Die Verzerrung ist irgendwo da draußen

Die Kaltmamsell weist hier auf ein Thema hin, das mich auch immer wieder fasziniert, nämlich die Darstellung der uns umgebenden Wirklichkeit in den Medien einerseits, in unserer Wahrnehmung andererseits.

Das haben wir mit unserem kleinen Bahnhofsviertel, das oft – und meist aus eher unerfreulichen Gründen – in den lokalen Medien ist, in etlichen Ausprägungen erlebt. Mal ist es hier viel gefährlicher, mal ist es hier aber auch schöner und noch gentrifizierter, noch szenemäßiger, als es gemäß unserem Erleben ist. Oder zumindest wird es deutlich anders geschildert, als es uns vorkommt. Mal gelten gewisse Sätze als weit verbreitete Meinung der Anwohnerinnen, von denen wir als Anwohnerin und Anwohner nie gehört haben. Und die wir auch nicht teilen. Mal wird in der Gastroszene etwas bejubelt, das uns als weithin bekanntes Schrecknis und üble Touristenfalle gilt, mal wird hemmungslos verrissen, was wir doch gerne aufsuchen.

Das ist aber zumindest aus meiner Sicht nur partiell eine Medienkritik, denn diese Beobachtung gilt selbst für Blogs. Ich lese manchmal Schilderungen von Menschen, die hier durchreisen, bei denen ich mich einen Moment frage, auf welchen Drogen die denn wohl hier durchgelaufen sind. Oder mit welchen Scheuklappen. Ähnlich ging es auch der Kaltmamsell damals, als ich in ihrem München in diesen Trachtenauflauf geriet und darüber etwas schrieb. Meine Erlebnisse waren klischeemäßig so überreizt wie nur denkbar, aber so war es eben. Wenn auch, und das ist es eben, nur genau da und nur genau in der Stunde, in der ich dort war und in der diese seltsame, verschrobene Veranstaltung in dem Biergarten neben unserem Hotel stattfand.

Einerseits spielen, besonders bei den Medien, Verantwortung, handwerkliche Genauigkeit und auch das Berufsethos eine Rolle, versteht sich. Denn Schilderungen sind schnell zu schreiben und furchtbar mühselig langsam zu verifizieren. Wer hat schon die Zeit für Zeitreihen. Genug Kritikwürdiges in dieser Hinsicht ist mir und uns allen vermutlich häufiger begegnet, wo immer wir etwas durch eigenes Erleben verifizieren konnten.

Andererseits ist es aber auch so, dass Sie und ich nun einmal nicht in der gleichen Wirklichkeit leben. Und wir also, selbst wenn wir hier gemeinsam eine Straße entlang gehen würden, hinterher andere Eindrücke, Erfahrungen und vor allem Assoziationen, die dann das Schreiben und Berichten mitbestimmen würden, hätten. Ein Sekundenblick reicht da aus. Eine nimmt den pinkelnden Obdachlosen im Hauseingang wahr und es beschäftigt sie danach noch etwas. Die andere sieht gerade woanders hin, in ein neugestaltetes Schaufenster vielleicht, und lässt damit ein Thema aus. Gewinnt aber prompt ein anderes.

Wie wir im Büro einmal, Jahre ist es schon her, die Nachrichten zu New York verfolgten, wo gerade irgendeine schwere Wetterkatastrophe stattfand. Ich weiß gar nicht mehr, was es war: Blizzard, Starkregen, Orkan, keine Ahnung. Es war jedenfalls etwas Ungewöhnliches, das weltweit für Schlagzeilen, aufregende Bilder und verwackelte Live-Reportagen sorgte. Wir hatten da einen ergiebigen Mailwechsel mit einem Kollegen, der dort in der Mitte des Geschehens saß, wie wir annahmen. Wir fragten besorgt nach der Lage, und er schrieb irritiert: „Was? Hier ist nichts.“

Der Schriftzug "Rot" mit gelber Farbe auf den Boden gesprüht

Denn manchmal entscheiden ein, zwei Häuserblocks, entscheiden eine Kreuzung, eine U-Bahn-Station oder eine halbe Stunde, wie die Lage ist. Was mich immer wieder zurückführt zu dem einfachen und doch so schwerverdaulichen Satz: Es ist schier unmöglich, die Wahrheit über das da draußen zu schreiben. Von dem hier drinnen ganz zu schweigen, aber das ist ein anderes Thema.

Man sollte es aber dennoch versuchen, das mit der Wahrheit über das da draußen. Eh klar, man sollte versuchen, sich ihr stets so ernsthaft bemüht anzunähern, wie man es nur vermag. Besonders natürlich, wenn man sich mit der Abbildung der Wirklichkeit beruflich beschäftigt.

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Ein Kommentar

  1. Die größte Verzerrung besteht wahrscheinlich in der Drinnigkeit: Wer Teil des Geschehens ist, hat am wenigsten Überblick.
    Ich erinnere mich an den Aufstatz der britischen Journalistin Elizabeth Pisani über das Tian’anmen-Massaker 1989: Sie hatte damals vor Ort direkt vom Platz selbst berichtet und sah 20 Jahre später darauf zurück. Erst aus großem Abstand konnte sie analysieren, einordnen, gewichten, während der Geschehnisse selbst hatte sie immer nur winzige Fragmente wahrgenommen.

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