Ein Geruch nach Denkmalschutz und Staub

Am Donnerstagmorgen koche ich Suppe, noch bevor in den Häusern ringsum auch nur ein einziges Licht angeht. Ich brauche die Küchenzeit am Nachmittag für das kostenlose Orgelkonzert in der Innenstadtkirche. Ich muss irgendetwas anders als sonst machen, sonst wird mir der Besuch dort wieder nicht gelingen können. Es ist ein Tricksen und Schieben mit den Timeslots und To-Dos. „Man tut und macht, bis einem das Blut unter den Fingernägeln hervorspritzt“, wie man noch bei Kempowski geschimpft hätte, „… und was ist der Dank?“

Der Dank der Familie fällt später erwartungsgemäß aus. Ich teile die Erfahrungen aller Hausfrauen vor mir, aber die Tat birgt andererseits ihren Lohn doch in sich, ganz wie es sich gehört. Denn am Nachmittag schaffe ich es tatsächlich, rechtzeitig in die Kirche zu kommen, zum ersten Mal in dieser Saison und unter hektischer Einnahme eines Imbissessens unterwegs. Auch mal schön, wenn andere etwas für mich zubereiten.

Gut besucht ist die Kirche schon, als ich hereinkomme, diese Musikreihe findet Anklang. Ich setze mich auf den aus dem letzten Winter gewohnten Platz am Rand des Kirchenschiffes. Ein bekannter und vertrauter Geruch liegt in der Luft, ein Geruch nach Moder und Ziegel, nach Denkmalschutz und Staub. Auch nach alten Menschen riecht es, nach feuchten Jacken und klammen Schuhen, obwohl es an diesem Tag versehentlich gar nicht regnet. Es hat eine Ahnung von ÖPNV-Geruch im Herbst.

Und wenn diese tiefe, namenlose Trauer, die manche Menschen regelmäßig in Kirchen tragen, ebenfalls einen Geruch haben sollte, dann ist diese Note auch wahrnehmbar. Etwas unbestimmbar Schmerzhaftes im Hintergrund, es mag vielleicht auch ein vage erinnerter Friedhofskapellengeruch sein. Mit einer Ahnung von welken Blumen und offener Erde darin.

Eine leere Kirchenbank mit rotem Polster in St. Jacobi

Es ist etwas schummrig, angenehmes Kircheninnenlicht nach dem hell bestrahlten Büro. Man setzt sich, es wird langsam ruhiger. Ein Baby, das abwechselnd von der Mutter und vom Vater gehalten und geschaukelt wird, gibt ein letztes, etwas weh und weinend klingendes Einschlafquaken von sich. Es wird die erwartete Musik nicht weiter stören und beneidenswert selig schlummern, fest gehalten und gewiegt.

Verhaltenes Husten, Wartezimmergeräusche. Leises Reden auch. Man scharrt mit den unruhig bleibenden Füßen, die Bänke knarren. Ein altes, weißhaariges Paar steckt die Köpfe zusammen. Er streicht ihr über den Kopf, ihre Hand liegt auf seinen Knien. Ich gehe gerne allein aus, ich bin auch sonst gerne allein, öfter als andere vermutlich. Aber ich finde es andererseits respektabel und ausdrücklich lobenswert, wenn solche Paare herangereifte Zweisamkeit öffentlich und deutlich demonstrieren.

Die Menschen brauchen Ziele, das ist unbedingt einzusehen.

Die Leute auf den harten Bänken vor mir biegen und recken sich. Wie sitzt man da jetzt am besten und dann auch noch für länger. Ein Mann stöhnt, er scheint große Schmerzen im Rücken zu haben. Ächzend sucht er die einzig mögliche und rettende Position, und das dauert. Es ist eine längere Versuchsreihe, mir tut schon beim Zusehen nach einer Weile die Gegend um einen bestimmten Wirbel weh.

Eine junge Frau setzt eine überdimensionierte Kapuze auf und versinkt dann in ihrer Kleidung wie in tiefem Schatten. Bis nichts mehr von ihrem Gesicht zu sehen ist, da ist nur schwarzer Stoff, der ein Nichts umhüllt. Es hat etwas von einer Disneyfigur, so hat man in den alten Filmen mystische Frauenfiguren dargestellt.

Eine andere Frau setzt sich und scheint sofort einzuschlafen. Der Kopf kippt nach vorne, sie atmet tief. Wer weiß, vielleicht ist es ein wöchentlich wahrgenommenes Entspannungsritual.

Eine andere Frau weint still und bebend, beide Hände vor dem Gesicht. Eine Frau nicht weit von dieser, in meinem Alter etwa wird sei sein, macht sich Notizen, so wie ich. Wir sehen uns kurz an und schreiben uns auf.

Ein Mann wechselt viermal den Platz, nein, fünfmal, sechsmal. Er sieht sich dabei immer wieder zur Orgel um, er versucht womöglich, die Akustik der Kirche korrekt zu schätzen. Noch vor dem ersten Ton.

Dann wird es kurz ganz still, hier beginnt es stets pünktlich auf die Minute. Man meint zu ahnen, wie der Organist die Hände hebt und einen kleinen Moment über dem Instrument schweben lässt. Und schließlich wird die letzte quengelnde Unruhe im Kirchenschiff  weggeorgelt, vergeht das alles mit dem Bach, mit dem Mendelssohn Bartholdy.

Und mit diesen Chorälen

erheben sich die Seelen,

möchte man da vielleicht gerne denken. Ob es aber stimmt, das dürfen wir nicht voraussetzen und werden es selbstverständlich auch nicht erfahren. Zumindest bei mir ist es jedenfalls zweifelhaft, so wie immer. Genossen habe ich die Musik dort dennoch, und wiederholen werde ich den Besuch sicher. Am Wochenende wird es außerdem reichlich Bach im Michel für mich geben.

Die h-Moll-Messe, was ich aber nur so kennerhaft hinschreiben kann, weil es auf dem Ticket steht. Ich werde nach Möglichkeit berichten.

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