Die Träume anderer Leute

Ich höre mit großem Interesse das Buch von Judith Holofernes: „Die Träume anderer Leute“, gelesen von Nora Tschirner, deren Stimme, das ist eine faszinierende Sinnestäuschung, mit jedem Kapitel mehr zu der von Judith wird (ähnlich habe ich es erlebt bei den Tagebüchern von Manfred Krug, die von seinem Sohn Daniel gelesen werden, den man nach kurzer Zeit dringend für den Vater selbst halten möchte). Es geht in den ersten Kapiteln u.a. auch um die Mühen der Vereinbarkeit von Kreativität, Arbeit und Elternschaft, und obwohl ich vom Popstar nun so dermaßen weit entfernt bin, wie es überhaupt nur denkbar ist, obwohl ich ein Mann bin und nur so am Rande meines Berufslebens auch etwas mit Kreativität mache, erkenne ich doch einiges wieder. Man ist mit seinen Erfahrungen, auch mit den kleinteiligen, immer noch weniger allein, als man ohnehin schon denkt, es zeigt sich oft.

Besonderen Dank an die Autorin auch für die Formulierung „imperative Müdigkeit“, ich hätte sie schon vor einigen Jahren gebraucht, wie auch für ihre Feststellung, dass ihr Leben zu einem gewissen Zeitpunkt „mit Arbeit zugemüllt war“ – ja, das trifft es, weiß Gott, und es ist hervorragend ausgedrückt. Eine sehr reflektiert wirkende Erzählung des Werdegangs, ich habe das gerne gehört und empfehle es. Das Buch ist sinnvoll und erfreulich für alle, die kreativ arbeiten, die über das richtige Leben im falschen nachdenken, die Fans von Judith Holofernes oder Faktensammler der deutschen Popgeschichte sind oder sich für Crowdfunding interessieren. Und diejenigen, die gerne Autobiografisches und Werdegänge lesen, wenn sie gut erzählt sind, die sind dabei auch richtig.

Die Hörbucherfahrung kann man sich in diesem besonderen Fall übrigens beliebig unterbrechen, auflockern und verlängern, weil selbstverständlich dauernd Musik erwähnt wird, man kann also nebenbei immr wieder auf Youtube, bei Streamingdiensten oder sonst wo nachsehen, wen oder was sie gerade meinte, man kann sich erinnern und neu entdecken, hängenbleiben oder gleich wieder verwerfen, jedenfalls aber noch einmal frisch feststellen, wie bunt es zugeht, wie wenig man mitbekommt und was man alles noch nie gesehen oder gehört hat.

Es gibt sogar Lieder von ihr selbst, die ich nicht kannte, und das hätte ich nicht gedacht, denn ich schätze sie sehr und schon lange.

Beifang in diesem Zusammenhang, beim Herumklicken aufgefischt:

Im Tagesbild eine Liebeserklärung im öffentlichen Raum, gesehen auf dem Weg zum Einkauf. Passend zum Hopplahoppfrühling, der hier mit seltsamer Intensität und immerhin 17 Grad am Montag ausgebrochen ist, wird die Botschaft etwas direkt und salopp formuliert, aber wir wollen die Absicht gelten lassen.

Ein gesprühter Schriftzug an einer Wand: "Beste Schlampe vong Erde"

Kurz nach dem Schreiben dieses Textes war der Frühling dann allerdings schon wieder weg, kurzlebig wie ein Blogtext.

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Autismus & Pathological Demand Avoidance (PDA)

Ein Termin-Hinweis von Maret Buddenbohm

Pathological Demand Avoidance

Heute bin ich in eigener Mission unterwegs, denn ich habe ein Herzensthema, das im deutschsprachigen Raum kaum bekannt ist und auf das ich aufmerksam machen möchte.

Es geht um das Autismus-Profil Pathological Demand Avoidance Syndrom, kurz PDA. Übersetzen lässt es sich mit „pathologische Vermeidung jeder Anforderung“.

„Anforderungsvermeidung“ klingt erst mal nicht besonders dramatisch und wieder eher nach „Reiß dich doch einfach mal zusammen“.  Das Wort „pathologisch“ definiert hier aber das extreme Ausmaß der Vermeidung und macht aus dem „nicht wollen“ ein „nicht können“ – egal wie intelligent die betroffene Person ist oder wie alltäglich und banal die Anforderung, wie z.B. Essen, Schlafen, Trinken, Anziehen.

Obwohl der Begriff bereits in den 1980ern im englischsprachigen Raum geprägt und viel darüber geschrieben wurde, ist er hier leider noch immer kaum bekannt, was vor allem für betroffene Kinder ein Riesenproblem ist, da viele von ihnen durch die herkömmlichen Diagnose-Raster fallen und somit nicht als Autisten erkannt werden.

Kinder mit PDA wirken im Vergleich oft nicht wie „klassische“ Autisten. Sie können meist sehr gut maskieren, wirken sozial aufgeschlossen und vergleichsweise kompetent. Deshalb wird ihnen oft unterstellt, sie können alles, wenn sie denn nur wollten. Aber selbst, wenn sie doch mit Autismus diagnostiziert werden, sprechen diese Kinder meist nicht auf entsprechende Hilfsmaßnahmen und Erziehungsmethoden an. Im Gegenteil, sie sind eher kontraproduktiv und wirken sich ungünstig auf die Entwicklung aus. Was das sowohl das eine wie das andere für betroffene Kinder und deren Familien bedeutet, kann man sich wohl ausmalen.

Kinder mit PDA erleben jede Art von Anforderung als bedrohlichen Kontrollverlust und Bedrohung der eigenen Autonomie. Um Kontrolle und Sicherheit wiederzuerlangen, reagieren sie dann mit extremer Vermeidung, was sich auf verschiedene Arten zeigen kann, wie z.B. komplette Verweigerung bis hin zu heftigen Zusammenbrüchen oder psychosomatischen Krankheiten. Vor allem die Institution Schule ist hier ein steter Quell der Anforderungen und dadurch eine enorme psychische Belastung für diese Kinder (und andere…).

Was diese Kinder nicht brauchen, ist eine besonders strenge und konsequente Erziehung, sondern Verständnis und Einfühlungsvermögen. Was diese Kinder auch nicht brauchen, ist die permanente Unterstellung, dass sie ja könnten, wenn sie nur wollten.

Und was die Eltern dieser Kinder überhaupt nicht brauchen, ist der permanente Vorwurf, sie seien nicht streng genug, würden sich auf der Nase rumtanzen lassen und können schlichtweg nicht erziehen.

Deshalb ist es mir so wichtig, über PDA zu informieren und zu mehr Verständnis beizutragen. Hier ein paar der wenigen deutschsprachigen Informationen dazu:

pda-anders-autistisch.info

autismusspektrum.info

autisplus.de

Falls ihr beruflich oder privat mit Kindern zu tun habt, die eine extreme Verweigerung an den Tag legen (und Anzeichen von ADHS oder Autismus zeigen), Eltern mit solchen Kindern kennt oder vielleicht selbst so ein Kind habt, dann möchte ich euch folgende Info-Veranstaltung zu diesem Thema ans Herz legen:

Online-Themenabend  „Autismus und PDA“

30. März 2023
19:00 – 21:00 Uhr

Veranstalter
Autismus Hamburg e.V.

Referentinnen
Dr. Nicole Chou-Knecht
Fachärztin für Psychiatrie & Psychotherapie (Schweiz)

Elisabeth Carl
sozialpädagogische Fachkraft / Coach im Bereich berufliche Rehabilitation & Integration u.a. für Personen im Autismus-Spektrum

Kostenlose Anmeldung unter
Autismus Hamburg e.V.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!

 

 

Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 13.3.2023

Kiki braucht Urlaub. Eventuell braucht sie ihn noch dringender als manche andere, allerdings denke ich auch gerade über eine gewisse Insel meines Vertrauens nach. Vielleicht zumindest mal ein Wochenende? Doch mal zu etwas kommen?

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Frau Herzbruch und Christian bloggen aus verschiedenen Kamerawinkeln über einen gemeinsamen Nachmittag. So etwas habe ich schon lange nicht mehr gelesen, dergleichen wurde früher allerdings öfter durchgespielt, denn früher war ja alles … ach, egal.

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Apropos früher: Die Kaltmamsell, die wiederum auf Texas-Jim verweist: – Wir waren zuerst da. An dieses Thema legt wiederum Christian in den letzten Absätzen an, wir bloggen gewissermaßen im Kreis und es ist sehr schön so. Finde ich.

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Frau Herzbruch vs. Lanz und Lobo. Ich glaube, es ist schon in Ordnung, dass ich kategorisch keine Talkshow jemals sehe, mein Problem mit der Fremdscham ist einfach zu groß dafür. Tatsächlich ist es dermaßen groß, dass mir oft schon Medienberichte über die Talkshows oder auch nur die zugehörigen und schier unvermeidlichen Infohäppchen auf Twitter oder Mastodon massiv unangenehm sind, belastend und runterziehend.

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Nils Minkmar greift in seinem wöchentlichen Newsletter den Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Wissen auf, am schönen Beispiel einer nächtlichen Fuchsbegegnung. Immer wieder ein wunderbares Thema, ich lande da auch öfter, einen Aspekt dazu hatte ich vor einiger Zeit etwa bei den ungesehenen Schilfrohrsängern auf Eiderstedt.

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Im Tagesbild geht es heute mangels anderer Eindrücke eher schlicht zu: Ranunkeln vor Raufaser. Was als Titel wiederum klingt wie etwas, das man auch in Klagenfurt vorlesen könnte. Ranunkeln vor Raufaser, Erzählungen, das müsste doch laufen, wie plausibel klingt das denn. Das mal als Buch anpeilen, da gestaltet sich dann auch das Cover wie von selbst, gleich ein Problem weniger in der Planung, es ist doch ein sehr einladender Gedanke. Aber keine Ahnung, worum es gehen könnte. Irgendwas ist immer.

Leuchtend gelbe Ranunkeln in einer Vase vor Raufaser.

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Mode und Manuskripte

Gesehen: Eine schöne Doku für den Freundeskreis Schriftfetischismus und Literatur über das Manuskript zu Victor Hugos „Les misérables“ auf arte, aus der Reihe „Abenteuer Manuskripte“. Nebenbei stelle ich mir bei so etwas wieder die Frage, ob eigentlich noch jemandem auffällt, dass die arte-Dokus oft auch in modischer Hinsicht interessant sind? Dass die Professorinnen, Archäologinnen, Kuratorinnen, Bibliothekarinnen, Forscherinnen etc., Männer sind hier stets mitgemeint, häufig sehr ausgewählte Kleidung tragen und mir keiner erzählen kann, die hätten da einfach nur irgendwas an, von wenigen Ausnahmen abgesehen? Ich finde das sehr faszinierend, auch im Wiedererkennungswert über Ländergrenzen hinweg. Der gleiche Kaschmirrolli in Kanada und in Frankreich, in England und Portugal, vergleichbare Erdfarben und austauschbare gediegene Hemd-Sakko-Kombinationen auf verschiedenen Kontinenten. Gäbe es eine arte-Doku über die Intellektuellen-Mode in arte-Dokus, ich würde sie sehen wollen. Und in gar nicht wenig Fällen würde ich es auch tragen wollen, zumindest das Zeug aus der Abteilung Herrenmode.

Wie auch immer. Aus dieser Reihe jedenfalls auch gesehen: Die Folge über das „teuerste Manuskript der Welt“, Kafkas Prozess, bei der ich besonders der tschechischen Übersetzerin zu ihrem Outfit gratulieren möchte. Vielleicht sollte generell wieder mehr Hut getragen werden, es hat doch was. In der Folge enthalten ist auch der Satz: „Kafka macht sich beim Schreiben keinen Plan, sondern lässt seiner Fantasie freien Lauf, auf die Gefahr hin, die Orientierung zu verlieren.“

Wie würden wir wohl Kafka finden, hätte er, wie es heute üblich ist, erst ein Exposé geschrieben, wochenlang geplottet, sich an die gängigen Regeln der meisten aktuellen Romane gehalten, mit Heldenreise und allem?

Und schließlich: „Alice im Wunderland“, Lewis Carroll. Es wird nur nebenbei angemerkt, aber ich finde es beeindruckend: Es ist ein Manuskript ohne Fehler.

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Was passt als Tagesbild dahinter, da nehme ich doch auch etwas mit Schrift, wenn wir schon dabei sind. Hier also das etwas melancholisch anmutende Werk eines Graffiti-Künstlers, der im Stadtteil gerade aktiv ist. Wir hatten lange nichts Neues mehr an den Wänden ringsum, es fällt sehr auf.

Ein gesprühter Schriftzug an einer Wand: Fuck the world

 

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After all is said and done

Freitag. Es schneit den ganzen Tag. Ich sehe nicht hin, ich setze mich mit dem Rücken zum Fenster, ich gehe bis zum Abend nicht raus. Einfache Lösungen immer bevorzugen.

Ich habe dennoch den ganzen Tag gefroren, Kälte von innen. Der Nachbar übt sich stundenlang in Gesang, „Heal the world“ singt er immer wieder auffordernd, ich höre es durch die Wand. Was soll ich noch alles machen, denke ich, und wieso überhaupt ich.

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Gelesen: Deutschland als Wiederabwanderland.

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Ein Sohn erwähnt beiläufig den Satz „Alles hat ein Ende nur die Wurst hat zwei“. Er weiß auch, natürlich wieder von Tiktok, dass es da einmal einen Song gab, irgendwann früher, in grauer Vorzeit, er weiß aber nicht, wer das gesungen hat. Ich kläre selbstverständlich gerne auf und verweise auf Stephan Remmler, und ich erläutere auch, denn Kulturgeschichte ist mir wichtig, den Zusammenhang zur Band Trio und benenne dann noch, wenn ich schon einmal dabei bin, deren größten Erfolge, die ihm allerdings auch nichts sagen. Es ist doch verhängnisvoll, dass die Kinder nicht mehr in verzweifelt langweiligen Nachmittagsstunden dem Plattenschrank der Eltern ausgesetzt sind, wie es noch bei uns regelmäßig der Fall war, wir geben auf diese Art einfach viel zu wenig weiter. An dieser Generation brechen sämtliche Traditionslinien ab und nein, das ist gar kein Witz, ich meine das ernst. Die smartphonedingte, jederzeit vollumfassende Gegenwärtigkeit lässt alles, was vor dem alllzu riesigen Heute lag, schlagartig verblassen und verschwinden, nur Tiktokscherben bleiben davon übrig, zwei Zeilen von Rick Astley hier, ein Refrain von Elvis dort, das ist alles. Und das ist verdammt wenig.

Ich spiele dem Sohn also zur medienunterstützten Belehrung „Da da da“ in voller Lautstärke vor, ich singe und spreche routiniert mit, wir haben es doch wahrlich in der Jugend gründlich genug gelernt.

Der Sohn hört einigermaßen irritiert zu. Der Sohn sieht mich dann lange und ernst an. „Ja“, sage ich schließlich in die lastende Stille nach dem Song, „so war das damals.“ Er nickt langsam, um Verständnis bemüht. After all is said and done, it was time for you to run, aber das sage ich schon nicht mehr laut, und ich erwähne lieber auch nicht, dass zwei der Bandmitglieder längst auf der anderen Seite sind. Die Söhne nehmen ohnehin an, dass ich nur Bücher und Lieder von Toten konsumiere. Womit sie weitgehend richtig liegen.

Den Rest des Tages habe ich dann immer wieder Songs von Trio im Kopf, es steht zu befürchten, dass ich alle Texte noch kann. „Los Paul, du musst ihm voll in die Eier haun, das ist die Art von Gewalt, die wir sehen wolln, wenn auch nicht spürn wolln.“

In dem folgenden Video benutzt der Herr Sänger ein Telefon mit Wählscheibe. So war das damals. So war es wirklich.

Im Bild des Tages noch schnell etwas Liebe. Diesmal ist es eine Aufnahme aus dem kleinen Bahnhofsviertel, da geht es manchmal und zumindest in manchen Straßen doch etwas netter zu als im unterkühlten Hammerbrook.

Ein Schriftzug "liebe" in grüner Farbe an einer Hauswand

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Kopfschmerzen und Komplikationen

Ich höre auf dem Weg ins Büro Theodor Storm, „Carsten Curator“, die Geschichte eines Niedergangs, ein charakterlich etwas labiler Sohn ruiniert in der Novelle die Familie. Storm hatte da, sehe ich in der Wikipedia, präzise Bezüge zum eigenen Leben. Meine eigenen Söhne ruinieren derweil in ihrer Ferienlässigkeit meine Ordnung in der Küche, da kann ich beim fortgesetzten Hören am Abend gleich noch besser mitfühlen.

In der Wikipedia heißt es noch: „In konservativer Sicht der Dinge beschreibt Storm den Untergang einer alten, scheinbar in sich gefestigten Welt im Austausch gegen eine schnelllebigen und riskanten Geschäften zugeneigte, die Menschen einander entfremdende Epoche, wie sie mit der Industrialisierung des neunzehnten Jahrhunderts immer mehr an Präsenz gewann. Immer wieder stellt der Autor den Gegensatz zwischen der verlockenden und mit der Zusicherung von Anonymität verführenden Metropole Hamburg und der sozialen Kontrolle aber auch Geborgenheit und Fürsorge verheißenden Inselidylle gegenüber. Letzten Endes lässt er die Ära der Romantik gegen das Haifischbecken des anbrechenden Frühkapitalismus scheitern und bekennt sich damit zu einer realistisch-nüchternen Beurteilung der unvermeidlichen gesellschaftlichen Entwicklung.“

Denksportaufgabe für Angehörige etwa meiner Generation und etwas jüngere Menschen, sofern sie aus kleineren Städten und Dörfern stammen: Spielten die vom Storm herausgearbeiteten Unterschiede zwischen der alten, scheinbar so gefestigten Welt und der schnelllebigen, riskanten Großstadt auch in Ihrem Leben eine Rolle, als sie nach der Schule die Heimat verlassen haben, um in der Millionenstadt zu studieren oder zu lernen? Spielten sie vielleicht sogar die gleiche Rolle wie in der Novelle und wie stehen in diesem Sinne Frühkapitalismus und Neuer Markt zueinander? Erörtern Sie.

Die Herzdame ist währenddessen schon wieder unterwegs und tobt sich beruflich erneut in Dortmund aus, wenn es so weitergeht, wird sie noch eine Kennerin dieser Gegend da. Ich dagegen war im Bürogebäude meiner Firma mal in einem Stockwerk höher als sonst, in einem anderen Konferenzraum als gewohnt, und ich hatte da schon dieses leicht anregende Gefühl, in einer anderen Gegend zu sein. Guck mal, der Ausblick aus dem Fenster ist von hier ganz anders. Ich muss dafür also nicht einmal nach NRW, auch gut.

Auch diese Woche war ansonsten unfassbar anstrengend, jeder Werktag fühlte sich an wie zwei oder mehr. Kopfschmerzen und Komplikationen, Herr Buddenbohm blieb dennoch stets bemüht.

Im Bild heute ein Aufkleber in Hammerbrook, er klebt an einer der vielen eher unschönen Ecken. Nein, das ist Unfug, Hammerbrook besteht überhaupt nur aus unschönen Ecken, Hammerbrook ist eine unschöne Ecke, da gibt es nichts. Um diese spezielle Betonecke herum war lange das Lager eines Obdachlosen, denn unter der Treppe ist es wenigstens trocken, wenn schon nicht warm. Ein paar Meter weiter die an eine Mauer gesprühte Aufforderung an die Massen, sich zu erheben. Die Massen, in der Ausprägung der Sachbearbeitungsarmee aus den Konzernzentralen, gehen werktags allerdings vollkommen unbeeindruckt vom Appell jeweils zum Dienstantritt und zum Feierabend an dieser Schrift an der Wand vorbei.

Denn so ist es mit den Massen, sie machen meist eher nicht, was man gerade möchte. Schlimm.

Ein Aufkleber an einer Betonwand in Hammerbrook, Aufschrift: "Sex, Drugs and Aufkleber!"

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 9.3.2023

Eine vermutlich vollkommen berechtigte Warnung vor unseren Datenspuren und deren Auswertung. Aber was ist die Lösung? Also abgesehen vom Rückzug ins Offline, in Bücher, Schallplatten und Hütte im Wald? Wie angenehm im Nachhinein der Gedanke, dass in meiner Generation wenigstens nicht das ganze Leben online abbildbar ist, dass die Jugenddummheiten in keinem Stream nachzulesen sind, auch etliche spätere Dummheiten nicht. Die Dummheiten von gestern und vorgestern und von vor zehn Jahren, sie sind doch wahrlich schon belastend genug, selbst im eigenen Blog.

Auch bei der Frage der Bargeldablösung bin ich übrigens etwas konservativer, als ich es früher vielleicht selbst von mir erwartet hätte, mir ist der Gedanke nicht angenehm, alle digital getätigten Käufe meines Lebens als File abrufbar zu haben. Es ist eine ausgesprochen unschöne Vorstellung und ich sehe einfach nicht, wie man derlei verhindern kann. Ich würde auch keiner staatlichen oder sonstigen Zusage in Richtung Datenschutz glauben können, nicht einmal ansatzweise.

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Claudia hat keine Lust mehr und bringt es in aller Deutlichkeit zum Ausdruck. Mich stört es noch mehr beim Lesen als beim Schreiben, dass man online so gut wie nichts mehr lesen kann, ohne an unfassbar dummen und hasstriefenden Kommentaren mehr oder weniger mühsam vorbeisehen zu müssen, das ist schon etwas anstrengend. Wie gut übrigens, dass bei Hörbüchern noch keine Kommentare der Userinnen mit vorgelesen werden, ich würde sonst ein weiteres Medium verlieren.

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Die letzte Ausgabe der Lage der Nation (Podcast) wiederum mit langen Erläuterungen zur überaus seltsamen Politik der FDP. Es ist dem Moderatorenduo hoch anzurechnen, wie bemüht sie bleiben, darin noch irgendeinen Sinn zu entdecken.

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Ich habe für das Goethe-Institut wieder etwas über alles geschrieben: Hier entlang.

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Mitteilungen aus dem Bach-Fanclub. Ich möchte da eben noch eine Ustinov-Version anhängen, die ist auch wichtig und passt schön:

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Brache und Winterruhe

Am Dienstag fuhr ich kurz in den Garten, um die Biotonne an den Straßenrand zu stellen. Sie ist nach nur wenigen Jahren Benutzung kaputt und wird getauscht. Früher hat so etwas länger gehalten! Das stimmt selbstverständlich nicht, früher gab es gar keine Biotonnen, wir hatten ja nichts. Es war mir jedenfalls noch zu kalt, um im Garten etwas zu tun. Es sah zwar nicht so aus, die Sonne schien, blauer Himmel wonniglich, lieblicher Vogelgesang aus den noch kahlen Hecken, aber der Wind war eisig und dummerweise überall. Auch bei den Nachbarn überall noch Brache und Winterruhe, überkrautete Beete, tote Stauden, angekippte Gartenmöbel unter grünbemoosten, brüchigen Planen. Die Gartensaison wird etwas später starten in diesem Jahr, und das macht nichts, denn ein Garten ist ja nicht dazu da, uns zu stressen, wenn ich es recht erinnere. Man kann ohnehin noch kein Wasser anstellen, die Leitungen würden uns nachts einfrieren und dann platzen, es gibt also keinen Kaffee in der Laube. Nein, ich kann so wirklich nicht arbeiten.

Ich gehe zu Fuß nach Hause zurück, 8.000 Schritte, ich kaufe auf dem Weg ein. Es kommt mir so vor, als seien ein paar Artikel in den letzten Wochen noch einmal deutlich teurer geworden, etwa Süßigkeiten. Die Quengelware an der Kasse wird so zur Nörgelware für die Haushaltsbudgetverantwortlichen. Aber mittlerweile kann ich mich da manchmal auch irren. Allmählich doch deutliche Schwächen im Preisgefühl. Was kostete das früher und wann war früher überhaupt? War das immer schon so? Na, vermutlich war es anders. Ganz anders.

Im folgenden Bild noch einmal Hammerbrook, die letzten Meter auf dem Weg zu meinem Büro, aufgenommen von der Überführung zur Bahn aus. Rechts die S-Bahnstation Hammerbrook, die zur Bauzeit sicher wahnsinnig futuristisch anmutete, die heute noch auffällt. Bis zum Zweiten Weltkrieg stand ungefähr dort, wo jetzt die Bahnen halten, die zerstörte Kirche St. Annen, man hält also mit etwas Fantasie im ehemaligen Kirchenschiff. So sah es dort direkt nach dem Krieg aus, man sieht auf dem alten Foto die Ruinen der Kirche. Das Fleet vorne mit den Trümmern an den Ufern ist auf meinem Bild gestern im Blog der Abschnitt mit den Bürogebäuden und den schicken Hausbooten.

Die Hammerbrookstraße auf Höhe der S-Bahnstation Hammerbrook

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Süd, Südwest

Es kommt Sturm auf, höre ich am Dienstagmorgen, es heult ums Haus und die Badezimmertür klappert laut, es saust dazu gespenstisch in der Lüftung, so sehr zieht es in der Wohnung, durch die Wohnung. Auch andere seltsame Geräusche höre ich auf der Etage, knarrende Türen, klappende Fenster, der November hängt uns im Soundtrack weiterhin nach. Windstärke 10 draußen an der Küste, so melden es die Wetterdienste, aber für uns in der großen Stadt ist heute auch noch etwas übrig. Möwen in Höchstgeschwindigkeit am Himmel, in großem Bogen um die Kirche herum, deren Wetterfahne unruhig rüttelnd Süd, Südwest anzeigt.

Unten auf dem Spielplatz halten Einsatzfahrzeuge der Stadt, vom Gartenbauamt, nehme ich an. Männer in Orange steigen aus und fegen und harken mal durch, routiniert wirkt es. Ich sehe das gerne, es sieht so nach funktionierendem Staat aus, nach regelmäßigen Terminen und geordnetem Ablauf, es wird sich gekümmert, es wird gepflegt. Mein innerer Wertkonservativer findet das gut und richtig.

Am Nachmittag stehe ich mit Sohn II vor den Auslagen einer Bäckerei im Bahnhof, weil ich den Eindruck hatte, eine Rumkugel würde dem Tag jetzt guttun. Noch während ich mein Rückgeld wegstecke, bestellt der Mann hinter uns in offensichtlicher Eile, sich an uns vorbeidrängend und in energischer, sehr bestimmter Tonlage: „Ich bekomme ein Hanseatenherz!“ „Also meines nicht“, sage ich. Immer alles absichern, immer auch Grenzen setzen.

Gehört: „Der kleine Muck“ von Wilhelm Hauff, das sagte mir eher nichts. Dann „Amerikanisches Tagebuch“ von Siegfried Lenz, gelesen von Burghart Klaussner, das Journal seiner Reise durch die USA im Jahr 1962, zur Zeit der Kubakrise. Er schreibt da unter anderem, dass sich angesichts der Gefahr auch die Opposition hinter die Entscheidungen des Präsidenten stelle, ein Szenario, das heute gar nicht mehr denkbar ist. Aber auch sonst ist das, was er beschreibt, sehr vergangen, in nahezu jedem Aspekt. Nur die aus deutscher Sicht auffällige Smalltalkfreundlichkeit bei Alltagsbegegnungen, die ist wohl heute noch erlebbar. Interessantes Buch, gerne gehört, und es ist noch etwas übrig.

Apropos Hörbuch, Heinz Baumann ist gestorben, es gibt von ihm eine sehr gute Aufnahme von „Ansichten eines Clowns“, Heinrich Böll. Empfehlenswert.

Im Tagesbild noch einmal Hammerbrook. Rechts liegen Hausboote, wobei Boot ein etwas trügerischer Wortbestandtteil ist, es sind eher modern überbaute Badewannen der größeren Art, die mit Booten rein gar nichts mehr zu tun haben, von der Schwimmfähigkeit einmal abgesehen. An den Ufern des Fleets stehen ausschließlich Bürohäuser. Dieses Viertel wurde im Zweiten Weltkrieg komplett ausradiert (Hamburger Feuersturm bzw. Operation Gomorrha, 1943) und dann nicht als Wohngebiet wieder aufgebaut, die Flächen wurden nur gewerblich genutzt. Erst in den letzten Jahren entstanden dort wieder Neubauten mit Wohnungen. Man kann annehmen, dass es wieder ein Wohngebiet wird, wenn man nur weit genug vorausdenkt. Eine Entwicklung Gebäude für Gebäude ist das, die sich in den letzten Jahren etwas beschleunigt hat, es gibt seit kurzer Zeit auch einen ersten Supermarkt in der Gegend. Gleich nebenan die Hafencity und das kleine Bahnhofsviertel, aber im Bewusstsein der meisten Menschen in Hamburg ist Hammerbrook weiterhin eine Nichtgegend. Man fährt nur manchmal durch, wenn man von der Autobahn kommt oder zum TÜV hinten im Gewerbegebiet muss, man sieht kaum hin dabei und nachts, das weiß man, nachts möchte man da ganz sicher nicht herumlaufen.

Blick über einen Fleet mit Hausbooten in Hammerbrook

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Dünnhäutig und unduldsam

Montag. Der Wetterbericht wirkt weiter unbemüht, copy and paste des Immergleichen im Endlos-Loop. Ich bin unzufrieden damit, alle sind unzufrieden damit. Am Morgen sehe ich weiße Flecken unten auf dem Spielplatz, heimlich gefallener Nachtschnee in der Sandkiste und auf den schwarzen Ästen der Eiche. Der wird nicht bleiben, der wird im Laufe des Vormittags noch wegschmuddeln. Die Woche geht mir zwei Stunden nach dem Aufwachen und den ersten paar gelesenen Mails und Nachrichten schon gewaltig auf die Nerven, womöglich bin ich etwas dünnhäutig und unduldsam. März eben.

Bundeskanzler Scholz, ich lese es in den Nachrichten, hat eine positive Bilanz seiner Regierungsarbeit gezogen. Da hat er mir entweder etwas Selbstbewusstsein voraus oder einen gewissen Mangel an Einsicht, ich könnte nicht einmal eine positive Bilanz des letzten Wochenendes ziehen, und das verlief ziemlich normal. So verschieden fallen wir Menschen aus, so verschieden urteilen wir.

Den Radetzkymarsch habe ich immerhin plangemäß und mit höchstem Genuss am Sonntag durchgehört, die Kapuzinergruft, die wesentlich kürzer ist, dann noch wenigstens halb, letztere gelesen von Peter Matic. Die Szenerie der Romane liegt teils in einer Gegend, in der heute wieder geschossen wird, ich werde den Gedanken beim Lesen nicht los. Ich kenne die Bücher schon, ich habe beim ersten Lesen als junger Erwachsener aber sicher nicht daran gedacht, dass Schießen und Kriegstote dort bald wieder gegenwärtig sein könnten. Sehr weit weg war das alles, die Gegenden, die Menschen, die Toten, die Kriege. Ich habe ohnehin erst spät im Leben, das schrieb ich schon einmal, verstanden, wir kurz vor meiner Geburt der letzte Weltkrieg endete, wenn man es in Geschichtsbuchmaßstäben betrachtet. Die paar Jahre Abstand, wenn ich die an mein Erwachsenenleben anlege, dann war das keine enorm lange Zeit. Wie überzeugend die Erwachsenen in meiner Kindheit dargestellt und sich vermutlich auch selbst und gegenseitig geglaubt haben, dass es alles unvorstellbar lange her war, so lange her, dass sich kaum noch jemand an irgendwas erinnern konnte.

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Gestern erwähnte ich kurz das geschlossene Schuhgeschäft im Hauptbahnhof, heute lese ich prompt in einer Meldung: Mehr als jedes zehnte Schuhgeschäft wurde im vergangenen Jahr geschlossen, so sagt es der Handelsverband. 13% der Geschäfte seien in einem Jahr verschwunden, es geht also schnell. Wenn Sie ein Schuhgeschäft in Ihrer Nähe haben, vielleicht einmal nachsehen, ob es wirklich noch da ist.

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Pro Tag ein Bild, auch mal irgendeinen Beschluss fassen, der mich ohnehin zu nichts verpflichtet – Vorteil Blog. Hier völlig zusammenhanglos ein Bild aus Hammerbrook, also aus der Gegend, in der das Büro ist, in das ich im Moment zweimal in der Woche gehe. Die anderen Tage bleibe ich im Home-Office, für mich ist das eine angenehme Mischung, das kann meinetwegen so bleiben. Ich bin damit vermutlich erneut tief im Mainstream, nehme ich an, denn das wird doch wieder so etwas Mehrheitsfähiges sein, die Zwei-Tage-Büro-Gesellschaft. Warum die S-Bahn dann morgens aber stets so voll ist wie vor der Pandemie – auch wieder rätselhaft. Wo fahren die denn alle hin? Oder gehen wir jetzt alle gleichzeitig jeweils am Mittwoch ins Büro? Das wird es vielleicht sein. Der Mensch macht, was die Menschen machen.

Häuserfronten an einem Fleet in Hammerbrook, leichter Nebel über dem Wasser, Morgenstimmung

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