Just wait and see

Ich habe gesehen und auch gehört, dass es hier und da missverstanden wurde, sicher weil ich mich wieder einmal allzu ungenau ausgedrückt habe, aber ich habe keinen neuen Job. Meine Firma ist nur umgezogen. Jene Firma, in der ich immer schon arbeite, quasi seit dem Anbeginn der Welt. Jedenfalls fühlt es sich mittlerweile so an.

Wenn man lange genug in einer wachsenden Firma bleibt, fiel mir früh auf, dann ändert sie sich bald um einen herum. Ohne dass man dafür erst mühsam den Laden wechseln muss. Mit all dem Aufwand für Bewerbungen etc., den ich also tatsächlich nie betrieben habe. Und zwar ändern sich sowohl der Name als auch die Rechtsform, die Organisation und selbstverständlich dann auch absehbar Struktur und Standort.

Just wait and see, wie sich gerade wieder beweist. Ich kann nicht sicher sein, ob ich das gerade zum letzten Mal erlebe, es ist wohl eher unwahrscheinlich. Gut, man braucht über die gesamte Strecke ein wenig Geduld, das mag sein, aber es ist doch insgesamt ein zuverlässiger Vorgang.

Wenn ich von heute aus auf die Zeit blicke, in der ich dort angefangen habe, dann brauche ich eine Weile, um, wenn ich von mir selbst und von der Branchenzugehörigkeit einmal absehe, überhaupt noch erkennbare Bezüge und Gemeinsamkeiten mit jenem Betrieb von damals ausmachen zu können. Die Unterschiede sind dramatisch und betreffen fast alle Aspekte des Arbeitsalltags.

Einen jener Rückbezüge besuche ich nach der Arbeit. Eine sehr alte Exkollegin, an die sich kaum noch jemand erinnert. Vermutlich sind es nur noch etwa zehn Menschen von mehreren Hundert in der Belegschaft, die noch vage wissen, wer das war. Diese ehemalige Chefsekretärin, was natürlich auch ein Beruf ist, den nicht nur wir mittlerweile größtenteils abgeschafft haben.

Ich habe sie damals spontan kurz vertreten, diese Chefsekretärin, etwa vierzehn Tage nach meinem Abitur. Mit der entscheidenden Hauptqualifikation, dass ich mit zwei Fingern schnell und weitgehend fehlerfrei tippen konnte. Damit fing das alles an, und aus den 14 Tagen wurden dann ein paar mehr, die bis heute reichen. Das Studium und dergleichen liefen nebenbei. Es gab nicht einmal ein Einstellungsgespräch, ich wurde da einfach mit einem Anruf hinbeordert, weil gerade dringender Bedarf bestand und ihnen dort sonst niemand einfiel, lange suchen wollte man nicht. Was so nur möglich war, weil diese Chefsekretärin nebenbei auch meine Mutter war und immer noch ist.

Dort also gehe ich nach der Arbeit vorbei. Ich biete ihr oft auch mobile Onlinedienste an, denn sie hat keinen Internetzugang mehr, seit sie sich mit Vodafone in einer Weise gestritten hat, die wohl selbst Michael Kohlhaas imponiert hätte. Ab und zu google ich also etwas für sie, wenn man das jetzt noch so sagt. Ich sehe etwas nach, ich finde etwas heraus. Per Telefon wird das für sie mit jedem Jahr schwerer, denn es geht niemand mehr ran, etwa in Arztpraxen. Man findet auch die Nummern nicht mehr so leicht.

Wir reden über den aktuellen Firmenumzug und geraten im Gespräch unversehens immer weiter in den Weißt-Du-Noch-Modus. Mir fällt ein, wie ein Kollege damals, der gar keinen spektakulären Job hatte, nichts wirklich Herausragendes und übrigens ein Job, den ich bald darauf übernommen habe, mit seinem Gehalt eine aus heutiger Sicht gigantische Wohnung in Eppendorf finanzieren konnte. Wie extrem sich das verschoben hat. Welchen Job braucht man denn heute bitte, um eine große Wohnung in Eppendorf finanzieren zu können.

Wir sind beide kurz etwas beeindruckt, meine Mutter und ich, von dem, was uns da alles an schon geschichtlich interessanten Fakten einfällt, als wir über diese Dimensionsunterschiede und die paar Jahrzehnte nachdenken. Was man da für eine Spanne überblickt – es fühlt sich doch fortgeschritten seltsam an.

Wir kommen dann selbstverständlich noch auf weitere Namen von Kolleginnen und Kollegen von damals. Ich suche im Internet nach diesem und nach jener, deren Namen markant genug dafür waren. Ich lese Todesanzeigen und Nachrufe vor. Das ist allerdings nur begrenzt erbaulich, wie wir schnell bemerken. Es ist eher schon vorausgreifend novembrig. Aber okay, wir sind immerhin in der zweiten Hälfte des Oktobers.

Kreideschrift auf dem Pflaster: "Auch du bist das Überbleibsel vieler Tode"

Diese Kreideschrift, ich muss es wohl ergänzen, findet man hier vor dem Schaufenster eines Bestatters. Die Fußwege werden hier durchaus durchdacht beschriftet, wie man sieht.

Es ist so unpassend jedenfalls auch wieder nicht, was wir da treiben, und normalerweise, das sagen meine Mutter und ich uns schließlich noch, normalerweise gehen wir mit den gemeinsamen Erinnerungen doch etwas munterer um. Wie … na, sagen wir: wie Mel Tormé (Wikipedia-Link) mit dem saisonal weiterhin angemessenen Song. Es ist eine Version, die ich noch nicht kannte, und ich finde sie einigermaßen beeindruckend.

Das Video hier auch als Link, nachfolgend eingebettet.

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