Es fuhr irgendwas

Sven war nennenswert schneller als ich und hat schon den Blogeintrag zur Hamburger Podcastnacht von gestern draußen. Ich lege erst später nach und habe auch die Kurve zum Live-Bloggen bisher nicht nehmen können, obwohl ich es auch einigermaßen faszinierend finde.

Es ist übrigens wiederum bestätigend für mich, wie der Blogkollege die Gegend hier wahrnimmt: „Vorm Hansa Theater dann doch gewundert, wie schlecht es einigen Leuten da geht und wie derbe druff andere sind. Der Hauptbahnhof ist um halb elf Uhr am Abend kein schöner Ort. Ich bin hier nicht mehr oft um diese Uhrzeit, da fällt das dann deutlich auf.“

Das ist mein Alltag. Das Hansa-Theater ist hier um die Ecke, und um mich herum sind quasi immer alle „derbe druff“. Ja, so kann man das sagen. Aber davon abgesehen: Bei mir erst morgen mehr zu diesem Abend, erst einmal hänge ich hier textlich noch am Montagmorgen.

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Im Lübecker Bahnhof beeilen sich die Menschen noch mehr als im Hamburger Hauptbahnhof, sehe ich etwas verwundert am Montagmorgen. Alles rennet, rettet, flüchtet, man jagt hier den Regionalzügen nach, man sprintet zu den Bussen, man hetzt zum Kiosk, zum Imbiss, zum kleinen Supermarkt, man wimmelt wild durcheinander und sich in den Weg. Es sieht ein wenig so aus, als habe die ganze Stadt verschlafen und müsse den Wochenbeginn nun übereilt, übermüdet, in aller Hektik und furchtbar schlecht gelaunt einholen. Als müsse man kollektiv wahnsinnig dringend aufholen, Zeit gutmachen und alles schneller, noch viel schneller erreichen. Raus aus dieser Stadt, rein in diese Stadt, durch diese Stadt, aber jedenfalls flott.

Wie aber kann es sein, frage ich mich überrascht, dass es hier noch wirbeliger wirkt als in der Großstadt meines Vertrauens, dann fällt mir die Antwort darauf aber auch ein. Ein nicht eben kleiner Teil dieser Menschen wird nämlich nach Hamburg wollen, nein, sogar müssen. Mit anderen Worten. Hier rennen sie noch, in Hamburg dann aber schon nicht mehr. Ich sehe hier das, was für mich sonst hinter den Kulissen der Pendelwelt ist. Ich sehe die Hektik und das Gewusel hinter der Bühne.

Dann gibt es auf einmal eine Pause zwischen den Zügen, zehn Minuten oder eine Viertelstunde ohne jede An- oder Abfahrt. Der Bahnhof leert sich schlagartig, als habe man gerade das ganze Heer der Statisten entlassen und alle nach Hause geschickt. Eine fast leere Halle um mich herum, in deren Mitte ich stehe wie jemand, den man vergessen hat. Und in der dann jemand, der volltrunken an einer Wand lehnt, wie um die veränderte Stimmung zu unterstreichen, eine leere Flasche Bier klirrend auf dem Kachelboden zerschmeißt. Mit einem unangenehmen Geräusch, das weit hallt. Gefolgt von einem heiseren Lachen, wie es boshafter kaum ausfallen kann.

An der Seite der Halle sehe ich eine Bank. Eine normale Bank ist es, wie es sie an Bahnhöfen immer gibt, alle paar Jahre in neuem Design. Aber mit dieser Bank hat es etwas auf sich. Denn während ich sie flüchtig im Vorbeigehen ansehe, gibt es eine Art Overlay in meinem Hirn. Ich sehe auf einmal auch die alte Holzbank, die an dieser Stelle früher stand, als ich noch in dieser Stadt gelebt habe, als ich in dieser Stadt Kind war. Zumindest bilde ich es mir seltsam überzeugend ein, fast wie auf einem Drogentrip, diese Stelle exakt zu erkennen.

Und zwar sehe ich diese Bank, aus den Siebzigern wird sie sein, in einer Genauigkeit, die ich meinen Erinnerungen bei so etwas keineswegs zugetraut hätte. Wie ich da als Kind auf genau dieser Bank in großer Vorfreude herumgehüpft bin, beim Warten auf den Besuch der Verwandtschaft aus dem Rheinland, die gleich ankommt, die endlich ankommt. Das fühle und sehe ich, es hat eine unfassbare Präsenz. Es ist auf einmal da, so dermaßen ist es da, dass es schon erschreckend ist. Und genau so schnell ist es auch wieder weg. Es war lediglich ein Erinnerungsanfall, aber was für einer.

Ich gehe dann noch einen Moment in dem Bewusstsein durch diesen Bahnhof, dass andere, längst vergessen geglaubte Bahnhofszeiten darin noch verborgen und erstaunlich lebendig sind. Und wer weiß schon, in welcher Fülle und Intensität. Ich habe es immerhin mitbekommen, als ich kurz durch unsere aktuelle Zeit hindurchgesehen habe. Ich war heute der innere Augenzeuge.

Was also auch geht, wie man dann bei solchen Gelegenheiten feststellt und vermutlich auch schnell wieder vergisst. Weil man sonst seinen Alltag auch gar nicht bewältigen könnte, als Gefangener eines derart umfassenden, stets fordernden „Weißt du noch“. Es wird schon sinnvoll sein, sich in aller Regel auf die Bahnhöfe und Bänke der Gegenwart zu konzentrieren.

Dann fahren wieder neue Züge ab und andere kommen an. Ein Rentner, der am Arm seiner Frau beim Betreten des Bahnhofs von oben auf die Gleise blickt, fasst knurrend in einem abfälligen Satz zusammen, was vermutlich mittlerweile die Quintessenz der Kundenzufriedenheit bei der Bahn ist: „Immerhin fährt heute irgendwas!“

Meine Züge aber, die nach Lübeck und nach Hamburg, sie waren pünktlich und fuhren sowohl zur richtigen Zeit als auch, ich war dann doch froh, in der richtigen Zeit, in der Gegenwart. Sie luden mein manchmal merkwürdig reichhaltiges Erinnerungsvermögen nicht zu weiteren Flashbacks ein.

Und das war auch gut so.

Obwohl die Züge in die Vergangenheit, wie man auf dem Bild vielleicht erkennt, schon für mich bereitstanden.

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