Gemütlichkeit im ewigen Jetzt

In der Innenstadt ist währenddessen der Begriff Karstadt verschwunden. Ausgetauscht wurde er auf allen Schildern und Hinweisen, eingewechselt gegen das moderner und gefälliger klingende Galeria. Ein weiterer Wortzauber, wieder Umbenennungsmagie. Man kennt es auch aus vielen anderen Kontexten. Raider hieß dann Twix, und man weiß seit jener Zeit auch, denn der Slogan war aus heutiger Sicht sensationell ehrlich: Sonst ändert sich nix.

Dekorierte und beleuchtete Tannenbäume schießen in den Fußgängerzonen aus dem Boden. Immer mehr Holzhütten, die obligatorischen Gemütlichkeitskästchen unserer Volkskultur, stehen nun wieder überall im Weg herum, Weihnachtsmärkte ein paar Tage vor dem Start. Man geht durch die Stadt und kann hinterher sich und den anderen aufsagen, dass man „es“ noch nicht fühlt. Oder fühlst du es etwa schon? Nein, er, sie, es fühlt es auch noch nicht. Er, sie, es schüttelt vielmehr den Kopf.

Smalltalkrituale, so festgefügt, als würden wir sie seit dem Anbeginn der Welt aufführen. Am achten Tag nämlich schuf Gott die zerlegbare und transportable Holzhütte für den Winter im deutschsprachigen Raum.

Gestern erzählte ich diversen Menschen, nicht nur Ihnen, von dem Abend im Theater, und als Regel konnte ich ableiten: Sämtliche Menschen, die jünger waren als ich, kannten Serge Gainsbourg nicht. Das kann man noch als Ergänzung zum im letzten Text erwähnten frühen Vergessen mitnehmen.

Und ich bleibe dabei, dass es etwas unterschätzt wird, mit welcher Selbstverständlichkeit die Menschen ungefähr meiner Generation das kannten, was vor uns war, und mit welch ähnlicher Selbstverständlichkeit man das als eher jüngerer Mensch heute nicht mehr kennt. Es ist selbstverständlich kein Vorwurf, ich wundere mich nur immer wieder, wie wenig dieser doch einigermaßen drastische kulturelle Bruch thematisiert wird.

Erst deutlich nach meiner Jugend nämlich wurde die Gegenwart als endlos interessant eingeführt. Davor war die Vergangenheit deutlich reicher als jedes gegenwärtige Wochenende, das irgendwie mühsam herumzubringen war. Deswegen lasen wir die alten Bücher aus den Regalen der Eltern, guckten die Western von gestern und hörten im Radio immer noch Sinatra, die Beatles etc., die alle schon vorbei waren. Deswegen legten wir fast unweigerlich die Musik von damals auf: Es war eben die Musik, die da war. Und deswegen kennen wir die heute noch, obwohl sie so viel älter war als wir.

Man brauchte erst viel mehr Fernseh- und Radiosender, man brauchte vor allem auch das Internet, YouTube, TikTok, Instagram, Smartphones etc., um endgültig und ausweglos im Jetzt hängenbleiben zu können. Im nie mehr aufhörenden Jetzt.

Welches sich die esoterische Fraktion damals übrigens auch irgendwie anders und ein klein wenig seliger vorgestellt hatte. To say the least.

Der Anleger Jungfernstieg am Abend

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2 Kommentare

  1. Gut, dass Sie über dieses Phänomen des Vergessens schreiben, das ist ja wirklich interessant. Gut auch, weil ich bislang in meiner Naivität dachte, ich hätte bei der Erziehung meiner Kinder irgendwas falsch gemacht, denn Pippi und Ronja, die kennen sie ja. Aber plausibel, die Vielfalt der Medien – und eine höhere Empfindlichkeit bei diskriminierenden Darstellungen im historischen Content, das würde ich gerne noch hinzufügen.

  2. Eine kleine Gegenbeobachtung: Auf den großen Parties in der Stadt (wie etwa CSDs), in den Bars, in den viele junge Leute tanzen und auf Privatparties von Studierenden nehme ich gerade fast ausschließlich Musik von Anfang 2000 bis 2018 wahr. In meinen letzten Jahren am Gymnasium und während meines Studiums (also so vor 10, 15 Jahren) wäre das völlig undenkbar gewesen, fast alle Musik war die gegenwärtige, von der gelegentlichen 90er-Party mal abgesehen.

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