Frau Novemberregen schreibt u. a. über den Hamburger Hauptbahnhof, und es ist bemerkenswert, herausstechend und äußerst seltsam: Sie urteilt nicht negativ. Ihre ersten und zweiten Gedanken zum Bahnhof sind nicht hart urteilend, angewidert oder auf der Flucht notiert. Das fällt auf, denn der Hamburger Hauptbahnhof, er hat kein gutes Image und sehr wenig Freunde.
Er ist im Erleben für viele zu groß, dabei ist er objektiv zu klein für die durchrauschenden Massen. An den Rändern zeigt er zu viel Elend, auch im Untergrund, er ist zu kommerziell oder hat zu wenig Geschäfte in sich, je nachdem. Er wirkt furchterregend und abstoßend, er ist gruselig und nachts entschieden unheimlich. Auf viele wirkt er so, auf die meisten. Nicht auf mich.
Man fragt in Medien Menschen gerne nach Lieblingsorten in Städten. Ich wäre da insofern auffällig, als ich ohne langes Nachdenken den Hauptbahnhof nennen würde. Und zwar nicht, um damit wieder als besonders exzentrisch, witzig oder interessant rüberzukommen, sondern weil es tatsächlich so ist.
Ich gehe da bekanntlich jeden Tag Menschen gucken. Enorm viele davon bekomme ich dort zur Auswahl, Tausende und Abertausende, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Und ein wenig ist es wohl wie bei denen, die Tierfilme drehen: Es ist oft für Beobachtende interessanter, wenn etwas passiert. Ein Elch am Waldrand, der zehn Minuten lang neben dem blühenden Weißdorn steht und stumpf in den Sonnenuntergang glotzt – das sendet man dann nicht, auch wenn es gut aussieht. Trifft er aber eine attraktive Elchfrau und findet er die interessant, bahnt er etwas an, geht er auf sie zu … Die Spannung steigt, die Doku-Minuten füllen sich. So einfach ist das.
Und was machen die Menschen im Bahnhof? Nahezu alles machen sie. Sie gehen herum, sie laufen, sie kaufen, essen, trinken, stolpern und schleppen Gepäck. Sie überreichen sich Blumen und Geschenke und Luftballons, sie verabschieden und begrüßen sich, sie weinen, lachen und schimpfen. Sie erziehen ihre Kinder, und die laufen ihnen weg und werden wiedergefunden. Sie füttern Tauben und laufen vor Mäusen weg, sie machen sich Notizen und lesen Bücher und gucken aufs Smartphone und tippen auf Notebooks und spielen Geige – es ist fantastisch.

Ein Wimmeltheater mit endloser Szenenauswahl für mich. Es ist fast immer irgendetwas interessant. Und wenn nicht, muss ich nur etwas weitergehen oder vielleicht mal hinunter zu einem Gleis, wo gerade ein Zug steht, und der fährt nach … Kopenhagen. Da kann ich dann gucken, wie eigentlich die Menschen aussehen, die nach Kopenhagen fahren. Vielleicht ja anders als die, die nach Zürich fahren. Man müsste es beobachten und man kann es dann auch. Ist es nicht großartig?
Ich finde es großartig.
Und, um einen vermutlich etwas albern wirkenden Trick zu verraten: Man kann sich dort auch gegen seelische Abstürze selbst helfen. Oder ich zumindest kann das, auf eine denkbar einfache Art, die vermutlich etwas dumpf nach Ratgeberliteratur klingen wird, die aber gleichwohl wirkt. Ich habe es ausführlich getestet, über viele Jahre.
Wenn ich nämlich sehr schlecht drauf bin, also schwarzgestimmt bis zum Anschlag, novembriges Dunkeltuten im Hirn (falls Sie den merkwürdigen Begriff „Dunkeltuten“ nicht kennen, ich habe vor Jahren einmal erklärend darüber geschrieben und schalte den Artikel eben wieder frei, er passt gerade) und sonst nicht mehr viel, dann gehe ich auch in den Bahnhof. Zu einer der Treppen zu den Gleisen gehe ich, und ich trage, es klingt wirklich kitschig, ich weiß, irgendeiner steinalten Dame oder einem gebrechlichen Rentner den Koffer runter oder rauf.
Also natürlich erst nachdem ich gefragt habe, ob das okay sein könnte. Ich entreiße keinen Fremden ihre Koffer einfach so. Denn im Bahnhof haben ja alle Angst vor allen, und zwar besonders ältere Menschen, die sich in ihr Gepäck verkrallt haben.

Ich aber trage meist Anzug, wirke daher auf den ersten Blick noch halbwegs seriös und bemühe mich in solchen Momenten außerdem, täuschend echt freundlich zu gucken. Und dann geht es meist. Ich trage ihnen den Koffer hinauf oder hinunter und wir wechseln dann noch zwei, drei harmlose Sätze. Woher und wohin und das Wetter, das Wetter – und ganz erstaunlich oft ist es so, dass es dann wieder geht.
Dass also selbst gewählte „random kindness and senseless acts of beauty“ dem eigenen Hirn eine Möglichkeit der Milderung vermitteln können. Ich halte das mittlerweile für eine klar anwendbare Methode. Und so exzentrisch bin ich auch wieder nicht, obwohl ich entschieden zu den eher seltsamen Freaks gehöre und auch großen Wert darauf lege, dass sich diese Methode nicht auf andere Menschen übertragen ließe. Nehme ich jedenfalls stark an.
Kleine, sogar ganz kleine freundliche Interaktionen – that’s it. Also manchmal jedenfalls. Nach meiner Theorie und Erfahrung braucht man dafür allerdings unbedingt fremde Menschen. Es klappt nicht in der Familie und es klappt auch nicht im Büro.
Aber bitte, vielleicht finden Sie anderes heraus. Man kann da interessante Versuchsreihen starten.
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Es sind die kleinen Dinge und Freundlichkeiten welche im Alltag leuchten. Danke fürs Erinnern ?
Was für ein schöner Text… Ich persönlich trage nicht so gerne schwere Sachen, lobe aber beispielsweise gerne an der Supermarktkasse die tolle Nagellackierung der Kassiererin, das sorgt auch stets für eine kleine Freude.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich die Kofferschleppmethode zumindest auf sehr viele übertragen ließe 🙂 Nun gibt es bei uns auf dem Dorf keinen Hauptbahnhof – es gibt gar keinen Bahnhof – aber ich kann mir eine ganze Reihe von Variationen vorstellen.
Ich finde den Hamburger Hauptbahnhof auch gut. Nicht nur weil ich selber Ex-Hamburger bin, sondern auch, weil ich zwölf Jahre lang wöchentlich von Berlin nach Hamburg gependelt bin. Leider ist er wirklich zu klein und hat nicht genügend Gleise. Was ich aber am Schönsten finde ist die Spurregelung auf dem Südsteg, wo Bodenmarkierungen andeuten, auf welcher Seite die Leute zu gehen haben. Leider halten sich nicht alle daran, sondern manche schwimmen gerne gegen den Strom.
Der Hamburger Hauptbahnhof hat in meinem langen Leben schon oft eine zentrale Rolle gespielt. Es hat Jahre gegeben, in denen ich ihn täglich durchquerte, Angst hatte ich nie, Elendsgestalten gab und gibt es dort seit je. Das Gefühl pulsierenden Lebens aller Art, aller Nationalitäten hat auch für mich seinen ganz eigenen Reiz.
Und zur Stadtbilddiskussion denke ich immer: Zeig mir nur EIN Dorf ohne Problemfall.
Ach, und wer freut sich nicht über ein Lächeln oder Lob, damit muss man wirklich nicht geizen.