Vor vielen Jahren, in vielen Jahren

Sie kennen vermutlich dieses Gefühl, wenn Sie auf einer Reise waren, vielleicht ein paar Tage nicht in der eigenen Wohnung, wenn Sie sich zum ersten Mal wieder wohlig aufseufzend in den eigenen Sessel setzen. Wenn Sie sich auf das vertraute Sofa oder in das eigene Bett legen. Dieses außerordentlich schöne, auch auf eine ruhige Art lebensbejahende, angenehme Gefühl, dass da gerade etwas richtig, gewohnt und verdammt gut ist. Und seien es nur die eigenen vier Wände, das gut zugerittene Möbelstück darin. Es ist doch wichtig, merkt man, es ist ein Grundbedürfnis, ein Teil der seelischen Heimat. Und es ist körperlich und seelisch spürbar, man kann es kaum trennen.

Dieses Gefühl hatte ich in letzter Zeit mehrfach in anders gelagertem Zusammenhang, und der emotionale Gleichklang fiel mir markant auf. Nämlich einerseits etwa, als ich die alten Maigret-Folgen mit Bruno Cremer weitersah, die in den Sechzigern des letzten Jahrhunderts spielen. Andererseits zum Beispiel, als ich ein Hörbuch anfing, dass ich schon einmal gelesen habe: „Unterm Birnbaum“ von Theodor Fontane, gelesen von Joachim Höppner.

Das Buch, eine Kriminalgeschichte, beginnt eher unspektakulär. Ich zitiere den ersten Absatz nach Projekt Gutenberg, er fällt im Grunde nicht weiter auf. Michaeli ist Ende September, dann kann man es zeitlich einsortieren:

„Vor dem in dem großen und reichen Oderbruchdorfe Tschechin um Michaeli 20 eröffneten Gasthaus und Materialwarengeschäft von Abel Hradscheck (so stand auf einem über der Tür angebrachten Schild) wurden Säcke, vom Hausflur her, auf einen mit zwei magern Schimmeln bespannten Bauerwagen geladen. Einige von den Säcken waren nicht gut gebunden oder hatten kleine Löcher und Ritzen, und so sah man denn an dem, was herausfiel, daß es Rapssäcke waren. Auf der Straße neben dem Wagen aber stand Abel Hradscheck selbst und sagte zu dem eben vom Rad her auf die Deichsel steigenden Knecht: »Und nun vorwärts, Jakob, und grüße mir Ölmüller Quaas. Und sag ihm, bis Ende der Woche müßt ich das Öl haben, Leist in Wrietzen warte schon. Und wenn Quaas nicht da ist, so bestelle der Frau meinen Gruß und sei hübsch manierlich. Du weißt ja Bescheid. Und weißt auch, Kätzchen hält auf Komplimente.«

Im Maigret wiederum hat der Hauptdarsteller Bruno Cremer für heutige Verhältnisse enorm viel Zeit, unaufgeregt vor der Kamera zu stehen und gar nichts zu machen. Außer an seiner Pfeife zu ziehen und freundlich bis skeptisch andere Menschen anzusehen, die ebenfalls nichts oder kaum etwas machen und wenig reden. Dann fährt vielleicht ein Zug am Bahnhof im Hintergrund ein. Man sieht die Einfahrt dieses Zuges, die sich vermindernde Geschwindigkeit, das langsame Ausrollen, das Ankommen, das Aussteigen, das Koffertragen, das Begrüßen etc. Und alles ist eine einzige Einstellung. Wie gesagt, mit dem Maßstab heutiger Serien gemessen, ist die Länge der Szenen und die Ruhe der Personen geradezu grotesk überstreckt. Ich finde es herrlich, und das will dann wohl etwas bedeuten.

Man weiß als Mensch aus den Zeiten vor dem Internet, dass da etwas dran ist. Die Momente waren früher länger, auch wenn es seltsam klingt. Wir haben Züge noch einfahren sehen, könnte man in meiner Generation sagen. Und zwar von dem Moment an, in dem sie am Horizont kaum erkennbar auftauchten, bis zum durchdringenden Quietschen der Bremsen direkt vor uns. Wir haben uns das manchmal die ganze Zeit so gebannt angesehen, als hätten wir es interessant gefunden. Was nicht der Fall war, es gab nur nichts anderes anzusehen. Und wir hatten vielleicht, das kam häufiger vor, die Zeitung schon gelesen hatten und dummerweise kein Buch dabei.

Ich schreibe es ohne Wertung. Es ist nur eine geschichtliche Tatsache, siehe auch das Aussterben der Langeweile. Da könnten Kinderpsychiater ebenfalls viel dazu sagen. Sie kennen das vermutlich, zumindest wenn Sie auch Kinder haben. Es wurde in den letzten zehn Jahren viel und zu Recht diskutiert.

Aber keine nostalgische Verklärung, nein. Es ist wie es ist, und damals war es eben etwas anders. Eine übermäßig spannende Erkenntnis ist das kaum. Kein Mensch fand damals Langeweile schön, das wäre ein vollkommen abwegiger Irrglaube. Das wäre Verklärung, von der ich manchmal allerdings auch lese.

Nein, gelitten haben wir in Wahrheit unter dieser Langeweile. Häufig, intensiv, vor allem über Stunden und Tage hinweg. In einer Art, die ich etwa meinen Söhnen nicht mehr erklären kann. Weil ihnen jeder Bezug zum Thema fehlt, Langeweile kennen sie nicht. Oder jedenfalls nicht in dieser Dimension. Sohn I ist so alt wie das erste iPhone, das ist leicht zu merken und erklärt erstaunlich viel. Aber das nur am Rande.

Als älterer Mensch jedenfalls, wenn man aus der Perspektive eines Menschen auf Szenen und Geschehen oder überhaupt auf irgendwas sieht, der nicht mehr primär an Action und Erlebnis interessiert ist, sondern vielleicht allmählich etwas mehr an Ruhe und Kontemplation, ohne damit allzu ambitioniert klingen zu wollen, aus dieser Perspektive, so glaube ich, wirkt die damalige Zeit naheliegenderweise anziehend.

Und bietet, so empfinde ich es, ein immerhin vermeintliches Potential der Ruhe. Welches ich im unruhig zersplitterten Alltag der Gegenwart kaum so wahrnehmen kann. Was also heißt, dass ich abseits von Nostalgie, die meinetwegen auch eine Rolle spielen darf, denn so schlimm ist sie nun auch nicht, die Belebung der Erinnerung an analoge Zeiten als eine Art Wellness-Maßnahme zu empfinden scheine. Wahrscheinlich geht es nicht nur mir so. Wie bekanntlich alle Fragen, die mit „Bin ich eigentlich der oder die Einzige …“ beginnen, kategorisch verneint werden können.

Eine der wenigen goldenen Lebensregeln, die stimmen und die ich für wichtig halte.

Wenn ich also, das wollte ich nur eben sagen, bei Fontane oder bei Maigret ein fast seltsam deutliches seelisches Heimatgefühl habe, das sich derart in wohligem Seufzen ausdrückt, dass ich selbst darüber staune – dann ist das vermutlich passend für wenigstens einen Teil meiner Altersgruppe.

Verrsuche ich aber, nach vorne zu sehen, merke ich, dass ich mir kaum vorstellen kann, worauf sich die Jahrgänge meiner Söhne eines Tages rückblickend wohlig seufzend besinnen werden. Wenn die etwa auf die Sechzig zugehen werden.

Ob das auf mich so hektische wirkende Tiktok dann für ihr gechilltes Herumliegen in der Jugend stehen und also diesen Wellness-Aspekt gewinnen wird, den ich bei den kulturellen Produkten aus der Zeit habe, in der es noch kein Online gab?

Na, ich werde es vermutlich nicht mehr mitbekommen. Aber interessant finde ich es doch.

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Der Brunnen im Innenhof des Hamburger Rathauses, eine der Figuren in Nahaufnahme und von hinten

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