Weißes Wirbeln

Gelesen: Es gibt eine neue Monatsnotiz von Nicola. Immer lesenswert.

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Gesehen: Diese Dokumentation auf arte über Simone Signoret. „Das ist Luxus: Nichts zu tun, was mich langweilt.“ Es sind mehr, es sind viele Sätze darin, die man zitieren möchte, zu viele, und es gibt dazu noch großartiges Bildmaterial. Sie werden es selbst ansehen müssen und es wird sich lohnen. Nehme ich an. Mit großem Interesse gesehen.

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Manchmal ist es interessant, wenn man bei irgendetwas richtig lag –so schrieb ich neulich in dem Text „Spiegelungen des Verfalls“ über Schlaglöcher und Schäden an der Infrastruktur, jetzt sehe ich beim NDR: „Deutlich mehr Unfälle durch Schlaglöcher in Hamburg.

Denn, wie immer wieder festzustellen ist, es ist aufgrund der eingeschränkten Stichprobe eben nicht selbstverständlich, dass man richtig liegt.

Eine Beobachtung kann ich ergänzen, wenn auch noch nicht recht deuten. Hier wurde gerade an einer Straßenecke etwas gearbeitet, die Verkehrsführung leicht geändert, und die Qualität und Ausführung dieser Arbeit ist im Ergebnis seltsam. Sie ist eher so, wie man es per Klischee früher südlicheren Ländern zugeordnet hätte, merkwürdig improvisiert und ungenau, etwas unbeholfen und unfertig aussehend. Vielleicht gehört das zu diesem Infrastrukturthema dazu, dass wir, also wir als Gesellschaft, auch die Reparaturen jetzt nicht mehr so können und ausführen, wie wir es früher einmal konnten. Vielleicht ist es aber auch nur Zufall, was ich da sehe.

Und vielleicht gibt es in ein paar Wochen einen Bericht im NDR dazu. Ich kann nicht mehr tun, als das zu beobachten, was vor der Haustür passiert, und das ist merkwürdig genug.

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Am Sonntagmittag fahren wir in den Garten, nachdem ich mit einem Sohn noch etwas über das Grundgesetzt gesprochen habe, für die Schule. Dabei immer die alte Degenhardt-Zeile im Ohr: „Ja, Grundgesetz, ja, Grundgesetz, ja, GrundgesetzSie berufen sich hier pausenlos aufs Grundgesetz – Sagen sie mal, sind sie eigentlich Kommunist?“ Aus der Befragung eines Kriegsdienstverweigerers war das, sehr damals. Ich halte an mich, den Sohn nicht mit Geschichten aus grauer Vorzeit zu belästigen, aber es ist nicht einfach.

Im Garten (was dann übrigens ein Liedtitel von Hannes Wader ist, aber das nur am Rande). Alle Obstbäume blühen, die Tulpen auch, sogar schöner denn je, die Magnolie gerade eben noch, dazu einige frühe Blumen in den Beeten, Beinwell, Vergissmeinnicht und andere. Das Gras steht üppig hoch, denn der Rasenmäher ist zur Reparatur, und das saftige Gras ist geradezu unglaubwürdig grün im Mittagslicht. Die Sonne scheint und der Garten sieht fantastisch aus, maien- und märchenhaft, aber während wir noch begeistert hinsehen, kommt mehr und mehr Wind auf, und der wird kälter und kälter. Bald fliegt es um uns weiß wie Schnee wirbelnd durch die Luft, es sind die ersten abgefetzten Apfelbaumblüten, die Kirschbaumblüten. Die Kaltfront rollt schon heran und wird zehn Tage oder länger bleiben, ein ungebetener Gast. Fisch und Besuch riechen nach drei Tagen, pflegte meine Mutter zu sagen, aber was kümmert das eine ausgewachsene Kaltfront.

Nur in der Laube ist es noch warm, zu warm sogar, es wird einem heiß beim Schreiben am Tisch. Noch etwa zwei, drei Stunden lang wird es so sein, dann wird sich auch das für eine Weile erledigt haben.

Auf dem Weg zurück zur U-Bahn später sportliches Gehen, sonst wird es schon zu frisch.

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Es geht immer noch etwas

Am Sonnabendmorgen frühes und allgemeines Aufstehen, es gibt Gemeinschaftsarbeit im Schrebergarten, eine jährliche Pflicht. Außerdem ist ein Sohn, wiederum dank Deutschlandticket, ausflugsorientiert und reist zeitig los, ein ungewohnter Schnellstart ins Wochenende für alle.

Für die Gemeinschaftsarbeit, einige Stunden Unkrautbeseitigung vor dem Vereinsheim, können die Herzdame und ich uns, wir man an dem Wortteil Gemeinschaft schon sieht, einen Demokratiepunkt vergeben, von denen man als Grundgesetzultra im Laufe des Jahres nach Möglichkeit einige sammeln sollte, wie ich finde. Zwei haben wir uns in den letzten Monaten schon für Elternabende gegeben, denn auch die zählen, da sind sogar Wahlen dabei. Wobei ich mir praktischerweise die Regeln für dieses Spiel selbst mache und allein entscheide, was zählt, das ist manchmal ein Vorteil.

Nach der Gartenarbeit, wie immer nach der ersten Großaktion im Grünen im Frühling, ein überwältigendes Erschöpfungsgefühl, wie nach einem gerade gelaufenen Marathon, vollkommen unangemessen für ein wenig Herumwühlen in der Erde. Die Herzdame und ich hängen stöhnend und ächzend in den Seilen, und ich gehe im Geiste schon die mir bekannten Orthopäden durch, welchen nehme ich denn diesmal.

So ist es allerdings stets, wenn die Saison beginnt, nach den ersten Stunden denkt man, dass man in diesem Jahr vielleicht einfach nicht mehr kann, aber das gibt sich bald. Ein Garten ist ein äußerst effektives Fitnessstudio.

Zu dieser Gemeinschaftsarbeit gehört auch verlässlich die Erkenntnis, dass es ältere, auch viel ältere Menschen gibt, die deutlich fitter sind als man selbst. Man sieht aus dem Augenwinkel etwa, wie sie sich nach einem Gartengerät bücken, als sei Bücken ganz einfach. Machen die seit dreißig Jahren Yoga oder was, sie sind gar nicht der Typ dafür.

Man kann es, mit etwas Fantasie jedenfalls, motivierend finden. Es geht immer noch etwas.

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Nachmittags Treffen mit Menschen aus dem Internet. Wie damals, vor achtzehn Jahren oder so, als dieses Online noch ziemlich neu war und wir uns alle kennenlernten, auch genau so erfreulich, nur dass wir jetzt eben zu dem Tisch gehören, an dem die Truppe mit den grauen Haaren sitzt.

Und dass wir einen ausgesprochen lauen Sommerabend in der Außengastro im April haben – es erwähnt niemand, aber wir hätten es selbstverständlich mehrfach betonen können, dass es das früher so nicht gab, dass früher alles anders war. Aber wir haben uns alle so weit im Griff.

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Kleine Sonnen für den Hausgebrauch

Ich werde mir als neues Lieblingsspezialwissen merken, dass die Wehrmacht Spalier stand, als die ersten Waschbären 1934 in Deutschland ausgewildert wurden (Audio, 5 Minuten). Im Grunde Braunbären.

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Beim Einkauf etwas über die Geschichte der Mode gehört, genauer über die Mode des Empire, bzw. des Directoire (23 Minuten). Dass die Frauen ihre hauchdünnen Musselinkleider damals auch im Winter trugen und deswegen reihenweise krank wurden – in der Kulturgeschichte der Mode könnte ich mich gerne auch längere Zeit verlieren, ein so anziehend abgründiges Thema.

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Weiße, etwas abstoßend leichenhaft wirkende und trostlos hinsinkende Tulpen entsorgt und stattdessen stramme, sattgelbe Ranunkeln gekauft. Mehr Farbe auf dem Wohnzimmertisch. Leuchtfeuer vor Raufaser, kleine Sonnen für den Hausgebrauch.

Und falls Sie auch immer wieder darüber stolpern – man kann auch Rauhfaser schreiben. Rechtschreibreform und so. Wikipedia-Ergänzung: „Die Raufasertapete gilt auch in England als Inbegriff des Kleinbürgertums und zieht sich leitmotivisch durch die 1995 erschienene Single Disco 2000 der englischen Popband Pulp (Your house was very small / With woodchip on the wall).“

Woodchip, die Vokabel hätte ich nicht gewusst. Nun gründlich abgespeichert.

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Mit einem Sohn über eine Kurzgeschichte von Wolfgang Borchert gesprochen, zur Vorbereitung auf eine Deutscharbeit. Die Küchenuhr heißt die Geschichte, bestimmt vielen aus der Schulzeit bekannt, es geht um das, was bleibt, wenn ein Haus in Trümmern liegt, zerbombt wurde, mit den Menschen darin, es geht um einen Überlebenden, was er noch hat und was es ihm bedeutet, nämlich einzig die titelgebende Küchenuhr, aus dem Schutt geborgen.

Man müsste kein einziges Wort ändern, um diese Geschichte heute in der Ukraine oder einem anderen Kriegsgebiet spielen zu lassen, kein einziges Wort. Die Geschichte ist durch Zeiten und über Grenzen hinweg gültig.

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Abends im Bett dann noch mehrere Liebesgeschichten von Adolf Muschg gelesen und gut gefunden. Texte aus den frühen Siebzigern des letzten Jahrhunderts. Ich bilde mir ein, dass man in denen noch eine Ruhe des Nachdenkens und Schreibens liest, die wir mittlerweile beim Lesen und Verfassen von Texten verloren haben. Das auch schon so bei der Kaschnitz neulich gedacht. Man kann es anhand der Grammatik nicht oder kaum beweisen, aber die Sätze hatten damals entschieden mehr Zeit, sich Wort für Wort aufzubauen.

Vielleicht lässt es sich auch schlicht mit der Entwicklung der Schreibgeräte erklären. Wahrscheinlich wird es so sein. Die Hast der huschenden Finger auf Computertastaturen, es ist etwas Grundsätzliches.

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Normalgestimmt in die Büros

Auch einmal eine gute Nachricht: Hamburger Schülerinnen bekommen ein kostenloses Deutschlandticket. Das finde ich richtig. Die Kinder früh anfüttern und abhängig machen, den ÖPNV als Droge sehen. So muss das.

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Am Mittwoch Office-Office in Hammerbrook. Auf dem Weg dorthin sehe ich am Morgen viele festlich gekleidete Menschen, die das Ende des Ramadans feiern, Eid al-Fitr. Teils zeigt man sich da bunt, glänzend und auffällig gewandet, golddurchwirkt und brokatbeladen. Kinder sehe ich, die ihre neuen Kleider oder Anzüge mit sichtlichem Stolz und Vergnügen tragen. Sie haben heute schulfrei, nach Bedarf, wenn die Eltern das möchten.

Auffällig sind, wie schon im letzten Jahr notiert, auch manche Familienverbände im generationenübergreifenden Partnerlook, alle Kleider aus einem Stoff geschneidert und vermutlich selbst gefertigt, aber das ist nur geraten. Die ganze Familie in einem einheitlichen Look jedenfalls. Dazu fällt mir keine norddeutsche Entsprechung ein, so eine Tradition haben wir nicht oder falls doch, etwa bei den Trachten, ist es zu lange her für mich.

Die Familien, die ich heute sehe, die mit ihrer Kleidung so auffallen, die machen das jedenfalls mit großer Freude, man sieht es ihnen an, wie überhaupt festzuhalten ist, dass diese Feierwilligen durchweg gut gelaunt aussehen. Besonders im Gegensatz zu den anderen Menschen, die lediglich normalgestimmt in die Büros ziehen, wo es vermutlich wieder nichts zu feiern gibt.

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Auf dem Fleet vor dem Büro schwimmen vier attraktive Brandgänse und zwei elegante Haubentaucher (Wikipedia: Zu den Balzelementen gehören ein heftiges Kopfschütteln mit gespreizter Federhaube sowie die sogenannte Pinguin-Pose, bei denen sich die Vögel durch rasches Paddeln der Füße fast senkrecht voreinander aus dem Wasser heben). Es versöhnt mich heute etwas mit Hammerbrook, diesen schön designten Vögeln zuzusehen, wie sie sich umkreisen, bebalzen und Manöver schwimmen.

Und die Pinguin-Pose! So etwas können wir Menschen nicht, wie man bedauernd feststellen muss, das muss man im Wasser gar nicht erst versuchen.

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Mittelmäßig bis mau

Ich danke sehr für die Zusendung von Reiner Stachs Kafka-Biografie, dem Band über die frühen Jahre (es ist dieses Buch). Es lag diesmal kein Zettel dabei, der Dank geht also vage in die Runde und wird die richtige Person hoffentlich treffen. Ich freue mich auf die Lektüre, es geht demnächst los.

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Am Dienstag fällt die Temperatur in wenigen Stunden in etwa vom leichten Polo-Shirt bis runter zum dicken Rollkragen, es ist ein spürbar steiler Abstieg. Die Balkontür also grummelnd doch wieder schließen und erneut zum Kleiderschrank gehen, die warmen Sachen noch einmal hervorholen, alles zurück auf 12-Grad-Normalbetrieb regeln. Nur an der Heizung kurz etwas zögern, als stets Sparsamkeit vorlebendes Elternteil. Man hat so seine Verpflichtungen.

Draußen sehe ich dann ab der Mittagszeit deutlich frierende Menschen auf den Straßen, die am noch warmen Morgen wohl dem Wetterbericht nicht recht geglaubt haben, die immer noch allzu leicht bekleidet sommerlich herumlaufen. Teils sehen sie bedauernswert aus, die so klar erkennbar unentspannten Fröstelgestalten, besonders im Regen, und ihre sinnlosen Sonnenbrillen machen es nicht besser.

Mit einer konservativen Schätzung des Verlaufs und der Ergebnisse macht man bei vielen Themen weniger falsch. Eine alte Controller-Weisheit, auch beim Wetter anwendbar.

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Dann Home-Office und Haushalt. Es ist an diesem Tag alles etwas öde, unbefriedigend und nur mittelmäßig bis mau. Manchmal kann ich solche Tage entspannend und beruhigend finden, manchmal kann ich das nicht, Sie werden es vermutlich kennen. Die Frage, ob Routinen ein sicheres Geländer im heimeligen Alltag oder doch belastende Einschränkungen in der grauen Ödnis des ewigen Immerwieders sind, sie entscheidet sich jeweils nach der seelischen Tagesform, nicht etwa nach den Ereignissen und dem Verlauf der Stunden.

Man kann philosophisch Tiefgreifendes daraus ableiten oder man kann es bleiben lassen. Morgen ist auch noch ein Tag, allerdings vermutlich ein ähnlicher.

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Gehört beim Schnippel des Gemüses für eine Maultaschensuppe: Eine Folge Radiowissen über den Zoroastrismus. Sinngemäß wurde darin gesagt, dass man gar keine Religion brauche, wenn man gut denke, rede und handle, es sei dies der eigentliche Kern dieser Richtung. Das fand ich sympathisch, obwohl man es auch so deuten könnte, dass in diesem Fall mit großer Sicherheit alle eine Religion brauchen, schon klar. Danach vertiefend noch: Zarathustra und die Parsen. Jetzt wieder bereit für deutlich weltlichere Themen.

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Alles muss man neu singen

Am Montag Home-Office bei offener Balkontür und lauer Luft. Auch das Arbeitsgefühl ist jetzt jahreszeitlich irritiert, das passt hier alles nicht mehr recht zusammen. Ist es Sommer, ist es Frühling, laut Wetterbericht wird es ab morgen schon wieder herbstlich. Nur den Winter, den können wir allmählich ganz ausschließen.

Ein Sohn hat nach frühen Prüfungen frei und fährt schon am Vormittag in den Garten. Dezenter Neid, zumal er sich dort erfolgreich mit drei Stockenten anfreundet, die ihm dann traulich aus der Hand fressen. Es gibt Momente, da finde ich so etwas deutlich attraktiver als meine Arbeit, es ist ganz seltsam.

Währenddessen vor dem Balkon, ich gehe zwischendurch nachsehen: Der April ist gekommen, die Bäume schlagen aus. Komm, lieber April, und mache den Spielplatz wieder grün.

Alles muss man neu singen, und es sind hier und da Textanpassungen erforderlich.

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Gehört: Eine Folge von Radiowissen über die DDR-Literatur: Rückkehr, Aufbau, Kritik. 23 Minuten. Ich habe bei der DDR-Literatur größere Bildungslücken, aber z.B. die Reimann-Tagebücher haben mich doch nachhaltig beeindruckt.

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Den Thomas Wolfe, „Schau heimwärts, Engel“, habe ich erfolgreich durchgelesen, der dickste Roman seit längerer Zeit war es, und ich habe ihn wieder zurück in den öffentlichen Bücherschrank gestellt. Dafür von dort einen Adolf Muschg mitgenommen, Liebesgeschichten aus der Schweiz im schmalen Suhrkamp-Band. Ein sicher etwas seltsamer Tausch, aber so geht dieses Spiel nun einmal. Man muss im Geiste flott hin- und herschalten können, zumal auch die Clarice Lispector noch hier herumliegt, die wiederum vollkommen anders schrieb.

Im Wikipedia-Artikel zu Muschg sehe ich, dass er extremer Hypochonder ist: „Mit Selbstironie erzählt er von seiner nachgeholten Hochzeitsreise 1968 auf einem Frachtschiff, wie er zum Schrecken des Kapitäns wurde, als er, einige Tage vom nächsten Hafen (und Krankenhaus) entfernt, behauptete, er habe einen vereiterten Blinddarm, der sofort operiert werden müsste. Der Erste Offizier liess sich die Symptome schildern, gab sie per Funk an eine Klinik in Danzig weiter und kam dann mit der beruhigenden Mitteilung zu Muschg, es sei kein Blinddarmdurchbruch, sondern ein Magenkrebs, und der liesse noch viel Zeit für eine Operation. Muschg aber war kerngesund.“

Immer schön, wenn andere in gewisser Hinsicht noch seltsamer sind als man selbst. Auch so etwas kann trostreich sein, auch an so etwas kann man sich manchmal etwas aufrichten.

Und apropos Aufrichten, ich danke für die Trinkgelder in den letzten Tagen, es war mir eine helle Freude.

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Man möchte einen Besen holen

Im Garten, auf der Terrasse vor der Laube, am Sonntag, der auch noch üppig warm ist. Die Blütenblätter der Magnolie fallen schon, es ist immer eine kurze Freude an der Purpurpracht, wenige Tage nur. Und die schweren Blüten fallen mit einem ausgesprochen uneleganten Geräusch auf den Boden, mit einem etwas ordinär anmutenden *platsch*, das nicht recht zu dem so kunstreichen Blühen passen will. Es deutet sich in diesem Geräusch schon an, wie es bald weitergehen wird, denn das mit dem Verfall, das kann die Magnolie nicht so gut, bei aller Liebe nicht, das ist nun einmal nicht ihr Metier. Was unter ihr herumliegt, dieses abgetragene, fortgeworfene Zeug, das sieht schon nach kurzer Zeit eher nach Schmuddel und Restmüll aus, nicht nach den dekorativ sanft vergehenden Resten eines großen, berauschenden Frühlingszaubers.

Man möchte einen Besen und einen Plastiksack holen, nicht die Kamera.

Auf der anderen Seite der Laube öffnet währenddessen der Flieder in der Nachmittagssonne die Blüten. Alle paar Minuten sehe ich eine Blüte mehr an dem Strauch, es ist fast so, als müsste ich auch zusehen können, wie sie aufgehen, aber es geschieht dann aber doch zu zeitlupig für mich. Wenn man nah genug an diesem Flieder vorbeigeht, dann ist schon etwas vom Duft zu ahnen, ein dünner Strich von Maiparfüm nur, es ist eine schwache, süße Ahnung in der Luft.

Und nachdem ich neulich stundenlang auf den Gimpel gewartet habe, sieht die Herzdame ihn heute prompt im Vorbeiflug, aber ihr „Guck mal! Guck mal!“ kommt zu spät für mich. Ich sehe ihn wieder nicht, nicht einmal den Schatten eines Flügels sehe ich. Ich fühle mich allmählich etwas vergimpelt von diesem Vogel, aber ich werde ihn im Laufe des Sommers schon noch erwischen. Warte, warte nur ein Weilchen.

Ich mache Kaffee, den ersten Gartenkaffee in diesem Jahr. Wir haben das Wasser wieder angestellt, wir kümmern uns um die Saisonanfangsmaßnahmen.

Ich lese später im Gartenstuhl den Anfang von „Nahe dem wilden Herzen“, von der brasilianischen Autorin Clarice Lispector, und es ist ein sehr guter Anfang (Deutsch von Ray-Güde Mertin). So ein Anfang ist das, bei dem man sich betont bequem hinsetzen und unbedingt stundenlang Zeit haben möchte, wenn nicht sogar einen weiteren Tag frei– hier ein Artikel im Standard über die Autorin. Ein sehr guter, aber kein leichter Text, merkt man dann nach wenigen Seiten, der erfordert deutlich Konzentration, vielleicht sogar mehr, als man im Gartenstuhl in der Nachmittagssonne aufbringen kann.

Ich werde es noch herausfinden.

Das Buch "Nahe dem wilden Herzen" liegt im Gras neben Magnolienblütenblättern, die noch gut aussehen und farblich zur Schrift auf dem Einband passen

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Montagslinks

Neulich lief eine Meldung durch die Presse, oft arg verkürzt, da ging es darum, dass junge Männer immer konservativer und junge Frauen immer progressiver werden. Für Menschen mit Interesse an Soziologie und gesellschaftlicher Entwicklung hat der Deutschlandfunk in der Reihe Systemfragen (Paulus Müller) 20 Minuten zu dem Thema, in denen das etwas genauer auseinandergenommen wird. Fand ich lohnend.

Und, apropos Frauen und Männer, bei Radiowissen gibt es eine Folge aus dem Jahr 22 über die Wirkung der Droge Macht (mit Thomas Middelhoff als reuigem Sünder), in der am Rande auch auf die unterschiedlichen Wirkungen von Macht auf die Geschlechter eingegangen wird. 23 Minuten.

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Im Guardian sah ich die Meldung zum gewaltigen Temperatursprung in der Antarktis. Entschieden unheimlich.

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Die Kaltmamsell verschenkt gerade einen Artikel der Krautreporter zur Entwicklungspolitik, die man nicht so nennen sollte, wie sie schreibt. Diese Verschenkoption auf der Seite ist wirklich eine großartige Sache. Ich habe deutliche Schwierigkeiten mit Seiten, die ich abonniere und auch gut finde, etwa den Economist, deren Paywalltexte ich dann aber nicht mit Ihnen teilen kann.

In den Jahren des Bloggens ist mir das Teilen so selbstverständlich geworden, es geht mir mittlerweile erheblich gegen den Strich, wenn das nicht geht. Was nicht heißen soll, dass ich für das dahinterstehende wirtschaftliche Problem der Redaktionen und Verlage eine Lösung wüsste. Nicht einmal ansatzweise weiß ich das, und nicht einmal für mich selbst.

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Der WDR erinnert mit einem Zeitzeichen an Karl-Heinz Deschner, dessen „Kriminalgeschichte des Christentums“ ich als junger Mensch verschlungen habe; es war vermutlich das erste längere wissenschaftliche Werk, durch das ich mich gearbeitet habe, ich fand es spannend.

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Teresa Bücker teilte auf Bluesky den für mich schrägsten Text am Sonntag: „The most mysterious cells in our bodies don’t belong to us.“ Man trägt also seine Familie immer mit sich herum, in einem sehr wörtlichen Sinne. Als ob wir es nicht alle längst geahnt hätten.

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Dieser eine Tag

Der Sonnabend. Dieser eine Tag mit der so ungewöhnlichen Wärme, über die man sich einerseits von Herzen freuen möchte, weil der März hier dermaßen nass, windig und 12-gradig wie eine überaus unerwünschte Februarverlängerung war, über den man sich andererseits auch nicht zu viel freuen darf, weil Klimakrise, dies, das. Was macht man da emotional und auch sonst.

Entscheidet man sich für die positive Gefühlslage, dann lastet besonders viel Druck auf diesem Tag, dann muss da verdammt viel Genuss in die wenigen Stunden, Sommergefühle wie damals, oder weit, weit fortgeschrittene Frühlingsgefühle zumindest, Gartenspaß oder Spaziergangslust, das finde ich schon wieder etwas herausfordernd und neige spontan eher zum Trotz, ob all dieser unvermuteten Anforderungen. Der Freundeskreis Reaktanz zieht sich wie immer zunächst schmollend zurück.

Ich mach doch nicht was, nur weil Wetter!

Da könnte ja jedes Wetter kommen.

Dann erst einmal Brötchenholen bei 14 Grad am frühen Morgen, da geht es schon los. Die Hausmeistergehilfen der Häuser um die Ecke grüßen deutlich freundlicher als sonst, während sie rumpelnde Container an mir vorbeirollen. Die nicken sonst kaum, heute aber dieses Winken und Lachen. So ist das Leben im sonnigen Süden, stelle ich mir vor, guten Morgen Sonnenschein, gleich Nana Mouskouri im Ohr. Lebt sie eigentlich noch? Immer alles nachsehen. 90 Jahre wird sie im Oktober.

Ich bestelle meine Brötchen und der Verkäufer sagt: „Besonders gerne!“ Warum sagt er das, warum strahlt er so. Liegt auch das am Sonnenschein, der blendend durch die Schaufensterscheibe fällt, was geschieht mit dieser Stadt.

Frühstück bei offener Balkontür. Insekten kommen irritiert einen Meter in die Wohnung, wieso ist hier ein Loch in der Fassade, das war da gestern noch nicht. Kann man da am Ende gut brüten oder fressen oder so etwas. Das mal abchecken.

Wir fahren gegen Mittag in den Garten. Dort hören wir in der Ferne, drei, vier Wege weiter, das sommerhelle Läuten des Eiswagens, da sehen wir wie in jedem Sommer die lachend und jauchzend vorbeirennenden Kinder im Grundschulalter, das abgezählte Kleingeld in den Fäusten. Nach ein paar Minuten kommen sie allerdings deutlich langsamer zurück, ohne Eis, aber laut schimpfend, Spatzenbande nichts dagegen. Und was sie da von sich geben, das hört man bei ihnen zwar in hellerer Tonlage als bei den Erwachsenen, kann es ansonsten aber kaum von den allfälligen Klagen der Älteren unterscheiden – wie teuer ist bitte das Eis geworden, ja spinnen die denn, das kann doch nicht sein, das ist doch Wahnsinn, so viel!

Und sie gehen schmollend mehr Geld holen, bei ihren Eltern, die ihre Klagen dann gewiss fast wortgleich wiederholen werden. Währenddessen klingelt der Eiswagen lockend immer weiter, kommt zurück, liebe Kinder, kommt zurück.

Während es noch klingelt, Junijuligebimmel, fliegen mir Hummeln, Bienen und Schmetterlinge durchs Bild, ein riesiges Pfauenauge wie auf einem Kunstdruck, so beeindruckend, stimmen Meisen, Amseln, Zilpzalp und Heckenbraunelle in die Sommergeräuschkulisse ein, sehe ich, dass in den Beeten Vergissmeinnicht und Silberblatt blühen, dass die Maiglöckchen schießen, die jetzt Aprilglöckchen werden.

Die Vogelbestimmungsapp sagt, dass sie einen Gimpel hört, ganz sicher ist sie. Ich habe im Garten noch nie einen Gimpel gesehen, ich habe überhaupt schon sehr lange keinen Gimpel mehr gesehen, sicher jahrelang nicht, zuletzt vermutlich als Schimpfwort in irgendwelchen älteren Texten.

Ich setze mich in einen Gartenstuhl und sehe in den frisch ergrünten Weißdornbaum über mir und auch in die Büsche unter ihm, Holunder und Blutjohannisbeere, ich warte auf den Gimpel. Lange warte ich, für meine Verhältnisse sogar geduldig, vielleicht schlafe ich auch ein wenig ein dabei, das kann sein. Vogelbeobachtung muss man ernst nehmen und also angemessen anstrengend finden, das ist richtig so. Es erscheint zwar kein Gimpel, aber ich war, so fand ich dann hinterher, an einem solchen Tag doch vollkommen angemessen beschäftigt.

Man muss es sich alles zurechtdrehen, bis es passt.

Die Herzdame aber steht später vor dem Erdbeerbeet und überlegt laut, ob das nicht woanders besser wäre, ob es nicht etwas mehr in die Sonne müsse, und ob dann, wenn das also dorthin, ein anderes nicht vielleicht … und ich kenne sie lange genug, um zu erkennen, wenn ihr eine Projektidee wächst, und ich erahne auch den Punkt, an dem ihr Gemurmel in Taten übergeht.

Ich fliehe rechtzeitig.

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Den Verfall nicht geleugnet

Ich habe seit Tagen einen Lyrik-Ohrwurm. Es geht mir nicht mehr aus dem Kopf dieses Gedicht, nämlich „Nicht gesagt“ von der Kaschnitz (das kann man etwa hier lesen). Ich bin dermaßen angetan von dem Ende, wie unfassbar gelungen ist das gemacht, den Titel als Ellipse wieder aufzugreifen …. Großartig. Ich würde als Deutschlehrer vermutlich vollkommen unangemessen vor der Klasse in Ekstase geraten, beim gemeinsamen Lesen und Studieren.

Aber auch sonst. Den Verfall nicht geleugnet und nicht die Verzweiflung, es kommt mir nachvollziehbar vor und klingt dabei noch gut, ein sehr zugängliches Gedicht. Wenn man viele Jahre viel geschrieben hat, dann bleibt einem schließlich so etwas wie diese Verse. Ich sympathisiere heftig.

Es gibt eine Lesung mit der Kaschnitz bei Youtube, aus dem Jahr 1966, sehe ich gerade und bin nach dem Ansehen erneut beeindruckt. Sehen Sie mal rein – wie ernst das war, wie besonnen, durchdacht und bemüht. Aus dieser Zeit komme ich, das war mein Geburtsjahr und es ist für mich immer wieder fantastisch, aberwitzig und unvorstellbar, wie weit wir uns von der Möglichkeit und auch Stimmung solcher Sendungen fortentwickelt haben, in welch anderer Zeit wir gelandet sind.

Es ist einerseits vollkommen klar und erwartbar, wie sehr sich die Welt in nur einem Leben ändert, jedes Geschichtsbuch belehrt einen da umfangreich, es bleibt andererseits kaum zu verarbeiten.

Interessanter Kanal übrigens, da mal noch mehr ansehen.

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Ich lese abends immer noch in „Schau heimwärts, Engel“, Thomas Wolfe. Auch hier anschließender Spaß mit KI: Ich befrage eine Software nach dem Inhalt des Buches, nur um recherchehalber zu sehen, was da „gewusst“ wird. Das Ergebnis ist sogar plausibel, eine brauchbare Inhaltsangabe, und darunter werden mir dienstbeflissen weitere Fragen vorgeschlagen. Eine der empfohlenen Fragen dort lautet: „Welche Rolle spielt Johannes im zweiten Teil des Buches?“ Ich klicke die Frage an. Die Antwort lautet: „In dem Buch kommt kein Johannes vor.“

Ja, so wird man schlauer.

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Berit Glanz wies auf Mastodon auf dieses sehenswerte Tanzvideo hin:

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