnell eine Gurke und einen Kürbis, welche die Herzdame aus dem Heimatdorf mitgebracht hat. Sie sehen wesentlich strammer und fitter aus als die Pflanzen, die schon im Beet sind, kerngesunde Nachzügler sind es. Noch. Die Pflanzen, die ich hier im Viertel noch kaufen könnte, sie sind auch alle schon in der Invaliden-Kategorie, die werden jetzt verramscht oder landen im Müll.

Der Himmel ist bedeckt und die vom Wetterbericht versprochene Erwärmung fällt bei uns aus oder verzögert sich deutlich, so wie die Züge im Regionalverkehr nach Sylt. Es ist etwas enttäuschend, wir hatten deutlich mehr erwartet, und der ewige Wind geht mir mit seiner Kälte heute dermaßen auf den Wecker. Auch die Vögel im Garten klingen an diesem Nachmittag etwas verhalten, sie sind vielleicht in der gleichen Stimmung wie ich, seltsam bedröppelt, nur zögerliches Piepsen aus dem Flieder.

Später trinke ich noch einen Kaffee mit der Herzdame, wir sitzen unter der Weide. Sie sagt: „Einfach nur im Bett mit einer Decke über dem Kopf, das wäre jetzt aber auch gut.“

Und damit sie hat wieder recht, aber das bin ich ja gewohnt.

Im Tagesbild heute ein Frosch. Warum auch nicht.

Wilde Kunst an einer Wand, ein Frosch mit dem Text: Küss mich

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Himbeeren und Akelei

Immer noch der 19.5., immer noch der Freitag der letzten Woche, mittlerweile hänge ich also etliche Tage zurück, willkommen in der jüngeren Vergangenheit.

Nach drei Lasteseleinkaufsrunden zu Fuß durch die beiden Standardläden (wobei beim dritten Besuch die eine Kassiererin doch etwas komisch guckte, war der nicht gerade erst hier, kommt der jetzt stündlich oder was, und dann immer diese Mengen?) sind die Küchenschränke wieder voll, Erdnüsse für die beleidigten Krähen gibt es auch reichlich und die Teenager sowie etwaige Besuchsjugendliche werden nächtliche Hungerattacken eine Weile überleben können.

Das Fahrrad ist wider Erwarten doch reparabel, es fährt sich nur etwas seltsam, ruckelt und ist unbequemer denn je, aber egal. Ich fahre dennoch darauf in den Garten und sehe dort nach, was vom Gemüse, für das ich keine Zeit hatte und das dummerweise auch bei eher unpassendem Wetter gepflanzt wurde, überhaupt noch lebt. Das ist überschaubar, ich hatte es befürchtet. Aber es ist doch etwas mehr als nichts. Es wird ein paar Tomaten geben, die Zucchini haben noch eine knappe Chance, der Kürbis allerdings nur noch eine halbe, bestenfalls. Für die Gurken müsste man schon beten, wenn man denn an irgendetwas glauben würde. Kümmerliche Kartoffeln, karger Kohlrabi. Nun ja. Und was da vorne wächst – keine Ahnung. Aber es keimt so gerade in schönen Reihen, es wird schon etwas sein, das ich da planvoll hingestreut habe. Ja mach nur einen Plan. Einfach mal probieren, und guck an, es ist Rucola.

Ein noch kleines, frisch geerntetes Radieschen

Gemeinsamer Gartenrundgang mit der Herzdame. Die Obstbaumschädlinge treiben sie zur Verzweiflung, der Schneckenfraß eher mich. Wir verteilen die Sorgen zwischen uns beiden, denn so geht es zu in der Güter-, Garten- und Wertegemeinschaft.

Die Himbeeren stehen allerdings üppiger denn je, immer nach Möglichkeit auch das Positive beachten. Es wird ein herrliches Himbeerjahr, ein Akeleijahr auch, die blühen gerade überall, selbst dort, wo sie noch nie geblüht haben, und auch in Farben, die wir noch gar nicht hatten. Ein wunderbares Altrosa etwa, wo kommt denn das auf einmal her, es ist erlesen schön. Das ist in Gärten oft so, dass einige Sorten im Frühjahr beschließen, jetzt dran zu sein, und dann eine üppige Spezialsaison hinlegen, dass man staunend vor den Beeten steht: Das war doch hier sonst nicht so. Und schon im Folgejahr machen sie dann wieder einen auf Durchschnitt und Bescheidenheit, blühen bieder und fallen nicht weiter auf. Wenn man so auf sein Leben zurückblickt – vielleicht haben wir auch solche Rhythmen.

Zwei Holzstühle im Schrebergarten

Kreissäge von links, Rasenmäher von rechts. Man müsste sich liebliches Vogelgezwitscher über Noise-Cancelling-Kopfhörer abspielen, um es hier richtig genießen zu können. Und wo ich auch hinsehe, jeder Winkel dieses Gartens sagt: „Man müsste mal“, jede Ecke ruft: „Man könnte mal.“ Ich aber sage, der Mensch braucht auch Pausen, und ich lege mich in der Laube aufs Bett. Frühsommerlicher Halbschlaf, und oben der Wind in der Weide, es regnet Reisig auf die Terrasse. Ohne heulende Motoren von überall wäre es wahrhaft schön.

Ich sehe vor der Rückfahrt noch nach, was alles blüht, ich möchte das monatlich notieren: Milchsterne, die ich immer erst nachschlagen muss, und die ich vor meiner Zeit mit eigenem Garten noch nie bewusst wahrgenommen habe. Die drei Schneebälle, früher Bienenfreund. Der Rhododendron, die Akelei, der Moos-Phlox, der war eine gute Idee, er gedeiht schön. Rosenginster, Besenginster, Immergrün, das sich erfolgreich weiter ausbreitet. Knoblauchrauke, Pechnelke, Hasenglöckchen, wie nett ist denn bitte dieser Name. Salbei in verschiedenen Sorten, Tomaten. Die raumgreifende Katzenminze, Thymian, plötzlich Hunger. Die Aronien, der Flieder, die Magnolie. Himbeeren, Geißblatt, Maiglöckchen, sehr viele davon. Wiesenmargerite, das Silberblatt, das gar nicht silbern ist. Weigelie, kleine Taubnesseln davor, Schöllkraut, Beinwell, Gänseblümchen. Löwenzahn. Letzte Tulpen, schon deutlich schwächelnd, hinfällig, morgen sicher Vergangenheit. Heidelbeeren, Wiesenschaumkraut, und über allem die große, beeindruckende Blütenwolke des alten Weißdornbaumes. Hahnenfuß, Erdbeeren und irgendwas habe ich sicher übersehen, wie immer.

Vielleicht öfter mal nachsehen. Es hat etwas Beruhigendes, so murmelnd durch die Beete zu gehen, bedächtig wie ein schreitender Storch, und dabei Pflanzennamen zu notieren.

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Ein schönes Schild, ein schwieriges Fahrrrad

19.5., weiterhin Freitag, wie viel Text man manchmal für nur einen Tag braucht, wenn man nur ausreichend notiert. An einem der Spielplätze im Stadtteil hängt ein neues Schild, es ist größer als das, was da vorher hing, aber mit der immer noch gleichen Botschaft: „Betreten des Spielplatzes für Erwachsene nur in Begleitung von Kindern erlaubt.“ Natürlich gibt es unschöne Gründe für die Notwendigkeit dieses Schildes, es waren zu oft die falschen Typen auf dem Platz, die nicht Eltern waren, es geht da auch um Drogenhandel und -konsum, es geht um zwischen den Büschen verbuddelte Päckchen, um kackende Hunde, um stundenlange Besäufnisse, um bezahlten Sex im Gebüsch und um alle möglichen eher abwegigen Verhaltensweisen rücksichtsloser Erwachsener – aber stellen wir uns bitte einmal einen Augenblick vor, die Welt wäre nett eingerichtet, alles wäre hier Bullerbü, wie man in Berlin wohl sagt, und es gäbe kein Böses und kein Schlimmes weit und breit – dann wäre dieses Schild nur ein freundlicher Hinweis, dass Erwachsene, die auch mal auf einen Spielplatz wollen, und warum sollten sie nicht wollen, dafür unbedingt die kompetente Begleitung eines Kindes brauchen, um sich dort richtig und situationsangemessen zu verhalten. Denn wichtige Fähigkeiten, die man auf Spielplätzen einsetzen sollte, haben sie vielleicht im Laufe des Erwachsenwerdens bedauerlicherweise verloren, etwa die Fähigkeit zum Herumtollen, auch die zum Spielen, zum Toben oder die zum bloßen Herumsitzen in der Nachmittagssonne mit einem tropfenden Eis in der Hand. Und wenn man so ein Kind dabeihat, dann passt das schon auf, dass man sich da nicht allzu blöd anstellt, auf diesem Spielplatz.

Ich jedenfalls denke mir dieses Schild immer konzentriert schön, wenn ich es im Vorbeigehen sehe, kitschbereit wie ich nun einmal durch und durch bin. „Da werde ich zum Emopferdemädchen“, wie Sohn II sagen würde, was übrigens beweist, dass auch Tiktok die Sprache bereichern kann.

Später hole ich mein Fahrrad aus dem Keller, um es für die Saison startklar zu machen. Es kommt eine Zwanzig-Grad-Zeit, sagt die Wetter-App, da fahre ich gerne, während ich in der kalten Jahreszeit, also fast immer, das Radfahren kategorisch verweigere. Die gute Nachricht ist, dass diesmal niemand das Rad aus dem Keller gestohlen hat, und das ist schon viel. Die schlechte Nachricht ist allerdings, dass es dort unten aber jemand gründlich und sicherlich mit Absicht beschädigt hat, der kleine Vandalismus zwischendurch. An Fahren ist erst einmal nicht zu denken, und ob sich eine Reparatur lohnt, ich weiß ja nicht. Hm. Wenn man ein funktionsfähiges, womöglich sogar ein gutes Fahrrad haben und auch noch behalten möchte, muss man es bei unserer Wohnlage in der Stadtmitte vermutlich am besten jeden Abend mit ins Bett nehmen und hüten wie seinen allerliebsten Schatz. Eine sperrige Angelegenheit ist das, und mein verbeultes Fahrrad ist auf diese Art im Moment eher eine weitere Schwierigkeit, keine Lösung.

Aber nicht aufregen, bloß nicht aufregen. Einfach in die Bahnen steigen oder zu Fuß gehe. Ja, einfach weitergehen, das wird es sein. Wie immer.

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Blicke aus dem Weltall

19.5., ein Freitag. Auch mal eine Meldung, die ich gut finden kann: in Niedersachsen werden Bahnlinien wiederbelebt. Sollen sie mal machen, ich fahre da dann auch mal durch die Gegend.

Ich schreibe einen Einkaufszettel für den Wiedereinstieg in die familiäre Küchenroutine. Die Herzdame war zwei Wochen nicht hier, wir alle waren eine Woche nicht hier, der Einkaufszettel wird daher gefühlt kilometerlang, wir brauchen einfach alles, und am besten alles gleich mehrfach. Vielleicht doch mal mit dem Auto zum Einkauf, aber die Ehre des Fußgängers! Man hat doch auch seinen Stolz. Und man kann auch dreimal gehen, das ist gesundheitlich sogar förderlich und sicher wieder besser als überhaupt kein Sport. Das zumindest kann man sich einreden, und 15.000 Schritte kommen so leicht zusammen.

Ein kleiner Junge stolpert aus einem Haus und mir strampelnd vor die Füße, eine hilfreiche Großmutterhand sammelt ihn umgehend wieder auf. Er guckt an sich herunter und ruft mit sichtlichem Stolz im Gesicht: „Ich habe eine blaue Hose! Und! Eine blaue Jacke!“ Er klopft auf beides, auf Jacke und Hose, sehr schön blau sind die tatsächlich, und neu sehen sie aus. Die Großmutter lacht und sagt: „Ja, das sind die Signalfarben, damit man dich aus dem Weltall gut sehen kann.“ Und wissen Sie was, so habe ich das noch nie gesehen. Mit jedem blauem Kleidungsstück zum blauen Planeten beitragen, da hat man auch wieder eine Aufgabe. Aber wer sieht einen dann? Das hat der kleine Junge nicht gefragt, und warum eigentlich nicht. Kinderfragen auch nicht mehr, was sie mal waren.

An einem Gebäude der katholischen Kirche, apropos Blicke aus dem Weltall, hängt ein neues Banner. Es sieht professionell hergestellt und auch korrekt befestigt aus, es wird sozusagen abgesegnet dort hängen: „Frau. Leben. Freiheit.“ Und ich denke, dass die Kirche womöglich etwas, haha, unorthodox zu dieser Erkenntnis gekommen sein wird, dass es unterm Strich aber fraglos begrüßenswert ist, wenn bei den Katholiken die Frau auch einmal vorne steht. Auf einem Platz in der Nähe hat diese Parole jemand mit Kreide gemalt.

Kreideschrift auf Asphalt: Frau Leben Freiheit

Einige hundert Meter weiter steht an einer Wand, gesprüht diesmal: „Frau Freiheit Sozialismus!“ und wieder weiter hat jemand etwas an einer anderen Wand durchgestrichen, durchgesprüht eher, das man jetzt nicht mehr lesen kann, aber darunter zur Erklärung noch gut lesbar angemerkt: „Sexistische Kackscheiße weghauen.“

Das ist hier gerade die Stimmung an den Wänden.

Die Schaufenster dagegen werden, nachdem Ostern und generell auch der Frühling irgendwie durch sind, wieder auf maritim gedreht, um die vielen kaufkräftigen Touristen zu erfreuen, die im Sommer sicher kommen werden. Bring uns mal irgendwas mit Anker oder Möwe mit, ja? Oder mit Leuchtturm oder mit Muscheln. So etwas. Oder, noch besser vielleicht, einen vollkommen beliebigen Alltagsgegenstand, auf man „Moin“ geschrieben hat und ihn deswegen mit einem Aufschlag verkaufen kann. Volle Lotte Hamburg.

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Überaus seltsame Ferien

18.5., im Heimatdorf der Herzdame und in Hamburg.

Am Donnerstagmorgen erlebe ich erhebliche Irritationen wegen des Datums, denn wir haben, so fällt mir beim ersten Blick auf den Computer auf, offensichtlich die zweite Maihälfte erreicht, was wiederum heißt, dass es gleich schon Juni ist, also auch im Handumdrehen Juli, dann kommt schon der dreiwöchige Sommerurlaub, wie komisch und hopplahopp ist das denn alles, wie geht das nun wieder zu, eben war doch noch Winter. Was haben wir jetzt wieder verpasst, wo waren wir unaufmerksam. Immer diese Jahre, die bis etwa April in nervtötender Zeitlupe ablaufen und dann plötzlich im Handumdrehen in den Herbst kippen. Das Zeitgefühl mal vernünftig linearisieren, das wäre es.

Es ist unser letzter Morgen im Heimatdorf, wir müssen nach Hamburg zurück. Für die Söhne waren das überaus seltsame Ferien (Hamburg hatte in dieser Woche schulfrei, und nur Hamburg, soweit ich weiß), wir haben es uns nicht ausgesucht. Die Herzdame und ich wollten auch in dieser Woche Urlaub haben, frei haben, das kam jetzt anders, und wir waren gründlich mit ungeplanten Dingen beschäftigt. Das war selbstverständlich auch richtig so, ist aber dennoch ein Problem, denn etwas Erholung hätten wir beide gebraucht und vor der nächsten Woche mit ihrer sicher schnell eskalierenden Alltagsverdichtung, mit ihren tausend Terminen, To-Dos, Dienstreisen, Besorgungen und komplexen Sonderaufgaben graut uns erheblich. Da wird sich einiges unangenehm ballen, es ist klar abzusehen. Wenn hier zur nächsten Woche nichts oder kaum etwas stehen wird, wenn es eine Lücke, eine entsetzliche Lücke in der Chronik gibt, wurde ich vermutlich von der Wochenwalze überfahren und liege gründlich geplättet irgendwo herum. Dann bitte einfach warten, bis ich irgendwann wieder normales Format annehme, was im besten Falle von selbst geschieht.

Ich könnte glauben, dass diese nächste Woche in mancher Hinsicht einen Höhepunkt der Belastungen darstellen wird, dass zumindest einiges danach also wieder tendenziell wieder weniger, anderes besser werden könnte. Aber als Gewissheit schreibe ich es lieber nicht auf, ich bin mittlerweile zu oft überrascht worden. Die letzten Jahre waren da recht lehrreich. Natürlich nicht nur für uns, Sie haben es alle gemerkt, es kam zu oft anders, ganz anders. Das habe ich gründlich verinnerlicht.

In der Literaturauswahl bin ich gerade unentschlossen, ich habe im Heimatdorf auch nicht das Richtige dabei. Der Stendhal war zu kurz. Ich höre in einige Bücher beim Streamingdienst hinein, aber es passt mir alles nicht, mal mag ich die Stimme nicht, mal mag ich die Stimmung nicht, mal passt mir der Inhalt nicht. Ich höre in Lyrikanthologien, jedem seine Übersprungshandlung. Es wird da vom Dezember gelesen, Schneegedichte, Winterwald, geh mir weg. Nein, das doch nicht. Dann lieber einfach aus dem Fenster sehen. Felder und Bäume, eine freistehende Eiche am Sandweg, hinten die Birken bei den Pferdeställen, etwas im Wind gebogen, der in diesem Frühjahr einfach nicht aufhören will, immer das Wehen. Dann ein Windrad, ganz hinten das Weserbergland. Landschaft lesen. Auch gut.

Wir fahren nach Hamburg zurück, und wir fahren nur zu dritt, denn ein Sohn fährt tatsächlich lieber mit der Bahn, wie er es angekündigt hat. Mir gefällt das, soll er mal machen.

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Später in Hamburg, nach vollkommen ereignisloser Autobahnfahrt, trotz fast hysterischer Stauwarnungen für ganz Norddeutschland. Im Briefkasten ist keine Post, nicht einmal Werbung, das wundert mich, denn das kann eigentlich nicht sein. Nach etwas Bedenkzeit erst fällt mir ein, dass ich gar nicht wochenlang weg war, sondern nur wenige Tage. Gefühlt war es anders.

Ich gehe nach dem Auspacken und Verräumen der Klamotten und Dinge noch durch mein gewohntes Revier, durch das kleine Bahnhofsviertel und am öffentlichen Bücherschrank vorbei, da steht dieses Buch. Zsuzsa Bánk, Der Schwimmer. Ich nehme es mit, ich lese hinein und der Anfang passt mir gut, das ist der Tonfall, der jetzt passt. Geht doch.

Das Buch "Der Schwimmer" von Zsuzsa Bank

Auf dem Rückweg sehe ich mit Staunen, dass der Blauregen an der Mauer zum Spielplatz nun blüht. So weit schon das Jahr, da denke ich es bereits wieder.

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