Dennoch

Am Sonntag haben wir das erste Mal einen Sohn zum Wählen geweckt. Geschichte findet auch in Familien statt und ich begrüße das demokratische Teilnehmen ab 16.

Auch wenn ich es mehr als erstaunlich finde, wie leicht es die anderen Parteien den Rechten gemacht haben, bei denen (also bei den jungen Wählerinnen gesamt, nicht speziell bei meinen Söhnen) massiv Einfluss zu gewinnen. Ein mich immer noch verblüffender Umstand, wie unfassbar schlecht die Kommunikationsstrategien in meiner politischen Ausrichtung im weitesten Sinne sind. Wie durchweg unfähig die Beteiligten, wie hilflos und stümperhaft.

Das ist einer der Umstände, für die ich keine mir schlüssig vorkommende Erklärung finde. Warum ist das so? Was wirkt denn da? Ich hätte dafür gerne eine brauchbare Privattheorie, warum Rechte das offensichtlich besser können, ich habe sie nicht.

Direkt anschließen kann ich mein unentwegtes Staunen über die Zielsicherheit, mit der die Medien, mittlerweile fast sämtliche Medien, an ihrer Abschaffung oder zumindest an der Weiterführung in die Bedeutungs- und Niveaulosigkeit weiterarbeiten. Aber das haben andere nun ausreichend dargelegt und auch unterfüttert, immer wieder. Ich kann da nichts Originelles mehr anlegen und es ist auch egal. In den nächsten Wochen werden in den Talkshows noch mehr Nazis sitzen und sich noch gelassener ausbreiten, werden auf den Titelseiten noch mehr Fragen gestellt werden, die rechte Positionen schon ohne die Antwort stärken. Das damalige (2018 war es) „Oder soll man es lassen?“, manche werden sich noch daran erinnern, es wirkt fort und fort und gärt immer weiter.

Man kann das alles ohne Glaskugel zielsicher vorhersagen und es scheint kein probates Gegenmittel zu geben.

Zu den Ergebnissen der EU-Wahlen weiß ich ansonsten nichts Geistreiches zu sagen, mir ist auch nach den elenden Balkendiagrammen in den News noch zu schlecht, um mich damit länger zu befassen.

Dan Gardner schreibt gerade über moralischen Fortschritt:

Progress is possible: That’s a modest conclusion, in a sense, but also one of immense importance — particularly at a time when so many talk as if the elevator can only go down.”

Dein Wort im Gottes Ohr, möchte man zweifelnd drunter schreiben.

Wobei ich gerade abends reihenweise Filme aus den Siebzigern sehe, alte französische Filme, und wenn man die sieht und über die abgebildeten sozialen Probleme nachdenkt, an denen sich etwa Claude Chabrol damals Film um Film abgearbeitet hat, wird man Dan Gardner widerstrebend und zumindest teilweise Recht geben müssen. Trotz des aktuellen Rückschritts.

Aber meine Laune, ganz komisch, hebt das nicht. Dieser Rückschritt gerade ist mir einer zu viel.

Das haben geschichtlich gesehen vermutlich alle Betroffenen stets so gesehen. Quer durch die Jahrhunderte und bei sämtlichen Rückschritten, an denen die Historie nicht eben arm ist. Es gibt Phasen, da ist Optimismus etwas viel verlangt – vielleicht denkt es fast jede Generation irgendwann.

Und dann macht man eben dennoch weiter. Wie immer, wie alle vor uns. Man kann das nachlesen, so war es stets.

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Kurze Auftritte, Kreidekreise und Kreuze

Ich habe einen größeren Teil des Sonnabends damit verbracht, mir eine neue Playlist nur mit Soundtracks zusammenzustellen. Die Radiosendung über Truffaut neulich wirkt immer noch fort bei mir. Hauptsächlich Stücke aus französischen und italienischen Filmen der 50er, 60er und 70er habe ich da gesammelt, wenige Ausnahmen. Die Musik irgendwo zwischen Jazz und Swing, mit vereinzelten, dezenten Anklängen von Funk auch, dazu viel Cocktail-Lounge und Easy-Listening. Es ist Spaziergangsmusik, andere würden bei einigen Stücken sicher auch von Fahrstuhlmusik reden.

Die Spiegelungen in den großen Schaufenstern werden mit Filmmusikschnipseln manchmal ein wenig interessanter. Ach guck, diese Figur wieder, die kenne ich doch von zuhause. Hier spielt er jetzt also auch mit. Na, immerhin ein kurzer Auftritt, das haben andere Regisseure bekanntlich auch so gemacht. Und dann in genau zum Takt passender Geschwindigkeit aus dem Bild gehen, wenigstens seinen eigenen Abgang gut und stimmig finden. Self-Care für Anfänger.


Ansonsten habe ich noch Schlaf nachgeholt, auch tagsüber, und vergleichsweise hemmungslos. Es bestand weiterer Bedarf.

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Im kleinen Bahnhofsviertel war jemand fleißig und hat alle Stolpersteine, von denen es hier nicht eben wenige gibt, einige neue wurden auch gerade erst gesetzt, mit Kreide umkreist und in bunten Farben jeweils groß „FUCK AFD“ danebengeschrieben. Er oder sie wird damit eine Weile beschäftigt gewesen sein.

Gleichzeitig klebt ein anderer Mensch bedruckte Zettel an Stromkästen, auf denen Pamphlete gegen die „linke Ampeldiktatur“ stehen, die Schuld „an Mannheim“ hat. Und es wird auch weiter und täglich gegen Israel und auch gegen die Hamas geklebt und gesprüht und geschrieben und, wenn es denn genehmigt wird, auch demonstriert.

Die urbanen Meinungsäußerungen der öffentlichen Art werden hier gerade schärfer und öfter, direkt neben den Wahlplakaten, die allerdings durchweg vergleichsweise inhaltsarm daherkommen. Was vielleicht auch einiges erklärt, wenn man lange genug darüber nachdenkt.

Dann eine Demo am Hauptbahnhof, jemand schreit, brüllt und tobt in ein Megaphon, aggressiv, fordernd, aufrührend. Wir verstehen kein Wort. Es ist zwar laut, und der Wind trägt die Parolen bis zu unserem Haus und zur offenen Balkontür herein, aber die Satzfetzen kommen unklar und wie verwirbelt hier an. Ich bin nicht einmal sicher, welche Sprache das da ist, eventuell sind es auch mehrere. Nach einer friedlichen Veranstaltung, so viel steht fest, klingt es eher nicht.

Am Tag davor gab es noch einmal eine große Demo gegen Rechtsextremismus, bei der ich allerdings die Ankündigung verpasst habe. Wenn man nicht dauernd aufpasst! Alles Politische hier ist im Moment etwas anstrengend.

Zur Wahl zu gehen allerdings, das wiederum ist leicht. Elf Kreuze sind zu machen, denn in Hamburg sind auch Bezirksversammlungswahlen, und elf Kreuze, das kann man schaffen. Den Rest des Tages habe ich dann frei. Okay.

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Bloggen im Lebenskreis, Kaurismäki, Kafka, Goodman

Hier einige Links bei Ligneclair, ich mochte besonders den ersten.

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Die Kaltmamsell schreibt im unteren Teil des Textes über das Bloggen im Lebenskreis. Siehe in dem Zusammenhang aber auch hier, es passt gerade.

Zu den beiden Fragen, welche die Kaltmamsell in den letzten Sätzen ihres Textes aufwirft, möchte ich zweimal ein deutliches Ja schätzen. Dummerweise werden wir die Auflösung dann aber nicht oder kaum noch erleben, dieses Rechthaben werde ich also eher verpassen. Etwas schade ist es schon, denn ich habe ab und zu gerne mal Recht. Wie wir alle, nehme ich an.

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Gesehen (bei Filmfriend, aber auch anderweitig bei mehreren Streamingdiensten verfügbar):  Die andere Seite der Hoffnung, das ist Aki Kaurismäkis Film über die Geschichte eines Flüchtlings aus Syrien in Finnland, aus dem Jahr 2017. Hier ist die Wikipedia-Seite dazu, hier gibt es eine längere Rezension im Spiegel und hier noch eine im Tagesspiegel.

Ich fand den Film schwer auszuhalten, und zwar im besten Sinne. Er war mitnehmend und fordernd, ich hatte, wie nennt man das, geradezu seelische Mühe, mir das anzusehen. Ein beeindruckender Film, ich fand ihn auch bestens besetzt, eine Empfehlung von mir. Das wird dann allerdings kein besonders lustiger Filmabend, obwohl auch die aus früheren Filmen bekannten Kaurismäki-Elemente und die vertraute Optik darin selbstverständlich enthalten sind, sogar sehr gelungen sind

Der folgende Trailer hebt eher auf die witzigen Momente des Films ab, sie lockten sicher mehr Interessierte in die Kinos. Das wird der ganzen Länge allerdings nicht gerecht, finde ich. Für mich war es eine eher ernste Angelegenheit, keine Komödie.

Aber gut, vielleicht liegt es wieder nur an mir und an meiner Art der Wahrnehmung. Das muss man immer in Betracht ziehen, bei allem Kunstgenuss.


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Gehört: Eine Folge Radiowissen über das Schloss von Kafka. Sie ist auch dann noch hörenswert, wenn man schon einiges oder auch vieles über den Roman weiß. Für mich war Interessantes dabei und das Schloss ist definitiv mein Kafka-Text der Wahl.

Ebenfalls gehört: Diese Folge über Benny Goodman, den man auch einmal wieder in Ruhe hören könnte, für mehr Swing in der Stimmung. Da hatte ich doch vor Jahren einmal dieses fantastische Video mit Peggy Lee, dämmert mir soeben, was war es denn noch gleich – dieses hier. Wun-der-bar.

 

In den Kommentaren bei Youtube steht, Peggy Lee sei bei dieser Aufnahme erst 22 Jahre alt gewesen, man wundert sich dort über ihr souveränes Auftreten. Das ist oft schön bei Youtube, gerade bei alter Musik, dass man in den Kommentaren mit Fachwissen und Nerd-Ergänzungen aller Art zugeworfen wird. Ich lese das gerne nach.

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Eine weitere Belehrung

Beim Haltungsturner geht es um den schwieriger gewordenen Umgang mit Medien, ich kann das Geschilderte weitgehend teilen.

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Gelesen: Wiederum ein Buch, das mich zufällig per öffentlichem Bücherschrank erreichte, ein Fundstück. Vor Jahren habe ich es schon einmal angefangen, dann damals aus unklaren und längst vergessenen Gründen nicht beendet. Jetzt aber gerne durchgelesen: „Auf der Mântuleasa-Straße“, von Mircea Eliade. Deutsch von Edith Horowitz-Silbermann, ein altes Suhrkamp-Buch.

Eine Geschichte über das Erzählen von Geschichten ist es, ein Anklang an Tausendundeine Nacht. “Da muss ich weit ausholen“, sagte er, und während ich dieses Buch lese, könnte ich wieder endlos über den merkwürdigen Mechanismus und Zauber des Erzählens nachdenken. Ein Thema, in dem man sich jederzeit verlieren kann.

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Als ob die Herzdame und ich überhaupt noch einer weiteren Belehrung zum Zusammenhang zwischen Pubertät und Entspannung bedürftig gewesen wären, setzten sich die unlängst erwähnten, phasenbedingten Dramen nächtlich fort und ich, nein wir, also mindestens drei in dieser Familie, schliefen wiederum nicht. Oder doch nur ein, zwei Stunden. Und zwei Stunden, so viel steht fest und ist erwiesen, reichen mir nicht mehr aus.

Der Typ neben mir, das bin ich, denke ich, während ich am frühen Morgen seltsam verloren irgendwo in der Wohnung stehe und angestrengt versuche, mich daran zu erinnern, wer ich bin, was ich morgens normalerweise so mache und ob ich vielleicht einen Beruf habe.

Es ist für mich eines der Rätsel des Lebens, warum sich schlaflose Nächte fast zwingend reihen müssen. Wochen- oder sogar monatelang schläft man friedlich und besinnlich durch, man hat wunderbar laufende Alltagsroutinen in der ordentlichsten, in der geradezu spießigsten Ausprägung – und dann zack, Vorfall1, Vorfall2, Vorfall3, Vorfall4.

Das Drehbuchautorenteam des Lebens hat einen Knaller-Einfall nach dem anderen und amüsiert sich vermutlich prächtig. Man hört sie im Hintergrund lachen, die ganze Bande.

Und man liegt als sich unangenehm wehrlos fühlende Figur in diesem Drehbuch nachts wach und staunt und begreift es nicht, was da geschieht. Man möchte schon morgens um 7 mit aller Dringlichkeit wieder ins Bett gehen und sich intensiv dem Ergänzungsschlaf und der Migränevermeidung widmen. Zu einer Zeit also, zu der die Welt doch bekanntlich noch in Ordnung sein müsste, selbst in Familien.

Das war in meiner Wahrnehmung schon immer so, diese Reihungen wiederholen sich verlässlich durch die Jahrzehnte. Bestimmt aber ist es schon so, seit wir Kinder haben. Was unserer Wahrnehmung von „schon immer“ mittlerweile entspricht. Es kommt mir einigermaßen unwahrscheinlich vor, einmal nicht Vater gewesen zu sein. Wann soll das gewesen sein, war ich da selbst noch Kind oder was.

Man denkt nach solchen Nächten manchmal wie auf Drogen, merke ich, und schön ist der Trip nicht unbedingt.

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Beim Verlassen des Hauses dann immerhin ein kleiner Shuffle-Erfolg, der algorithmische Zufall spielt mir Musik von Billy May vor, und zwar das Thema vom „Odd Couple“:


Das ist Musik, stelle ich fest, die hervorragend passt, wenn man an einem etwas seltsamen Morgen in eher diffuser Gefühlslage aus dem Haus geht. Bestens geeignet für den Beginn eines Tages, an dem, wer weiß, wieder zu viel passieren wird.

Und es ist Musik, die den Freunden von „Friends“ bekannt vorkommen dürfte:


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Mann mit Koffer

Im Hamburger Hautbahnhof gibt es eine Kunstinstallation von Christel und Laura Lechner, hier einige Bilder und Erläuterungen dazu (leider eventuell längere Ladezeit), und hier noch die Seite der Künstlerinnen.

Der Mann mit Koffer, Sie sehen ihn auf der erstverlinkten Seite, das zweite Bild von oben in der rechten Randspalte, steht neben einer Rolltreppe im endlosen Strom der Reisenden und irritiert die Menschen, die an ihm vorbeigehen. Weil er so normal aussieht, nehme ich an, weil er auch nicht erklärt wird. Neben ihm steht kein Schild, wie man es in einer Ausstellung erwartet.

Weil man also nicht sofort weiß, was der da nun soll. Was macht der da, warum steht der da. Machen wir ein Selfie mit ihm, ist das cool oder nicht. Immer eine besonders wichtige Frage, in diesen Zeiten. Ist er am Ende Werbung für irgendwas? Dann wäre man darauf hereingefallen, das möchte man nicht. Dann wäre das Selfie am Ende noch peinlich.

Ist er Kunst, also richtige Kunst, ist er Kunstkunst? Ist er Werbung für Kunst? Hier ist doch die Kunsthalle irgendwo in der Nähe, das könnte passen, vielleicht ist da gerade eine Ausstellung mit solchen Skulpturen.

Und ist der gut, der Mann mit dem Koffer, also gut als Kunst? Der ist schon gut, oder? Der ist doch gut gemacht? Ist der auch von dem Dings mit den anderen Figuren, dem Balkenhol? Hieß der so? Da kennt sich jemand aus.

Und auch die vorbeikommenden Kinder fragen: „Mama, was ist das?“ „Das ist, äh, na, so eine Figur.“

Ich lungere manchmal neben diesem Mann mit dem Koffer herum. Alles, was im Bahnhof besonders ist, füllt mein Notizbuch. Ich sehe den Menschen zu, die ihn ansehen. Ich höre mir ihre Gesprächsfetzen an und ich sehe, wie Kunst wirkt, wie dieses Objekt wirkt. Nur wenigen Passanten fallen die anderen Figuren auf, die in der Höhe auf dem Geländer über dem Mann mit dem Koffer sitzen, von Tauben umflogen und entspannt wie Touristen auf der Promenade eines Kurortes in den Bahnhof sehend.

Dafür müsste man erst nach oben sehen, um über diese Figuren auch noch zu staunen. Sie sind durch ihre Platzierung eher beiläufige Kunst, die man leicht übersehen kann. Aber die, die sie entdecken, die freuen sich dann doch und zeigen sie vielleicht auch anderen: „Gucken Sie mal! Da oben!“ Und dann aber schnell die Handys raus und Bilder gemacht und gleich verschickt. Dass die anderen sich mitwundern sollen.

Dann kommt da einer durch die Wandelhalle, der sieht aus wie der Mann mit dem Koffer, aber er lebt, er ist echt. Er hat fast genau diesen leichten Mantel an, er hat auch diese blaue Hose an. Die Kombination ist nicht selten, das ist klar, so laufen viele herum. Er hat aber dazu noch diese Statur, er hat auch diese Frisur, und er hat einen Koffer in der richtigen Farbe. Der sieht etwas moderner aus als der Koffer neben der Figur, und er wird natürlich gerollt. Kein Mensch hat mehr Koffer, die nur einen Tragegriff haben.

Er ist also kein Zwilling der Kunstfigur, er hat aber doch Ähnlichkeit auf den ersten Blick. Gerade so viel Ähnlichkeit hat er, dass man es ein wenig verblüffend finden kann. Mehr dann nicht, beim dritten Blick verliert es sich wieder etwas.

Der steht das jetzt also vor mir und staunt ebenfalls über diese Figur, er nimmt die Ähnlichkeit sicher wahr. Er steht davor und lacht. Dann legt er dem Standbild einen Arm über die Schulter. Er hält seinen Kopf an den Kopf des anderen, eine merkwürdig innige Geste. Nicht für ein Selfie macht er das, und nicht für ein Foto. Er bittet niemanden darum, sie beide so aufzunehmen. Er macht es nur für diesen Moment mit seinem Kunstbruder, so wirkt es. Und kurz sehen die beiden tatsächlich verwandt aus. Wie Geschwister, die sich lange nicht gesehen haben, die sich im Bahnhof treffen, nach längeren Reisen, vielleicht nach Jahren. Die sich dabei einmal drücken. Wortlos, aber intensiv.

Dann löst sich der Mann wieder von der Figur und geht breit grinsend weiter. Wenn ich es richtig sehe, geht er nicht ganz gerade. Er schlingert dezent, er ist vielleicht ein wenig betrunken. Nicht zu sehr, er schafft seinen Weg sicher noch. Aber er hatte womöglich doch schon zwei, drei Bier oder etwas in der Art. In einem Ausschank in der Wandelhalle vielleicht, wo manche nach Feierabend schnell etwas herunterstürzen, „weil das Leben ist ja hart genug“, um noch eben auch in diesem Text eine Songzeile anzubringen.

Es ist warm heute, da wirken drei Bier zügig und die Wirklichkeit verschiebt sich vielleicht ein wenig. Das kann sein, und wir kennen das auch. Sie verschiebt sich ein kleines Stück weit, bis man seinen Kunstbruder, von dessen Existenz man bis eben noch nichts wusste, leibhaftig vor sich sieht. Da steht er auf einmal neben der Rolltreppe, guck an, ist es zu glauben.

Da kann man einmal kurz innehalten und die Köpfe zusammenstecken, ich verstehe das gut. Ich kann das auch nachvollziehen. Und die zwei, drei Menschen neben mir, die dieses seltsame Paar gerade heimlich fotografiert haben, die verstehen das vielleicht auf die gleiche Weise wie ich, das mag sein.

Ich gehe nach Hause und lese jetzt doch einmal nach, was es mit diesen Figuren im Bahnhof auf sich hat. Das hatte ich bis eben noch nicht gemacht, das habe ich immer wieder vergessen.

Okay. Wissen wir das jetzt auch.

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Stimmig und sinnig

Ich habe weiter im schon vermerkten Camus gelesen, ich habe auch noch etwas über das Buch gelesen. Ich habe dann noch ein wenig über das Leben und Sterben von Camus gelesen. Er ist mir als Schullektüre damals nicht begegnet, er ist aber wohl noch gängig an den Schulen. Und seine „Pest“ habe ich auch nicht pflichtgemäß während der Coronajahre gelesen, wie es viele andere getan haben. Ich sah es in jener Zeit mehrfach in den Timelines und auch in den Feuilletons.

Zwischendurch habe ich beim Kochen alte Musik zu den Filmen von Jacques Tati gehört. Ich beschäftige mich nach der langen Truffaut-Sendung neulich immer noch mit Soundtracks, und nein, es passte beides überhaupt nicht zusammen. Musik und Buch ergänzten sich nicht. Also abgesehen vom gemeinsamen Kulturraum der beiden. Widersprüche aushalten, ne. Oder nein, eher das Absurde aushalten, wenn man schon bei Camus ist. Und zum Absurden, fällt mir auf, passt der Tati dann doch auch.

Sehen Sie, man muss es sich alles nur einen Moment lang zurecht denken, schon wird es alles stimmig und sinnig, schon fügt es sich schnell. Faszinierend.

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Die plattdeutschen Wörter des Jahres sind auch gefunden, sie heißen Tauversicht (Zuversicht) und düstersinnig (trübsinnig, depressiv), und sie scheinen sich zu widersprechen. Man kann sie sich zumindest in einer Gleichzeitigkeit kaum vorstellen. Düstersinnig merken wir uns lieber für den November vor, das legen wir dann ans Dunkeltuten an und basteln uns einen ausgeprägt norddeutschen Herbst.

Mit der Tauversicht weiß ich gerade nicht recht, wo stecke ich sie hin, was mache ich mit der. Und habe ich die, kenne ich die näher.

Was würde dazu gehören, die zu empfinden. Es wäre sicher eine schöne Frage für ein Wort zum Sonntag, das dann mal zehn Minuten vor der Gemeinde erörtern. Wobei religiöse Menschen da einen unfairen Vorteil haben, wie mir scheinen will, aber das ist ein anderes Thema.

Am besten ist es, den allzu großen Begriff auf Teilbereiche zu beschränken, dann wird er für alle erlebbar, auch in schwierigen Zeiten. Ich bin zuversichtlich, dass die nächste Woche auch vorbeigeht, ik bün tauversichtig, dat de nächste Weken ook vörbigeiht. So etwas. Das geht doch, darauf wird man sich einigen können und wir haben die Tauversicht sinnig untergebracht.

Die plattdeutsche Redenwendung des Jahres wurde ebenfalls gewählt, sie lautet „Wecker rieden will, de möt ierst rup up ´t Pierd.“ Wenn Sie nicht aus dem Norden stammen, wird das vielleicht schon etwas nach Fremdsprache klingen, kann ich mir vorstellen. Wer reiten will, muss erst einmal rauf aufs Pferd.

Mit der Anweisung „Rup up ´t Pierd!“ könnte ich von jetzt an jeden Morgen die morgens eher dezidiert unwilligen Söhne wecken. Eine schöne Anregung ist das, und dann wird diese Wendung den beiden langschlafenden Sportsfreunden wie von selbst zum plattdeutschen Boomer-Ausdruck des Jahres.

Hier noch eben die vollständige Meldung zum plattdeutschenThema vom Fritz-Reuter-Literaturmuseum, und der Sportsfreund bezog sich hierauf.

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Timing

In der Reihe der liebenswerten Zufälle beim Schreiben – ich las gerade eine Rezension zu einem Buch von George Saunders, Tag der Befreiung. Ich las dann noch etwas über Saunders nach und guck an, er stammt aus: Amarillo, das hatte ich doch gerade erst. Da kann man den Song gleich noch etwas weiter singen.

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Eine alte Folge Radiowissen über Miles Davis gehört, Kind of Blue, sowie eine über John Coltrane. Zwei Sendungen, die natürlich gut hintereinander passten. Auch dazu hatte ich schon einmal ein Video im Blog, und auch das kann man ruhig mehrfach sehen, finde ich. Man wird dann vielleicht auch endlich Amarillo wieder los:


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Und nun ein freundlicher Hinweis, besonders als serviceorientierte Warnung für andere Bloggerinnen. Mein Text (oben bei Amarillo bereits verlinkt), in dem ich die beiden Begriffe Pubertät und Entspannung in einen gefährlich direkten Zusammenhang gebracht habe, er hat sich selbstverständlich und umgehend gerächt. Wenige Stunden nach Veröffentlichung schon der Einschlag. Szenen und Dramen hatten wir hier, Sie wollen es sich lieber nicht ausmalen. Und blogbar ist das alles keineswegs – aber mein lieber Schwan. Vorabendserie mit Cliffhanger nichts dagegen.

Okay. Es ist sicher eine Art Naturgesetz für schreibende Menschen, nehme ich an, und manchmal ist mir trotz aller Erfahrung danach, solche Risiken einzugehen. Lebe wild und gefährlich, Sie kennen das.

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Mit der Herzdame bin ich an einem der letzten Abende quer durch den großen Park Planten un Blomen gegangen (laut Google-Rezensionen die schönste Grünanlage Deutschlands, las ich hier gerade, und was für ein erzdeutsches Wort ist eigentlich „Grünanlage“, müssten wir unsere gepflegten Strände nicht analog „Blauanlagen“ nennen, aber ich schweife ab).

Wo war ich. Jedes Mal, wenn ich durch Planten un Blomen gehe, denke ich, dass ich das öfter machen sollte. Ich mag es da, es ist ein ausgesprochen unterhaltsamer Park, angenehm abwechslungsreich gestaltet und manchmal, gar nicht so selten, im genau richtigen Maß besucht, nicht zu leer, nicht zu voll. Es bieten sich erfreulich viele Szenen, wenn man da durchgeht.  Man möchte Zeichner sein, wenn man das sieht. Jemand, der sehr schnell skizzieren kann, möchte man sein. Ich habe das immer bewundert, wenn das jemand kann, und ich bin auch immer etwas neidisch. Ich würde das gerne selbst können.

Aber gut, ich skizziere eben manchmal per Blog, nicht per Block. Jeder müht sich, wie er kann.

Bis runter nach Sankt Pauli und zurück gingen wir jedenfalls an diesem grauen Nachmittag, dabei spazierten wir zwischen zwei Regenschauern durch. Genau von den letzten Tropfen des einen bis zum ersten Nieseln des nächsten, auf den Meter präzise und auf die Minute passend. Diese eine kleine Lücke an einem Tag mit fast durchgehender Berieselung, wir haben sie genutzt. Selten perfekt in der Zeit- und Wegplanung waren wir da, als hätten wir etwas berechnet, in ein Konzept gebracht, für unser Hamburger Wetter optimiert und dann korrekt ausgeführt.

If you want to go back home, just go back home … Timing is the answer to success (I guess).

So hieß es einmal bei Kevin Johansen (aus Argentinien), hier gleich im Video in einer schönen Life-Version des Liedes.

Die begleitende Sängerin dort, ich sehe eben nach, ist Ileana Cabra, iLe genannt, aus Puerto Rico Wenn Sie gerade südlicher klingende Musik benötigen, weil Ihr Wetter vielleicht heiterer als unseres ist, gucken Sie ruhig mal bei Ihrem Streamingdienst nach ihr, bei Youtube oder wo auch immer.

So verhilft einem jedenfalls der Zufall, darum ging es eigentlich, ich bin heute verdächtig unstrukturiert, zu wenigstens kleinen Erfolgen. Das ist an gewöhnlichen Werktagen der eher unspektakulären Art besonders wichtig.

Man muss es stets zu würdigen wissen.

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Orte und Geschichten

Das Klima in den Blogs:

„Eine Sache mit dem Klimawandel ist das Ende der Jahreszeiten, wie ich sie früher kannte. Der Winter ist ein endloser Herbst, der übergangslos von einem feuchten heißen Sommer abgelöst wird. Heute war ich zum ersten Mal in diesem Jahr in der Ostsee, die im Mai so viel Sonne abbekommen hat, dass sie warm und trüb war wie in einem Juli meiner Kindheit.“

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Glückwünsche zum 22. Bloggeburtstag!

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Gehört: Die Lange Nacht zum D-Day Über zwei Stunden. Das reicht für mehr als eine Alsterrunde oder für etwas mehr Arbeit im Haushalt. Vielleicht auch mal die Schränke auswischen. Die Sendung passt gerade, wir sind kurz vor dem Jahrestag (am 6. Juni). Empfehlenswert und lehrreich.

Ich war einmal, vor vielen, vielen Jahren, am Omaha-Beach in der Normandie, um den es in der Sendung auch geht. Es war einer der unheimlichsten Orte, die ich je besucht habe. Ich hatte dort ein überdeutliches Gefühl, als sei es ein Strand mit Spuk und nie endender, unfassbar präsenter Geschichte. Als sei das Geschehen noch da, gegenwärtig und fühlbar, als sei das da ein ungeheuer belastetes Stück Landschaft. Eine übersteigerte Wahrnehmung wie in einem Horrorfilm. Das berühmte Faulkner-Zitat in der denkbar unangenehmsten Ausprägung, die Vergangenheit dort war nicht einmal vergangen, und wie schlimm ist das an solchen Orten des Grauens, was für eine entsetzliche Vorstellung. Und wie gelingt es anderen, dort einfach sorglosen Bade-Urlaub zu machen. Obwohl es vermutlich gut ist, dass es ihnen gelingt, dafür wurde das Land befreit, ich habe nichts dagegen.

Am Ende lag meine befremdlich übersteigerte Empfindung, versteht sich, nur am seltsam drückenden Wetter an diesem Tag, denn es war eine Stunde zwischen zwei Sommergewittern, es war eine äußerst ungünstige, gespenstische Stimmung im Licht und in der Luft. Oder es lag vielleicht am Essen, denn es gab vorher Fischravioli aus der Dose auf dem Campingplatz. Die schmeckten erstaunlich gut, was aber womöglich nur daran lag, dass ich jung war und Hunger hatte, einen Anfangsverdacht konnte man dennoch haben.

Dasselbe Gefühl hässlicher Geschichtsnähe hatte ich Jahre später einmal in Peenemünde. Ein körperlich spürbarer Grusel und eine irrationale Erwartungshaltung, als könnten jeden Moment Soldaten in den Uniformen der Wehrmacht um die Ecke kommen. Ich sah sie schon, ich hörte sie bereits. So weit gehend war dieses Gefühl, dass ich da dringend wegwollte, raus aus der Gegend.

Zu viel Vorstellungsvermögen ist auch nicht immer schön. Und, schon klar, Filme mit Horror- oder Fantasy-Anteilen bauen auf genau diese Gefühlslage und Wahrnehmung. Dann kommen die Soldaten im Kino tatsächlich um die Ecke. Seit zig Jahren kommen sie vielleicht immer wieder um genau diese Ecke. So wie die Matrosen auf dem Fliegenden Holländer jede Nacht auf Deck antreten und etliche verwandte Gestalten in anderen Erzählungen in unendlicher Folge … manchmal kommen sie eben wieder.

Ich verstehe jedenfalls diese Geschichten und den Punkt, an dem der Grusel gerade noch angenehm ist und die Vorstellung nur interessant und lebhaft, noch einen kurzen Moment nicht beängstigend. Man verpasst ihn leicht, diesen Punkt, wenn man vehement und routinemäßig zu Tagträumereien neigt.

Zur Sendung jedenfalls noch kurz, ich habe nicht gewusst, dass einige aus den Armeen der Alliierten, die dort gefallen sind, erst 15 Jahre alt waren. Man will so etwas auch gar nicht lernen, aber man nimmt es doch mit und trägt es dann etwas mit sich herum.

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Eine gewisse Entspannung

In der Laube. Jemand hört ein paar Parzellen weiter viel zu laut „Is this the way to Amarillo“, man legt dort die Partyhits von damals auf. Es gibt in dieser Kolonie etliche Nachbarinnen und Nachbarn, die deutlich älter sind als ich, sie hören diese Musik ohne jede Schlagermove-Ironie. Sie hören sie eher im Gedenken an lebhafte Partynächte und wilde Abende. Sie waren damals dabei und schon groß, im Gegensatz zu mir, der ich noch am Kindertisch saß, Flips aß und Fanta trank, nicht einmal Cola bekam. Als Amarillo Nummer 1 in den deutschen Charts wurde, war ich gerade sechs Jahre alt.

Es geht in diesem Lied um das eher unbekannte Amarillo, lese ich nach, weil sich die vom Sänger gesuchte Stadt mit der Geliebten darin unbedingt auf pillow und willow reimen musste. Da hatte der Texter, Neil Sedaka, keine andere Wahl. Das Stück wird hinter den Hecken mehrfach gespielt, ich habe also Zeit für die Lyrics. Jede Zeile wird für mich einprägsam oft wiederholt, dabei kann ich den Text doch ohnehin schon, wie alle aus meinem Jahrgang.

Sha-la-la-la-la-la-la-laSha-la-la-la-la-la-la-laSha-la-la-la-la-la-la-laAnd Marie who waits for me.

Man kann sich, ein Spaß am Rande, vorstellen, dass der Sänger dieses Liedes als stark gealterter Mann später für die gleiche Frau „Marie“ singt, mit den Lyrics von Randy Newmans gleichnamigem Song, dann hat man auch eine schöne Geschichte.

And I’m weak and I’m lazyAnd I’ve hurt you soAnd I don’t listen to a word you sayWhen you’re in trouble I just turn away
I love you, I loved you, the first time I saw youAnd I always will love you Marie

 

Ein anderer Nachbar mäht dann Rasen, die Herzdame fängt kurz darauf auch damit an. Irgendwer bohrt außerdem in etwas, jemand hämmert, jemand schreddert Gezweig und die armen Hunde hinten im Tierheim kläffen sich wieder hysterisch die traumatisierten Seelen aus den Leibern, es ist alles recht besinnlich hier. Die Vögel in den Büschen und Bäumen haben es für heute aufgegeben und jeglichen Gesang einfach eingestellt, man sieht nur manchmal ihr stilles Umherhuschen im Schatten des Laubes. Einer dieser Schatten wird die bisher nicht von mir gesehene, nur gehörte Mönchsgrasmücke sein, ich werde sie schon noch erwischen, der Sommer ist noch lang dafür.

Auf dem Weg zum Kompost gehe ich unter einem alten Apfelbaum durch, der mir prompt etwas Hartes auf den Kopf wirft: Der Junifall der Früchte beginnt schon am Monatsersten. Die Natur sortiert jetzt aus, was nichts mehr wird. Falls man im Juni selbst hinfallen sollte, da lieber nicht zu lange drüber nachdenken.

Etwas überpünktlich geht das jedenfalls los, so früh wie alles in diesem Jahr. Am Ende werden wir auch noch Weihnachten ein gutes Stück vorziehen müssen. Saisonale Verschiebungen, wohin man nur sieht.

Die hellblaue Wand einer Gartenlaube mit blühenden Pflanzen davor, Salbei, Lavendel, Rosen, Katzenminze.

Die Radieschen im Beet sind allzu schnell geschossen und können nun weg, sie werden demnächst Kompost für die nächste Ernte. Die Zucchini blühen üppig, die Tomaten streben stramm aufwärts, kleine grüne Klunker hängen an ihnen. Die beiden Schlangengurken vor ihnen räkeln sich grünarmig und weitläufig über den frischgedüngten Boden.

Die nun roten Erdbeeren opfern wir in diesem Jahr fast komplett dem Löcherfraß durch die emsigen Kellerasseln, einiges andere auch den Schnecken. Oder sagen wir ruhig: Fast alles andere. Etwa die Kürbisse, um die es doch ein wenig schade ist, die Stängel ragen wie abgesägt aus dem Beet. In meinen Timelines sehe ich, dass die Schneckenplage in diesem Jahr ein umfassendes Problem ist, ein stilles, verzehrendes Drama spielt sich in den deutschen Gärten ab.

Nur den Pak Choi meiden diese Schnecken, was stimmt mit dem eigentlich nicht. Sollten wir den lieber nicht essen, es gibt einem doch zu denken.

Ich pflücke etwas Oregano und einen Zweig Rosmarin, ich suche eine Zwiebel. Ich werfe die Kräuter und die Zwiebel mit Tomaten, Feta und Nudeln zusammen, um ein Rezept bündig wiederzugeben. Es gibt wieder Garten-Sommer-Essen, und das ist gut so.

„Wo sind eigentlich die Söhne“, fragt die Herzdame zwischendurch und nimmt noch einmal Nudeln nach, Gartenarbeit macht hungrig. „Was weiß denn ich“, lautet meine wahrheitsgemäße Antwort. Die Pubertät wird meist als äußerst belastende Schreckenszeit geschildert, teils sogar aus nachvollziehbaren Gründen. Aber eine gewisse Entspannung ist potenziell auch mit dieser Phase des Heranreifens verbunden.

Jedenfalls manchmal, jedenfalls für manche.

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Andere Jahre, später

In Südfrankreich werden meine Notizen zu Baumgartner von Auster weitergeführt.

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Gehört: Eine Folge von Radiowissen über Homer – Der erste Dichter des Abendlandes. Etwas herausfordernd, was die Allgemeinbildung beim Thema griechische Mythologie und beim Hin und Her um Troja betrifft. Man merkt wieder, was man alles nur noch halb weiß oder schon nicht mehr, einiges war bei mir doch einmal präsenter. Man müsste sich die Sagen des klassischen Altertums noch einmal vornehmen. Irgendwann. Vielleicht.

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Gelesen: Albert Camus: Der glückliche Tod. Nach einem Manuskript mit erneut schwieriger Geschichte. Also schon wieder ein Buch, das es vielleicht nicht geben sollte, je nach Betrachtung. Im Sinne des Autors war die Veröffentlichung nicht. Ich habe das Thema offensichtlich gerade öfter.

Der Roman stand hier im öffentlichen Bücherschrank um die Ecke, neben einer Schopenhauer-Gesamtausgabe, es geht da manchmal anspruchsvoll zu. Es ist eine alte, abgegriffene Rowohlt-Taschenbuchausgabe, noch mit der Werbung für Pfandbrief und Kommunalobligation in der Mitte. Man sieht staunend die Zinsversprechungen von damals. Das schmale Buch passte in meine Sakkotasche, so kommt man auch zur Lektüre für unterwegs.

Ich hatte Camus nicht auf dem Zettel, bin aber sehr angetan. Für mich unvermutet sind etliche Passagen von fast lyrischer Schönheit darin. Die Beschreibungen Algeriens habe ich gemocht, die Sonne und die Wärme dort waren spürbar, und einige Schilderungen von Straßen, Szenen und Personen habe ich besonders gerne gelesen. Deutsch von Eva Rechel-Mertens.

Dass mir aber nach meiner intensiven und langen Beschäftigung mit Kafka und seinem Krankheitsverlauf durch wirklich wilden Zufall mit diesem Werk von Camus ein weiteres Buch in die Hände kommt, in dem eine Hauptfigur in einem Kapitel fiebernd ausgerechnet durch Prag geht – es ist schon etwas grotesk.

Nach den Bürostunden klappe ich das private Notebook auf, ich lese einen Newsletter, mir fällt ein Satz auf: „Wenn Sie gerade in Prag sind …“ Ich gucke dreimal hin, es steht da wirklich.

Ich denke länger darüber nach und frage mich zum xten Male, was es mit dem Zufall, dem Schreiben und der Wirklichkeit auf sich hat, mit dieser befremdlichen Intensität, mit der alles manchmal, nein, eher ziemlich oft ausgedacht und an den Haaren herbeigezogen wirkt und wie sich das dann seltsam intensiviert, sobald ich etwas in einem Text vorkommen lasse.

Ich öffne Instagram auf dem Handy und denke mir, da kommt jetzt bestimmt auch etwas mit Prag. Und Sie ahnen natürlich, was tatsächlich kommt. Ein Filmchen aus der Prager U-Bahn war es. Ist es unheimlich, ist es normal, ist es kafkowski, habe ich das alles so bestellt, oder liegt es noch im Rahmen klar berechenbarer Wahrscheinlichkeiten?

Man weiß es nicht.

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Und sehen Sie, da hat uns doch tatsächlich bereits der Juni erreicht, oder vielleicht auch wir ihn. Wie ist es eigentlich, wer bewegt sich hier.

Man guckt jedenfalls und staunt und wundert sich. Und man fragt vielleicht nach der Zeit, wo sie blieb und wie sie war. Leise „What’s another year“ summend starte ich in den letzten Monat des Halbjahres, mit leichtem Kopfschütteln ob der rasenden Geschwindigkeit dieses Formel-1-Frühjahrs.

Es wird noch einige Jahre dauern, aber ich denke, es wird interessant werden, in der Zeit der Rente Jahreszeiten ohne alle berufliche Vorgaben zu erleben, die im Moment mein Erleben der Monate stark bestimmen. Es wird dann Jahre ohne beruflich bedingten saisonalen Stress geben und also mit der Möglichkeit, Tage, Wochen und Saisonwechsel anders wahrzunehmen.

Ob mir dann der Sommer wieder mehr zum Sommer wird, zu einem Sommer, wie er früher einmal war, ob der Winter dann noch länger und dunkler wird, ob der Herbst sich von den früheren stark unterscheiden wird?

Das sind Fragen, bei denen ich noch neugierig bin.

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