Niederdeutsch im Wurzelgeflecht

Ich höre weiter Uwe Johnsons Jahrestage. Gelesen von Charly Hübner und Caren Miosga (hier stand gerade versehentlich Carmen Misoga, was aber auch recht plausibel aussah). Der Herr Hübner kommt aus der richtigen Gegend, bekommt also die plattdeutschen Anteile und Versatzstücke gut und passend hin. Nämlich so, wie sie für mich klingen müssen. Er kennt sich auch, wie ich von einem seiner Live-Auftritte weiß, den ich einmal gesehen habe, gut in diesen norddeutschen Spezialsprachfragen aus.

Sein Tonfall und die Betonungen sind in der Lesung also nah an dem, was ich aus meiner Kindheit kenne und daher auch mag. Nahe an dem, was für mich wie Heimat und Herkunft klingt. Mecklenburg ist eines der Gebiete, in dem einige Vorfahren lebten.

Was ich nur ausführe, weil ich darauf hinausmöchte, dass in einer der New-Yorker Passagen im Roman irgendwann der Begriff Staten Island fällt. Und ich fand es schon einigermaßen bemerkenswert, wie außerordentlich vertraut so ein Begriff für mich klingen kann. Jedenfalls dann, wenn mein Hirn beim Hören für den Bruchteil einer Sekunde einen plattdeutschen Begriff erwartet, keine englische Ortsbezeichnung. Steedten vielleicht, etwas in der Art habe ich da zuerst wahrgenommen. Mit einem sehr langen, gemütlich gedehnten Vokalteil und mit einem dt, welches eher auf das t verzichtet, es nur gerade so in der Aussprache andeutet. Was man schriftlich aber nur schwer wiedergeben kann. Und mit einem nach alter Hamburger Art getrennt gesprochenen S-t vorne, was viele so vermutlich noch von Helmut Schmidt kennen („S-taatsräson!“).

Diese sprachlichen Effekte jedenfalls, wie auch die permanente Erwähnung Lübecker Bezüge, tragen dazu bei, dass mir dieser Roman viel mehr Heimatkunde und Nostalgiekonzentrat ist, als ich vor dem Hören angenommen hatte.

Ich habe sonst kein ausgeprägtes Interesse an Familiengeschichte und Abstammung. Das ist eher das Thema meines Bruders, der da Zeit und Geduld investiert. Der sich mit Epochen und Orten befasst, die für mich eher nach deutschem Familienroman, nicht aber zwingend nach einem Bezug zu mir klingen. Ich gehöre nicht zu diesen Menschen, die ich hierdurch allerdings nicht kritisieren möchte, die etwa in Fernsehdokumentationen an Orte fahren, in denen Vorvorgenerationen von ihnen gelebt haben. Und die dann dort lange und gedankenversunken an Gräbern oder vor verfallenen Häusern stehen. Die dabei allerhand fühlen und hinterher gerührt in die Kamera gucken.

Zu solchen Mustern neige ich nicht, sie sind mir am ehesten aus solchen Sendungen und aus Romanen vertraut. Aber bei diesem Buch von Johnson ist mir doch auf einmal zumute, als würde da auch in mir etwas anklingen. Zumindest im Hintergrund. So ein kaum benennbares, nur eben zu ahnendes Etwas von Geraune im Wurzelgeflecht … Es ist dann auch einmal interessant, das kurz so zu fühlen, das wollte ich nur eben sagen.

Und komme auf diesem Weg wie nebenbei zur Erneuerung meines Beschlusses, auch einmal niederdeutsche Literatur zu konsumieren. Da vielleicht mal dranbleiben.

Wurzeln übrigens, fiel mir vorhin beim Schreiben der Überschrift ein, wenn ich einmal nicht an Metaphern, sondern an das Gemüse denke, kann ich vierfach benennen. Und dabei stets so, dass es für mich jeweils vollkommen richtig und immer nach dem Gleichen klingt. Nämlich als Wurzeln, Wöddeln, Karotten und Möhren. Die Herzdame würde vermutlich noch Wötteln oder Wutteln ergänzen, in etwas härterer Aussprache und mit für mich etwas seltsam kurzem Vokal vorne.

Sprache ist doch eine faszinierende Angelegenheit.

Ein Schild an einem Zaun am Hamburger Hbf: Schietwetter (Es ist eine Parkplatzreservierung für einen Laden mit diesem Namen)

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3 Kommentare

  1. Oder : Gäiwe Roum 🙂
    Danke für die Metapher „Geraune im Wurzelgeflecht“ – benennt mein bisher nicht benennbares Gefühl an bestimmten Orten.

  2. Gerührt bei Fernsehdokus in die Kamera gucken – kenne ich bei Menschen, die zu den Lebensorten ihrer Vorfahren reisen nicht, zumindest nicht bei Juden und Jüdinnen der 2. und 3. Generation nach der Schoa. Die versuchen oft durch Reisen an die früheren Lebensorte nach einem umfassenderen Verständnis für die eigene Herkunft und nach Antworten auf Fragen die sie nicht (mehr) gestellt haben.

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