Dass sich die Nachrichten, vor allem jene, die für die Top-Schlagzeilen sorgen, in unserem Alltag spiegeln, habe ich oft beschrieben oder fotografiert. Passende Demos zum Weltgeschehen gibt es hier manchmal, passende Graffitis an den Wänden oder Aufkleber an den Ampeln. Dialogszenen mit korrekt gesetzten Stichwörtern höre ich manchmal. Oder ich erlebe andere Momente, in denen sich Politik- und verwandte Themen plötzlich bemerkbar machen. Momente, in denen man vielleicht kurz denkt, ach guck, das gehört doch zu dieser oder jener Nachricht. Gerade erst habe ich es gelesen, und dann gleich das. Passt ja wieder.
Meist sind es die Meldungen aus dem Politikteil, die sich so abbilden. Manchmal auch die aus dem Wirtschaftsteil oder aus dem, was im weitesten Sinne unter Lifestyle und Unterhaltung fällt. Das gute alte Feuilleton dagegen ist nicht eben oft vertreten – gestern kam es bei mir aber doch einmal vor.
Da stand nämlich eine zu beschreibende Frau in einer der großen Einkaufsstraßen in der Innenstadt. Im mäßigen Gedränge stand sie, in der freitagfeierabendlichen, wimmeligen Unruhe der Großstadt, in der sich alles für die kommenden Tage zurechtsortierte und wochenabschließende Einkäufe tätigte. Vor einem Schaufenster stand sie dort, Herbstmode in den üblichen Brauntönen darin, aber das ist egal. Nicht dicht daran stand sie jedenfalls, sondern gerade so weit davon weg, dass sie doch recht eindeutig zahllosen eilenden Menschen im Weg herumstand. Was sie aber nicht weiter bemerkte, denn sie las, und zwar hochkonzentriert. Wozu wir jetzt reflexmäßig im Chor aufsagen können: „Das gibt es ja heute kaum noch.“
Mit hochgeschobener Brille, die in ihrem angegrauten Haar saß, las sie, und mit einem leicht nach hinten geneigten Kopf. Mit dieser Haltung also, die man von Leuten kennt, die nicht die richtige Lesebrille dabeihaben, und die daher ab und zu auch mit leicht ruckelnden Bewegungen die Entfernung der Augen zum Text beim Lesen neu austarieren.
Ich glaube, ich kann ihre Erscheinung treffend und abkürzend skizzieren, wenn ich behaupte, dass Anke Engelke, würde sie in einem Sketch eine strenge Deutschlehrerin oder Bibliothekarin spielen, so aussehen würde wie diese Frau.
Ich nehme jedenfalls an, sie gewinnen bei diesem Gedanken eine Vorstellung bis hin zur Farbe der Strickjacke und zur Frisur, und passend dazu guckte die Frau auch. Kritisch wäre als Beschreibung hierbei deutlich zu milde, sie sah die Blätter eher schon mit Verachtung an. Mit Entsetzen vielleicht, mit dem dringenden Wunsch nach einem Rotstift womöglich auch. Und alle paar Sekunden schüttelte sie den Kopf.
Natürlich kann das aber gründlich täuschen, sie muss das Buch nicht schlecht gefunden haben, da muss man wieder aufpassen, was man bezeugt. Es ist nicht auszuschließen, dass sie vielleicht den Text großartig, nur das Verhalten einer Figur oder eine einzelne Szene nicht gut fand, einen Abzweig der Handlung. Das Bild lässt uns Möglichkeiten. Es war, um das noch eben abzurunden, keine Buchhandlung weit und breit. Die Frau stand und las dort vollkommen kontextfrei in ihrem Buch.
Welches sie freundlicherweise so hielt, dass ich es erkennen konnte. Es war von Caroline Wahl (Wikipedia-Link), und zwar war es der neueste Roman von ihr.
Zu Caroline Wahl habe ich nun keine Meinung, ich habe auch kein Buch von ihr gelesen. Ich habe nur am Rande und ohne die Artikel zu lesen mitbekommen, dass es in den Feuilletons gerade wieder hoch hergeht und man an etlichen Stellen meinungsfreudig diskutiert, was sie schreibt, wie es zu bewerten und vor allem wie es einzusortieren sei. Unter Berücksichtigung der Aussagen der Autorin zu allem wird das diskutiert, wobei an ihren Einlassungen auch kein Mangel besteht, wenn ich es im Überflug richtig registriert habe. Ich habe aber auch das nicht mit Interesse verfolgt.
Gewiss aber sellt sie ihre Bücher best. Die Geschichte hat also immerhin eine Gewinnerin, was schon einmal gut ist, zumal es dabei um vermutlich gut bezahltes kreatives Schaffen geht. An dieser Stelle könnten wir den Text vom Chor vorhin glatt noch einmal aufsagen, nicht wahr, und wir würden nicht falsch liegen dabei.
Ob unsere Leserin vor dem Schaufenster dieses Buch mit Gewinn las, das lässt sich nicht aufklären. Am Ende war es die Feuilletonchefin einer vormals großen deutschen Zeitung, wer weiß. Wobei mir dieses „vormals“ mittlerweile auf sämtliche Zeitungen zuzutreffen scheint, also keine bestimmte meinen oder dissen soll.
Vielleicht nahm da jemand gerade Anlauf für einen weiteren Grundsatzartikel zur Literaturklassifizierung, das mag sein. Oder für eine heftige Kolumne, für einen gnadenlosen Verriss, für ein kontrapunktisches und enthusiastisches Lob. Ich weiß es nicht, wir können nur raten.
Ich stellte dort nur im Vorbeigehen fest: Auch das Feuilleton findet also da draußen statt. Und ich dachte mir dann weiter, dass ich es im Prinzip erfreulich finden möchte.
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Ich bewundere Ihre Kunst, solche Szenen zu beschreiben. Und da dann solche Texte draus zu machen.