Nur mit großer Mühe schreibe ich diese Zeilen. Denn ich muss meine Unterarme dabei etwas albern und gekünstelt in der Luft halten, was vermutlich seltsam spitzfingrig und affektiert aussieht. Ich kann sie beim Tippen aber nicht, wie es für mich normal und auch wünschenswert wäre, auf dem Tisch, nicht einmal auf dessen Kante, ablegen.
Dort würden sie unweigerlich festkleben. Der Küchentisch ist, um ein norddeutsches Wort zu benutzen, das ich allerdings schon immer schrecklich fand, backsig, also klebrig. Dergestalt klebrig ist er, dass die Unterarme sogar ein deutliches und überaus unangenehmes Geräusch machen, wenn ich sie wieder anhebe, nachdem sie eine Weile Tischkontakt hatten. Es ist ein Geräusch, das alles in mir triggert, was nur irgend zum Hausmann neigt, und wenig ist das nun nicht. Es triggert außerdem den Widerhall meiner gut erinnerten Lübecker Großmutter, die beim beiläufigen Gang durch die Wohnungen der Verwandtschaft damals stets feststellte, wo man einmal feucht durchzuwischen habe, um einen ordnungsgemäßen und also wünschenswerten Zustand herzustellen.
Ich habe dazu nur einmal eine Steigerung von ihr gehört, fällt mir gerade ein. Das war, als sie mich in meinem ersten WG-Zimmer besuchte. Welches sich dabei gerade in einem Zustand befand, mit dem man auch die Exzesse gewisser Bands mit Drogenhintergrund hätte bebildern können. Ich war damals der Ansicht, dass das so gehörte, in meinem jugendlichen Alter, es kam mir cool vor. Da stand sie also zwischen den herumkollernden leeren Flaschen, den übervollen Aschenbechern, zwischen dem undefinierbaren Zeug, der gebrauchten Wäsche und den Resten aller Art, die sich frei und wild über den Fußboden verteilten, sie sah sich ruhig um. Und sagte dann nach einer Weile mit Bedacht: „Vielleicht mit einem Kehrblech anfangen.“
Sie war ein betont lösungsorientierter Mensch, wie sich mir erst im Rückblick erschließt.
Aber egal, ich war also gedanklich und in den ersten Zeilen dieses Artikels bei dem Tisch, an dem ich hier sitze. Manchmal kommt man gedanklich ohnehin nicht viel weiter, Sie kennen es vielleicht. Und man muss es auch gar nicht, um für einen Tag genug Text zu haben. Es ist immer genug da, wo man auch hinsieht, und das ist sehr gut so.
Ich hebe langsam einen Fuß an. Auch der Fuß klebt, auch der Boden klebt also. Ich höre wieder ein etwas ekliges, leise schmatzendes Geräusch, während sich meine Haut langsam vom Laminat löst. Und das, was da klebt, es reicht weit. Wie ich jetzt erkennen kann, wenn ich den Boden in einem bestimmten Winkel betrachte.
So etwas passiert, wenn Teenager nachts vollreife Wassermelonen in großen Mengen essen. Was ich auch aus den restlichen Spuren in der Küche, und wenig sind das nicht gerade, absolut sicher schließen kann. Sherlock Holmes nichts dagegen, der Fall kann als gelöst betrachtet werden.
Assoziationen an Wildschweine in der Suhle bieten sich umgehend an. Aber hey, denke ich, um dennoch positiv zu bleiben: Obst, Vitamine, Sommer und Sonnenschein. Außerdem bin ich nicht vollkommen unschuldig, denn ich habe seit Tagen nicht gekocht. Es ist mir zu heiß in der Küche unter dem Dach, um darin am Herd zu stehen. Von irgendetwas aber muss der Mensch in den Hitzemonaten leben, auch und gerade als Heranwachsender.
Wenn ich jetzt anfangen würde, diese blassroten Melonenspuren sämtlich selbst zu beseitigen, es wäre erstens pädagogisch vollkommen wertlos und würde zweitens auch meine Schreibzeit blockieren. Der einzig dafür verfügbare Slot am Tag wäre dann bald verpasst, und da hört es doch wohl auf. Sie wollen schließlich etwas zu lesen haben. Also einige von Ihnen zumindest. Und ich möchte bitte geschrieben haben. Denn so gehört es mittlerweile in mein Selbstbild: Ich möchte meine Tage stets als jemand verbringen, der schon geschrieben hat. Und ich schätze es generell nicht, Dinge anders als sonst zu machen.
In dem hervorragenden Roman, den ich gerade lese, „Lichtjahre“ von James Salter, wird das Vergehen der Zeit durch das Altern des Familienhundes dargestellt. Vom übersüßen Welpen bis zum greisen Tier, grauschnäuzig und halbblind, so geht es langsam und unerbittlich durch die Kapitel. Mit diesem Hund altern die Kinder, die Ehe, die Liebe und auch die Ambitionen der Eltern, ihre Lebensentwürfe. Ebenso verändern sich die Gegend und die gesamte Stimmung des Buches. Sehr gekonnt wird es eingesetzt, dieses Hilfsmittel der Zeitvermittlung. Gar nicht aufdringlich, eher dezent.
Man könnte als Autor, überlege ich, aber umgekehrt auch das Dauerhafte am Familienleben, das gefühlt ewig Gleichbleibende und die endlosen Wiederholungen der Alltäglichkeiten als Leitmotiv durch sämtliche Kapitel darstellen. Man könnte dieses Beständige etwa durch Variationen der Klebrigkeit in die Passagen und Szenen einfügen, denke ich mir.
Und zwar über die diversen im Laufe der Jahre flächig verteilten Körperflüssigkeiten hinweg. Unter Beachtung all der zerspeichelten Breizubereitungen aus der Kleinkindzeit, dazu noch mit Erwähnungen von zertretenen und verstreuten Kindergeburtstagskuchenresten. Mit den heimlichen und längst untrennbar mit dem Stoff verbundenen Bettschokoladen. Auch mit den unzähligen vergossenen Limonaden und dem auf jedem Quadratmeter der Wohnung in jedem Sommermonat immer wieder vertropften Eis aus Waffeln und Bechern. Mit den vergessenen Bonbons in den Hosen- und Jackentaschen und den ungeschickt versteckten Lollis unter Kissen und Decken. Mit den nachlässig und nur vermeintlich kurz geparkten Kaugummiresten unter Tischen und Stühlen. Und mit diesen so schwer zu deutenden Unaussprechlichkeiten in den leergeräumten Ranzen nach jeglichen Ferien.
Quer durch sämtliche in Frage kommenden Untergruppen von Lebensmitteln, es sind nicht eben wenige. Bis hin zu den erst am Ende der Jugendzeit auftretenden Pfützen von alkoholhaltigen Mixgetränken der zuckersüßen und bunten Art:
Klebejahre.
Na ja. Vielleicht ist es auch ganz okay, dass ich keine Familienromane schreibe.
***
Sie können hier Geld in die virtuelle Version des Hutes werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch. Die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.
KLEBEJAHRE! Ein großartiger Titel, den Roman würde ich sofort kaufen. Danke für die zuverlässig wunderbare Tagesstartunterstützung, Ihr Swuuj.
Ob es pädagogisch sinnvoll ist, es so zu lassen, oder fürs eigene Wohlbefinden besser, achselzuckend zu Kehrblech bzw. Wischlappen zu greifen, konnte ich für mich nie abschließend klären. Meine fortlaufende Hypothese ist, dass es manchen Menschen offenbar nicht „nichts ausmacht“ oder „egal ist“, wenn rund um den Herd alles fettverspritzt ist (Küchenschränke offenstehen / Wischlappen als nasser Klumpen in der Spüle liegen), sondern sie _es nicht sehen_. Dann wäre es keine Frage der Bewertung, sondern eine der Wahrnehmung.
Ich las zunächst: „So etwas passiert, wenn vollreife Teenager nachts Wassermelonen in großen Mengen essen.“