Verhaltensauffällig und renitent

Ansonsten bin ich in diesem Urlaub, auf dieser Familienreise mit Ansage verhaltensauffällig und renitent. Immerhin betrifft es aber nur ein bestimmtes Thema, denn ich verweigere das Kochen.

Wie alle gestandenen Hausfrauen möchte ich einmal Pause von dieser alltäglichen und manchmal nervtötenden Verpflichtung haben, und wie viele Dachgeschossbewohner habe ich im Hochsommer kaum Spaß in der Küche. Ich brate an sonnigen Tagen selbst schon genug, da muss ich nicht noch einen Herd anmachen und den Raum zusätzlich erhitzen. Also ich muss schon, normalerweise. Ich will aber nicht. Ich möchte lieber nicht, ich bin Bartlebohm, der Schreiber.

Eine ockerfarbene Fassade in Kaltern an einem Altbau

Und nachdem ich mich jahrelang leise motzend in mein Schicksal gefügt habe, auch im Urlaub stets im Küchendienst zu bleiben, befinde ich es nun für pädagogisch wertvoll, zumindest gegenüber den Söhnen, nicht unbedingt auf die Herzdame bezogen, sie auch einmal machen zu lassen.

Das hat zunächst zur Folge, dass ich nach langer Zeit wieder ein Fertigessen à la Spaghetti Mirácoli esse. Nicht die Originalversion, aber ein ähnliches Produkt. Ich bin damit nicht aufgewachsen, wie lange gibt es das überhaupt schon: „In Deutschland wurde Mirácoli 1961 eingeführt und entwickelte sich zu einem der bekanntesten Fertiggerichte.“ In meinem Elternhaus kam es damals nicht an, warum auch immer nicht.

Ein Torbogen an der Kirche in Kaltern

Ich habe dieses Produkt also im Gegensatz zu anderen Fertiggerichten nicht oft gemacht oder gegessen. Ich habe nur, wie alle in meiner Generation, in den Siebzigern und Achtzigern tausendfach die Werbung dafür gesehen. Das ist auch etwas kaum zu Erklärendes geworden, wie unvorstellbar oft wir bestimmte Werbeclips gesehen haben. Ohne sie wegklicken oder -wischen zu können, ohne auch nur den Ton auszumachen, alles so hingenommen. Ich nehme nicht an, dass die Generation der Söhne davon eine realistische Vorstellung hat.

Dann gibt es, eine deutliche Steigerung, fertig gekaufte Gnocchi mit Mozzarella und immerhin frischen Tomaten, was alle Beteiligten vor ein unerwartet großes Problem stellt. Denn der Käse soll auf das fertige Gericht und nicht vorher direkt aus der Packung gegessen werden. Eine schwere Lektion in Selbstbeherrschung, Geduld und Mäßigung, ich habe nicht wenig Spaß beim Zusehen.

Blick durch Gassen neben der Kirche in Kaltern

Schließlich kommt der Wunsch nach besserem Essen auf. Man geht Möglichkeiten durch und überlegt hin und her, man erinnert sich an diverse Gerichte und fragt sich, wie schwer deren Zubereitung sein mag. Ob nicht irgendwas mit möglichst wenigen Zutaten dabei ist? Es gibt schließlich Pasta Pollo, nach dem alten und vielbewährten Rezept.

Mit frisch gepflückten Kräutern aus dem Garten vor dem Haus, mit Rosmarin also, der bei uns immer noch Großmarin heißt, weil er in Südtirol so riesig wird, und mit Thymian. Es ist im Vergleich zu den Tagen davor ein Fest der Kochkunst.

Altstadtgassen in Kaltern

Und nach einer Woche Pause und etlichen Fertiggerichten habe ich fast schon wieder Lust, über das Essen selbst und vor allem allein zu bestimmen, in der Küche bei geschlossener Tür gänzlich ungestört zu sein, den Speiseplan ohne jede lästige Abstimmung festzulegen, habe ich also fast schon wieder Lust, der Familie wieder etwas zu kochen.

Es wird schon werden. Wie der ganze Rest vom Alltag.

Blick vom Kirchenvorplatz in Kaltern ins Tal, der Schatten der Kirche liegt auf Weinpflanzungen, im Hintergrund die Berge

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Bis einer heult

Nun zum weniger erfreulichen Teil des Urlaubs, der sich als unerwarteter Rückgriff auf die Familienbloggerei gestalten lässt.

Die Söhne sind selbstverständlich stundenlang im Pool an der Ferienwohnung. Die Söhne schwimmen, tauchen und toben darin herum, wie früher, als sie kleiner waren. Es spritzt so, dass der Wasserstand im Becken irgendwann sinken wird, denke ich.

Ein tauchender Sohn im Pool, von oben fotografiert

Man kann bei diesem Hochsommerwetter kaum auf eine bessere Beschäftigung kommen, als im Wasser zu bleiben und sich dort zu verausgaben, bis schon wieder Hunger auf die nächste Pizza entsteht. Zumindest nicht, wenn man noch jung ist, ausgeprägt bewegungsfähig und dem Sport zugeneigt. Das ist der Grund, warum wir immer Wohnungen mit Pool buchen. In meinem Alter fallen mir mittlerweile andere Interessen auch an heißen Tagen ein, etwa im so umfangreichen und mir zusagenden Zeno Cosini von Italo Svevo ein, zwei Kapitel irgendwo im Schatten weiterzulesen. Aber das ist die Normalverteilung in der Welt, das gehört so.

Die Söhne ringen im Wasser miteinander, auch unter Wasser, und ich komme nach einer Weile auf einen Gedanken, den ich lange nicht mehr hatte, seit Jahren nicht: „Bis einer heult.“ Auf einmal steigt die Erinnerung daran hoch, wie oft wir das als Eltern früher gedacht und vermutlich auch gesagt haben. Es war einer der anstrengenderen Aspekte der frühen Kindheit. Eskalationen ständig kommen sehen, als sei man hellseherisch begabt, sie manchmal sogar auf die Minute abschätzen können – alle Eltern können das. Es ist eine Fähigkeit, die einem so zuwächst, wenn man Kinder bekommt, man muss nichts dafür tun.

Es ist außerdem eine Fahrradfahrfähigkeit, also eine, die man nicht leicht verlernt, auch nach langer Zeit nicht. Man sieht tobende Kinder und weiß Bescheid, diesmal passiert nichts, diesmal passiert gleich etwas. Ich könnte Geld auf das Ergebnis setzen, ich würde viel gewinnen. Wie ich kurz darauf merke, denn es passiert tatsächlich etwas, kaum dass ich diesen Satz gedacht habe. Ein Sohn macht den anderen gründlich kaputt, der Spaß ist vorbei. So erwartbar passiert es, wie es immer schon gewesen ist, und wie es bei uns aber seit ich weiß nicht wann nicht mehr vorkam. Es lag schon nicht mehr in meinen Erwartungen, wofür man prompt bestraft wird, schon klar.

Das Knie des einen Sohnes dengelt jedenfalls mit erheblicher Kraft an das Ohr des anderen Sohnes. Unabsichtlich immerhin. Wofür man dann schon dankbar ist, wie mir ebenfalls wieder einfällt.

Das Ohr tut erheblich weh, es scheint etwas ernster zu sein. Es schmerzt im weiteren Verlauf so, dass wir nach ein wenig Wartezeit erst ahnen und bald auch wissen, dies ist ein Fall für medizinische Betreuung. Ich googele und diagnostiziere ebenso laienhaft wie zutreffend die Art der Verletzung. Es wird besser sein, den Sohn einem Menschen mit Fachausbildung und besonderen Geräten vorzuführen, das lese ich auch.

Wir suchen eine Praxis in Kaltern. Wie schön, dass auch so etwas über Navigations-Apps funktioniert, mit korrekt angezeigten Öffnungszeiten, Rezensionen und allem, es ist heute wirklich einfach. Allerdings kümmert sich die überaus schnell gefundene Ärztin nicht um Unfälle und verweist auf das große Krankenhaus in Bozen.

Womit dann gegen Ende der Kindheitsphase doch noch das eintritt, was wir jahrelang befürchtet haben, nämlich ein medizinischer Ernstfall bei einem Sohn im Ausland. Irgendwas ist eben immer, wie sich erneut zeigt.

Wir steigen in den Mietwagen, fahren nach Bozen und machen dort immerhin gute, wenn nicht beste Erfahrungen. Es ist alles hervorragend ausgeschildert und schon die Aufnahme im Krankenhaus geht schnell und ist kein großer Verwaltungsakt, wie ich angenommen hatte. Noch einmal ein großes Lob der EU-Nähe unserer Staaten, was für eine Vereinfachung. Die Menschen in der Klinik sind so nett und entspannt, dass wir es kaum glauben können. Es wirkt außerdem alles fast verdächtig gut und geräuschlos, geschmeidig organisiert … als sollte uns einmal gründlich vorgeführt werden, wie mangelhaft und stressig es im Vergleich dazu in den uns bekannten deutschen Krankenhäusern zugeht. Mit denen wir in der früheren Kindheit der Söhne nicht eben die besten Erfahrungen gemacht haben.

Aber diese Klinik in Bozen – entweder ist es der Zufallsfaktor eines extremen Glückstages oder sie sind dort wirklich so gut organisiert. Ich kann es nicht wissen und die Einheimischen sind, als ich davon erzähle, eher skeptisch und winken lächelnd und vermutlich auch wissend an. Sie werden gewiss Gründe dafür haben, aber wir können, warum auch immer, zufrieden eine eher positive Erfahrung mitnehmen. Also positiv für eine so schlechte Veranlassung.

Eine Erfahrung, die uns fast einen Tag der nicht eben langen Reise kostet. Was ärgerlich ist, aber im Ergebnis immerhin so beruhigend ausfällt, wie man es sich nur wünschen kann.

Kein großes Drama, das alles, so lautet das Resultat der Untersuchungen. Aber es ist doch gut, dass wir dort gewesen sind, wird uns freundlich und mehrfach bestätigt. Nun wissen wir also, wie dass geht, diese Sache mit Krankheit oder Unfall im Ausland.

Immerhin also wieder etwas gelernt. Auch die wunderbare italienische Vokabel Otorinolaringoiatria. Lange sitze ich vor diesem Wort auf dem Schild an einer Rezeption in der Fachabteilung und finde es sehr faszinierend. Ich sehe die Aussprache des Wortes online nach und spreche es leise nach, gleich mehrfach. Ich versuche konzentriert, mir Begriff, Schreibweise und Aussprache zu merken, ich habe in dieser Stunde da auch keine bessere Beschäftigung. Es fällt mir aber erstaunlich schwer.

Irgendwann kann ich es endlich, ohne noch einmal nachzusehen. Und ich hoffe, dass es sich dabei um in der Zukunft vollkommen nutzloses Wissen handelt.

Zurück in die Ferienwohnung, es ist noch Abend übrig.

Eine altmodische Uhr an einem Juwliergeschäft in Kaltern, darunter der Schriftzug "Gebr. Grattl" in ebenfalls alter Typo, geschwungene Schreibschrift

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Fallendes, stürzendes Wasser

Da es in Südtirol heiß bleibt, aus meiner Sicht unangenehm heiß bleibt, aber bitte, es ist Sommer und wir sind im Süden, es passt also schon, da ich mich aber dennoch nicht braten lassen möchte wie eine deutsche Wurst auf dem obligatorischen Grill im Garten, fahren wir aus Kaltern rauf zur Rastenbachklamm. Dort ist es tiefschattig und angenehm dunkelwaldig. Der feine, wabernde Sprühnebel des spritzenden Wassers vom wild strudelnden Bach kühlt zusätzlich.

Schon das Geräusch des unentwegten Plätscherns nimmt einem den Hitzedruck der sengenden Sonne, der im Städtchen für mich schier unerträglich war. Man atmet gleich wieder etwas tiefer. Es kommt mir fast vor, als würde ich jetzt überhaupt erst wieder atmen. So fühlt es sich tatsächlich an. Es ist ein ausgesprochen linderndes Geräusch, dieser Klang fallenden, stürzenden Wassers.

„Und kecker rauschen die Quellen hervor.“ Da ist man dann auf einmal bei Mörike angekommen und bei einem Adjektiv, das längst aus der Mode gekommen ist.

„Es singen die Wasser im Schlafe noch fort
Vom Tage,
Vom heute gewesenen Tage.“

Aber so spät ist es zur Stunde unseres Ausflugs nicht, mir geht die Lyrik etwas vor.

Es ist jedenfalls überaus angenehm dort unten, in dieser tief in die Felsen geschnittenen Klamm, die sich bis hinunter zum See erstreckt. Man kann eine ganze Weile im etwas dämmerigen Licht der Schlucht herumgehen, stundenlang kann man das. Dem Wasser folgend abwärts oder ihm entgegen wieder hoch, was längst nicht so mühsam ist, wie es auf den ersten Blick aussieht.

Die Herzdame auf einem metallenen Steg über den Bach in der Rastenbachklamm, unter ihr sprudelndes, stürzendes Wasser

Die Schrittzählerapp vermeldet hinterher, ich sei 35 Stockwerke gestiegen, das könnte ein Rekord für mich sein. Aber es hat wohlgetan und war bei weitem nicht so sportlich, wie es klingt. Es passt dann noch weiteres Programm in den Ferientag.

Man braucht auch keine besondere Ausrüstung für den Weg dort unten. Es ist alles keine ernsthafte Herausforderung, es ist eine eher angenehme Bespaßung. Was allerdings die überwiegende Mehrheit der Besucherinnen nicht davon abhält, in teils dramatisch überkandideltem Outfit dort zu erscheinen. Als sei die Klamm eine hochalpine Herausforderung und nicht etwa ein freundlich ausgebauter und vielfach abgesicherter Spazierweg mit ordentlich Gefälle.

Der durch Geländer gesicherte Weg durch die Rastenbachklamm

Praktisch alles, was auf den Wegen dort an Kleidung getragen wird, trägt ein „Funktions-“ vorweg im Namen und war vermutlich recht teuer, war auf jeden Fall aus dem Handel für den Spezialbedarf. Ich finde es faszinierend, wie das einen Markt belebt, dessen Erfolg zu einem erheblichen Teil darauf beruhen wird, dass man nur meint, ihn zu brauchen.

Obwohl man, wenn man nicht eben auf Gipfeln herumkraxelt oder wochenlang durchwandert oder radelt, auf ihn auch ebenso gut verzichten kann.

Wie wir uns nun schon seit etlichen Jahren immer wieder erneut beweisen und daher mit Überzeugung aussagen können, was wohl fast alle überraschen wird, unserer Beobachtung nach: Es ist möglich, Südtirol als Durchschnittstourist zu bereisen, ohne sich speziell dafür auszurüsten.

Normale Hosen erfüllen ihren Zweck auch dort unten einwandfrei. Man zieht sie morgens an und abends wieder aus, man geht zwischendurch in ihnen herum, es läuft. Ebenso verhält es sich mit T-Shirts, Hemden, Unterwäsche und Schuhen. Wirklich.

Man kann es von der Ferienwohnung zur nächsten Pizza im Ort einwandfrei ohne Wanderschuhe schaffen. Wir haben es mehrfach gewagt und gewonnen.

Eine metallene Stele mit der Inschrift "Mut/ Coraggio", Teil eines Kunstprojektes in der Rastenbachklamm

Am nächsten Tag fahren wir mit der Mendelbahn hinauf zum Pass. Wir haben da oben kein besonderes Ziel. Wir haben nicht einmal recherchiert, die Hitze macht mich nachlässig, unkonzentriert und etwas unmotiviert. Uns fehlt jeder Ehrgeiz, auf dem Berg etwas erleben zu müssen. Wir haben uns nur gedacht, wenn es da schon diese Seilbahn gibt, eine der steilsten in Europa, das immerhin lese ich während der Fahrt nach, und wenn der Fahrpreis doch im Ferienwohnungspreis mit drin ist – dann macht man das eben auch einmal.

Lose vereinbaren wir während der Fahrt nur, oben etwas herumzuwandern, wenn wir einen Weg mit viel Schatten finden. Und nur dann.

Diesen Weg finden wir aber nicht, wobei unsere Bemühungen als schnell endenwollend zu bezeichnen sind. Denn die Sonne brennt immer weiter, und obwohl es oben etwas weniger heiß als unten ist, kann man sich gar nicht so viel eincremen, wie man es an solchen Tagen müsste. Unentwegt müsste man sich das ekelhafte Zeug in Mengen auf den Körper kippen. Ich hasse Sonnencreme auf der Haut, die ganze Familie hasst Sonnencreme. Dafür verwenden wir sie immerhin äußerst vernünftig, wahre Muster an Selbstüberwindung.

In meinem Kopf singt es auf dem Weg durch die Sonne schon wieder, nicht recht zur gebirgigen Gegend passend: „Brennend heißer Wüstensand, fern, so fern dem Heimatland …“

Was soll man machen gegen seine Stimmen und Gesänge im Hirn. Sie albern und tollen herum, sie brabbeln und singen irgendwas und scheren sich nicht um Logik, Dezenz und Harmonie. Es ist ihnen egal, was zu was passt, sie folgen eigenen Regeln oder keinen.

„Kein Gruß, kein Herz
Kein Kuss, kein Scherz
Alles liegt so weit, so weit.“

Denke ich so, immerhin nur innerlich singend, und besehe mir die fantastische Aussicht.

Am besten ist der alte Freddy-Quinn-Song natürlich in dieser Version hier.

Wir suchen den Wanderweg kurz darauf nicht weiter, wir suchen lieber Eis und Schatten.

Ein kleiner Eisbecher (Schokolade und Walnuss) vor der Aussicht vom Mendelpass, der Hintergrund ist unscharf

Und sehen nur nebenbei, dass dort oben mehrere Gebäude, fünf oder noch mehr, besonders große Gebäude in einigermaßen ehrwürdiger Grand-Hotel-Anmutung, wohl seit Jahren schon leerstehen, verfallen, längst zu Lost Places geworden sind.

Schöne Gebäude sind das, waren das. Erstklassige Filmkulissen wären es immer noch und falls jemand die Story kennt, warum an einem attraktiven Ausflugsziel so vieles offensichtlich vor die Hunde geht – ich wäre interessiert. Ein Streit der Besitzerinnen, ein Unternehmensschicksal, die Pandemie? Was steckt dahinter?

Wir spekulieren herum und schleichen um die Ruinen, die uns noch mehr begeistern als die Landschaft. Es ist gegenüber den Bergen und dem Panoramablick nicht fair, aber wir mögen nun einmal Gebäude und Geschichten.

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Gehört: Der letzte Zug nach Auschwitz – Vor 80 Jahren enden Deportationen aus Belgien, eine Sendung vom Deutschlandfunk.

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Fortwährende Ereiferung

Wir sitzen vor einer Pizzeria in Kaltern am See. Pizza ist selbstverständlich Pflicht, wenn man schon in Italien ist, und sie ist prompt wieder hervorragend. Am Nebentisch liest eine Frau ihrem Mann die digitale Version von Springer-Presse-Meldungen vor. Passend und stimmig in dauerempörten Tonfall, mit stetem Kopfschütteln und weit hochgezogenen Brauen: Was erlauben Welt, nein, also wirklich, was sagt man dazu, hör doch mal, das gibt es doch nicht, das jetzt auch noch! Versatzstücke der Aufregung. Fortwährende geifernde Ereiferung als Grundhaltung, es muss auch anstrengend für die Betroffenen sein. So bekommt man diese Weltsicht wieder einmal in extenso mit, und schön ist das nicht.

Vor vielen Jahren hatte der Herr Korten, die Älteren erinnern sich, einmal den Begriff des Empörungsfastens geprägt, fällt mir dabei wieder ein. Es ist immer noch ein guter Gedanke.

Fassadendetails in Kaltern, alte Dachziegel, marode Fensterläden

Aber Stichwort Politik: Von der sehe und höre in diesem Urlaub abgesehen von dieser Begegnung sonst nichts, überhaupt nichts. Keinen einzigen Aufkleber an irgendeinem Laternenpfahl finde ich, kein halb abgerissenes Plakat einer Partei sehe ich. Keine Terminhinweise auf politische Veranstaltungen oder Demos und dergleichen, überhaupt nichts. Das ist mir, glaube ich, bisher in Südtirol nicht passiert.

Aber es wird nur ein weiterer Zufall sein, diese komplett unpolitische Woche. Bei der mir erst später auf der Rückfahrt in München wieder Botschaften in der Stadt auffallen werden, die dann denen in Hamburg ähneln, Gaza, Putin, Rechtsradikalismus, zu hohe Mieten etc.

Fassadendetails in Kaltern, ein alter Torbogen, schadhafte Holzelemente in einer alten Mauer

Plakate sehe ich in der Reisewoche ansonsten nur für ein Konzert von Umberto Tozzi. Für das uns sogar spontan und freundlich Karten angeboten werden. Umsonst könnten wir dorthin gehen, aber wir schaffen es dann nicht, wir sind zu hitzegeschädigt und durch.

Etwas schade ist es schon, denn ich hätte das hier einmal im Original hören können, es hätte mich interessiert:

Wir hören das Konzert dann abends vom See her, es klingt nach großer Veranstaltung. Wummernd weht es heran, auch Gloria, der andere große Kracher des Sängers.

Ein Apfel an einem Südtiroler Apfelbaum

Beim späten Abendspaziergang in der endlich etwas milderen Luft an den Weinbergen entlang sehen wir etwas, das mich musikalisch wieder auf andere Gedanken bringt, und mit dem ich nicht gerechnet habe: Glühwürmchen am Wegesrand. Vor Jahrzehnten habe ich die zuletzt gesehen. Es ist gefühlte Ewigkeiten her und war damals auch im Süden, in Bulgarien. Sie kommen in Schleswig-Holstein und Hamburg nicht vor.

Sie begegnen mir sonst nur noch in älteren Erzählungen, Romanen und Liedern. Aber jetzt, ich glaube, ich gucke nicht richtig: Ein helles Auffunkeln und Blinken in der Nacht, erst nur eines, dann vielfach, den Weg entlang.

Wir machen sinnlose Fotos davon, ein schwachgelber Punkt auf schwarzem Grund, als ob es etwas beweisen würde, als ob es ein brauchbares Souvenir wäre. Wir würdigen die für uns so seltenen Insekten einigermaßen ergriffen und angemessen. Wer weiß, ob wir die noch einmal sehen werden.

Ich lese nach, die Art ist auf dem Rückzug, es gibt zu viel anderes Licht in den Nächten, wie es nicht anders zu erwarten war. Oder, wie die Söhne sagen: Unsere Kinder sehen die dann aber nicht mehr. Die Zukunftserwartungen dieser Generation allerdings sind ein zu weites Feld, darüber müsste man, nein, darüber müssten sie Bücher schreiben.

Weintrauben an einer Rebe, noch grün mit einem Anflug von erster Röte

Jedenfalls habe ich auf dem Rückweg zur Ferienwohnung das Lied vom Glow Worm im Kopf, etwa in der Aufnahme von den Mills Brothers. Es gibt etliche Versionen des Songs, Bing Crosby, Dean Martin und Konsorten. Alle haben es gesungen, es ist ein swingender Klassiker.

So versorgt mich der Urlaub diesmal nicht nur mit Pizza uund Eis, sondern auch mit Musik und erstaunlich buntem Programm. Shine, little glow-worm, glimmer, glimmer. Leise pfeifend zurück in die Ferienwohnung.

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Gehört: Eine Folge Radiowissen über die drei Bibliotheken von Lion Feuchtwanger. Am Rande kommt auch sein Roman „Erfolg“ in der Sendung vor, der hier auf dem Lesestapel für den Frühherbst (ab Holunderbeerendunkelfärbung- und Haselnussfruchtreife übrigens, wir werden das beachten und berichten) bereitliegt.

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Die große Gnade einer Wolke

Wo ich im letzten Text gerade beim Thema Kommunikation war, es ereignet sich im Urlaub in Südtirol noch etwas Erstaunliches: Ein Sohn schreibt Postkarten. Von sich aus, und sogar innerhalb seiner Altersgruppe. Es wird noch eine weitere Generation in dieses Phänomen und vermutlich auch in die altbekannte Erwartungshaltung der Zuhausegebliebenen involviert, das hätte ich nicht gedacht.

Vermutlich wird es auf den postpandemisch stark geschrumpften Büroflächen der Zukunft immer noch irgendwo eine Pinnwand mit vergilbten Karten geben. Strandansichten, Berghüttenbilder und berühmte Gebäude aus fremden Millionenstädten. Gesendet mit lieben Grüßen von Kolleginnen, deren Namen niemand entziffern kann. Aber stets getreulich angesteckt, hat mal jemand eine Stecknadel, die XY hat aus Paris geschrieben, guck mal.

Ich erkläre dem Sohn, wie man in der Fremde zu Briefmarken kommt. Ich zeige ihm auch, wo diese auf die Karten geklebt werden, was alles in die Adresse muss und dergleichen. Man weiß so etwas nicht von Natur aus, wenn man es noch nie gemacht hat. Danach gehen wir einen Briefkasten suchen.

Eine Spaziergangsmotivation wie aus dem Geschichtsbuch ist das. Man geht mit einem anderen Blick als sonst durch den Ort und sucht die Hauswände ab. Wo mag so etwas sein und wie sehen die Dinger in Italien eigentlich aus. Sind sie gelb wie bei uns oder rot oder was sonst. Nie haben wir bisher darauf geachtet. Die Herzdame und ich schreiben im Urlaub keine Postkarten. Längst nicht mehr.

Ein Torbogen in Kaltern

Die Hauswände, die wir dann in der Altstadt auf der Suche sichten, sind erstaunlich schön. Der ganze Ort ist schöner, als wir dachten. Kaltern am See hatten wir auf unseren Reisen bisher nur auf Durchfahrten gestreift. Am Ortsrand einmal zum Einkaufen gehalten, das Freibad besucht, so etwas.

Übrigens keine bezahlte Werbung für Urlaub in Südtirol, nein.

Wir gehen zum ersten Mal überall im Städtchen herum und finden Faszinierendes und Altes. Wir sehen Verfallendes, das auf diese ansprechende Art zerbröckelt, die bei der Bachmann in den Briefen an Frisch einmal als „in Würde verarmt“ beschrieben wurde. Wunderbare Altstadthäuser, die mit nonchalanter Lässigkeit vor die Hunde gehen. Apartes Flickwerk an Gemäuern aus früheren Jahrhunderten. Uralte Torbalken, figürlich ausgestaltete Türklopfer, unbeachtet an Eingängen, die seit langer Zeit nicht mehr benutzt wurden. Längst blinde Fester im Gemäuer daneben und dergleichen.

Fassaden in Kaltern

Einleitungsdekoration für Geschichten aus alter Zeit ist so etwas, das kann man sich gut vorstellen. Daneben toprenovierte Denkmalschutzperlen, eine erfreuliche Mischung für die touristische Betrachtung. Jedes nebenbei geschossene Foto ein weiteres Postkartenmotiv.

Und wäre es nicht so unfassbar heiß und schwül, ich würde öfter und länger in dieser Altstadt herumgehen und Bilder machen. Ich bin ein Fan urbaner Schönheit und als Hamburger eher bedürftig. Denn, schönste Stadt der Welt, wie einige bei uns immer eher waghalsig behaupten, hin oder her, Hamburg ist nur an wenigen Stellen schön.

Ein eisernes, kunstvoll geschmiedetes Ladenschild, es stellt die Kirche in Kaltern dar

Aber es ist mir mittlerweile entschieden zu heiß für alles. 35 Grad und mehr sind es, über die Berge ziehen Gewitter heran oder auch nicht. Man spürt sie jedenfalls, diese oben kreisenden Gewitter, sie nehmen einem die Luft. Aber das heißt nicht, dass man sie erlebt. Blitze in weiter Ferne, ein anderes Tal. Die Kleidung klebt, man zerfließt schon beim bloßen Existieren. Ein Zustand bedenklicher Auflösung, wenn man sich nicht gerade im Pool treiben lässt oder darin flotte 700 Bahnen zieht. So wie Sohn II, der hier auf einmal beachtlichen Ehrgeiz entwickelt.

Nach dem gerade noch rettenden Schwimmen sehe ich aufs Handy und finde sofort eine Meldung, die mich freundlich bestätigt. Ich fühle mich abgeholt: Schwimmen fördert die Hirnleistung. Ich merke es auch schon, es schreibt sich gleich viel leichter, that escalated quickly.

Allerdings steht da auch etwas von regelmäßig. Ich werde also jeden Tag in diesen Pool müssen. Man macht etwas mit.

Eine menschenleere Gasse in Kaltern

In der Stadt aber, wir gehen noch einmal Eis essen, sind die Schattenstreifen an den Häusern manchmal nur schmal, viel zu schmal. Noch weitere zehn Meter mit absurder Steigung und es gibt mich womöglich nicht mehr. Was von mir bleiben wird, das ist nur eine Pfütze, diese Lache der letzte Lacher.

Irgendwo im Städtchen arbeiten Dachdecker. Sie klettern über neugelegte Ziegel auf einen uralten Dachstuhl. Wir sehen sie oben in der flimmernden Luft und wissen nicht, wie das möglich ist, wie hält man das aus. Vielleicht wissen sie es auch nicht. Vielleicht fragen sie es sich jetzt gerade selbst und schon seit Tagen und Wochen ihren Chef oder ihre Chefin.

In einem Text bei der taz kommen auch Dachdecker bei Hitze vor, sehe ich. Im Sommer haben sie in diesem Beruf mittlerweile mehr Ausfälle als im Winter. Wir haben einen angehenden Dachdecker in der Familie, wir müssten einmal bei ihm nachfragen.

Eine leere Schlangenhaut liegt am Wegesrand. Elegant gewunden, ein wenig restglitzernd, so etwas sehen wir bei uns nicht. Daneben über die Straße huschende Eidechsen. Wenn man hinsieht, sind sie schon weg, über die Wege und an Hauswänden entlang. Bewegungen im Augenwinkel. Libellen patrouillieren durch den omnipräsenten Oleander und immer wieder hört man an den stilleren Ecken der Gassen die zurückhaltende Percussion von Palmwedeln auf Balkonen und in versteckten Gärtchen. Das Grün bewegt sich rhythmisch in einer Brise, die nicht einmal ansatzweise kühlt.

Schwalben jagen tief über den Pool an der Ferienwohnung und dann zwischen den Apfelbaumreihen hindurch. Sie fliegen irrwitzig rasante Figuren im warmen Wind, der über die bepflanzten Hänge streicht und nebenbei die Weintrauben und Äpfel lässig schaukelt.

Nur ab und zu die große Gnade einer Wolke. Die Stadt und die Menschen unten am Seeufer atmen kurz auf.

Aus Deutschland lese ich in den Timelines die ersten Mauerseglerabreisemeldungen aus verschiedenen Landesteilen. Ich werde in Hamburg nach unserer Rückkehr wohl keine mehr hören, nehme ich an.

Der Sommer, er hat damit seinen ersten phänologischen Knick, auch wenn er aus Hamburger Sicht nicht eben groß war. Die Mirabellen sind in Italien reif, in Deutschland ebenfalls, das war das erwartete Zeichen der nächsten Stufe. Es gibt auch schon die ersten Pflaumenkuchenerwähnungen, dazu die Rezepte in den Foodblogs. Es werden wie immer viele werden.

Wir sind im Spätsommer, wie wir neulich erst gelernt haben, und auch im August angekommen.

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Klimawandel-Update: Die Adria wird tropisch, wie das Meer vor den Malediven. Es kommen in diesem Artikel auch wieder die Algen, die Mikroalgen vor, ich hatte neulich erst diese Sendung dazu verlinkt.

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Ein Essay über das Spätwerk von Leonard Cohen, über Lateness. Aufgrund meines aktuellen Spezialinteresses möchte ich ergänzen, dass der späte Leonard Cohen auch beim Outfit einen mir besonders sympathischen Stil in der letzten Phase gefunden hat. Dieser Hut zum Anzug … also es hatte etwas.

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Nicht ohne Optionen

Die Kaltmamsell verschenkt einen Krautreporter-Artikel von Gabriel Yoran.

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Gehört: Ein Zeitzeichen zu Colette. Die auch mal wieder lesen. Irgendwann.

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Zwischendurch verwerfe ich ein Buch, obwohl es vermutlich ein guter Roman ist, ein vielfach gut besprochener auch. Mit Preisen und allem: „Alle, außer mir“ von Francesca Melandri, Deutsch von Esther Hansen. Der Schreibstil gefällt mir, die Schilderungen Roms auch, die Figuren werden gut eingeführt. Aber die politische Gegenwart kommt hier mit einer Intensität vor, dass die Seiten für mich schon Anklänge von Sachbuch haben. Und das mag ich nicht. Kein Qualitätsurteil, es ist nur eine nicht weiter begründbare Geschmacksentscheidung.

Stattdessen dann den Zeno Cosini von Italo Svevo angefangen. Der beginnt mit einem vorangestellten Schopenhauer-Zitat an, das ich vor Jahren schon einmal gelesen und genossen, dann aber lange vergessen hatte. Es gefällt mir außerordentlich gut, ich würde es am liebsten auch diesem Blog voranstellen:

Das Leben jedes Einzelnen ist, wenn man es im Ganzen und Allgemeinen übersieht und nur die bedeutsamsten Züge heraushebt, eigentlich immer ein Trauerspiel; aber im Einzelnen durchgegangen, hat es den Charakter des Lustspiels. Denn das Treiben und die Plage des Tages, die rastlose Neckerei des Augenblicks, das Wünschen und Fürchten der Woche, die Unfälle jeder Stunde, mittelst des stets aus Schabernack bedachten Zufalls, sind lauter Komödienscenen. Aber die nie erfüllten Wünsche, das vereitelte Streben, die vom Schicksal unbarmherzig zertretenen Hoffnungen, die unsäligen Irrthümer des ganzen Lebens, mit dem steigenden Leiden und Tode am Schlusse, geben immer ein Trauerspiel. So muß, als ob das Schicksal zum Jammer unseres Daseyns noch den Spott fügen gewollt, unser Leben alle Wehen des Trauerspiels enthalten, und wir dabei doch nicht einmal die Würde tragischer Personen behaupten können, sondern, im breiten Detail des Lebens, unumgänglich läppische Lustspielcharaktere seyn.“

(Zitiert in dieser Schreibweise nach Projekt Gutenberg)

Wer könnte dem widersprechen, so unter uns läppischen Lustspielcharakteren.

Und ich habe am Abend schließlich auch wieder zwei Folgen der alten Maigret-Serie weitergesehen, und zwar mit erheblichem Genuss.

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Weiter im Südtiroler Reisebericht. Ich muss mich ranhalten, sonst geht das Blog wieder wochenlang nach. Schlimm.

Ich rufe am nächsten Morgen, am ersten Tag unseres Aufenthalts in Kaltern, meine Mutter an, die Geburtstag hat. Ich stehe dabei zwischen Reihen von Apfelbäumen an einem Hang in Südtirol, ziemlich weit weg von der Ferienwohnung. Ein paar Meter weiter Weinreben ohne Ende, kilometerlange Pflanzungen, über eine halbe Stunde kann man an denen entlang gehen und sie nehmen kein Ende.

Ein Holzschild zwischen Weinbergen, darauf steht: "Die Natur dem Wanderer, das Obst dem Bauer"

Weit unten im Blick der gerade annähernd türkisfarbene Kalterer See, dessen Farbe im Laufe des Tages vielfach unentschieden variiert. In meinem Rücken die hinter der kleinen Stadt aufragenden Berge, ansprechend umwölkt, in bester Fernsicht. Oben der Mendelpass. Eine dekorativ rote Seilbahn führt hinauf, ich sehe sie in der Ferne auf dem langsamen Weg nach oben. Über mir die sengende Hochsommersonne der südlichen Art, die wird in ein, zwei Stunden enorm anstrengend werden. Aber noch geht es.

Die Herzdame steht mit dem Rücken zum Fotografen vor einem Geländer an einem Hang, in der Weite, unten, der Kalterer See

Und ich rufe also einfach so in Hamburg an, auf dem Handy. Meine Mutter klingt, als stünde sie neben mir. Und wie in fast jedem Jahr – unsere Reiseplanung kollidiert dauernd mit ihrem Geburtstag, was allerdings keine finstere Absicht ist – staune ich immer noch ein wenig, dass das möglich ist.

Die Nachteile dieser ständigen Erreichbarkeit und permanenten Kommunikationsfähigkeit habe ich neulich bereits erwähnt, einige Vorteile findet man aber auch.

Apropos Kommunikation. In der neugebauten Ferienwohnung gibt es, es fällt einem nur noch nebenbei auf, kein Festnetztelefon. Bei der Übernachtung in München gab es auch schon keines. Die Zeiten, in denen ein Telefon selbstverständlicher und unverzichtbarer Bestandteil der Ausrüstung von Hotelzimmern etc. war, sie sind vorbei. Passend dazu: Das fortwährende Klingeln in Frankreichs letzter Telefonzelle.

Ein schmaler Altbau in Kaltern, nicht in bestem Zustand aber dekorativ, an die Hauswand gelehnt eine hohe Palme

Das WLAN in der Ferienwohnung allerdings schwächelt diesmal erheblich und auch unser Netzempfang in der Gegend ist schlechter als sonst. Warum auch immer. Es erinnert uns fast ein wenig an Eiderstedt und das ewige, unauflösbare Netzdesaster Nordfrieslands dort.

Eine App, die ich auf dem Handy aufrufen möchte, meldet sich kapitulierend gleich mit einem Fehlerspruch, er lautet: „Sie sind offline, aber nicht ohne Optionen.

Das ist eine attraktive Fehlermeldung, finde ich. Die sollte man sich merken und in diversen Situationen wieder aufsagen. Beim Spaziergang im tiefsten Wald, am Strand in Schleswig-Holstein, im steckengebliebenen Fahrstuhl und natürlich jederzeit im ICE oder überhaupt in deutschen Zügen.

Eine menschenleere Altstadtstraße in Kaltern

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Über die Grenzen

Ein Update zum Thema Lachgas, das hier auch mehrfach vorkam

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Der größte Hit des Zweiten Weltkriegs – Ein Zeitzeichen zu Lili Marleen und dann noch ein Kalenderblatt zu James Baldwin, zu dem es auch eine Lange Nacht gibt. Dieser Autor ist bei mir bisher eine weitere Bildungslücke.

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Am nächsten Morgen ziehen wir zur Autovermietung. In der Schlange am Schalter stehen vor uns Olaf Scholz und Mark Zuckerberg. Natürlich sind sie es nicht wirklich, sie sind nur den Originalen verblüffend ähnlich, auch bei längerer Betrachtung. Mark Zuckerberg spricht allerdings fließend Holländisch, was nicht passt. Olaf Scholz wirkt so überzeugend schmallippig und unbelebt, er steht derart statuenhaft herum und antwortet auf Fragen des Personals der Vermietung so einsilbig ausweichend, mit einem seltsam dauerbeleidigten Gesichtsausdruck … also wir gucken schon genau hin.

Das reservierte Auto ist diesmal tatsächlich vorhanden, heißt es dann. Und es steht, wie wir kurz darauf sehen, auch auf seinem Platz im Parkhaus. Wir haben damit die nächste große Hürde genommen, denn die Schwierigkeiten mit Mietautos sind über die Jahre gesehen fast so erwartbar wie die mit den unpünktlichen oder ausfallenden Zügen. Immer fair bleiben in den Beurteilungen! Nicht nur die Bahn ist im Service herausgefordert. Man vergisst das manchmal.

Wir fahren raus aus München und in Richtung Brenner. Wie fast immer waren all die Warnungen des ADAC so überaus wirksam, dass wir bestens durchkommen. Kein Stau, nirgends. Was allerdings ein eher schwer zu kalkulierender Umstand ist, es ging auch schon gewaltig schief. Das also lieber nicht nachmachen.

Wir kaufen unterwegs an einer Raststätte die Pflichtplakette für Österreich und merken beim Aufkleben auf die Windschutzscheibe, dass dort bereits eine gültige Plakette für den richtigen Zeitraum klebt. Kein Tag ohne Demütigung, ich sage es ja.

Aber sonst – alles bestens, eine eher angenehme Fahrt im coolsten Auto, das wir je hatten, so die Meinung der Söhne. Ich müsste jetzt allerdings aufstehen und rausgehen, um nachzusehen, was es genau ist, ich habe keinen Sinn für so etwas. Ein Auto eben. Ein schwarzes Auto. Aber diese Farbe haben fast alle Fahrzeuge mittlerweile, sie kommt mir daher eher uncool vor.

Die Verwüstungen durch die Unwetter, die uns im letzten Jahr auf der Reise so knapp verfehlt haben, sie sind an den bewaldeten Hängen am Brenner noch deutlich zu sehen, als seien die Bäume dort gerade eben erst gestürzt. Die Anzahl der Tage im Jahr, an denen man entweder durch Apps oder durch eigene Anschauung und/oder Berichte aus dem Umfeld der Bekannten auf Unwetter aufmerksam gemacht wird – ob es schon ein Drittel ist? Oder noch mehr? Ich hätte auch das längst zählen müssen. Ich zähle es ab jetzt und berichte dann.

Wir fahren durch Österreich nach Italien, und wir fahren, ohne von den Grenzen etwas zu bemerken. Nur die Beschilderung am Straßenrand ändert sich minimal. Das muss man als aufrechter Europäer immer wieder ausdrücklich würdigen. Es ist alles nicht selbstverständlich und mit wenigen Wahlen leicht zu verspielen.

Und ebenso pflichtgemäß wie überzeugt erwähne ich auch und wie in jedem Jahr, wie viel angenehmer und entspannter es sich mit Tempolimit fährt.

Wir spielen unsere Lieblingsplaylists zur Unterhaltung während der Fahrt ab. Wir vergleichen die Musikauswahl der vier Familienmitglieder. Unsere Schnittmenge ist eher klein und nicht einfach zu finden, das ist auch nicht anders erwartbar bei unseren Altersunterschieden. Der Haupttreffer in der Mitte liegt schließlich bei Cigarettes after Sex.

Die Wikipedia zitiert Greg Gonzalez zum Namen der Band “A lot of our songs are autobiographical, and the name isn’t an exception. I had this friends-with-privileges thing with this girl and she would always smoke after we were together. I never really tried it until she showed it to me. We were just together one night smoking and the name flashed in my mind. It was literally just what we were doing at that moment.


Die Musik und die Titel passen an diesem Sommertag weder zur Postkartenszenerie vor den Autofenstern noch zu unserer Urlaubsanfangsstimmung. Es ist alles deutlich sonniger und gelöster, als es in diesem Song klingt. Wir mögen es dennoch.

Und wir finden, die nächste markante Hürde wird damit genommen, auch die Ferienwohnung in Kaltern an der Weinstraße Anhieb. Ohne längere Irrfahrt durch Straßen, die sich unvorhergesehen in Bergpfade an absurd steilen Hängen verwandeln. Das war auch schon einmal anders, denn nicht alle Navis kommen mit Südtirol im kleingedruckten Bereich der Karten klar. Diesmal läuft es bei uns.

Es ist warm, sehr warm, fast heiß, der Tag wird glühend gewesen sein. Der einladende Pool am Haus ist leer. Aber nicht mehr lange.

Blick durch Apfelpflanzungen in Kaltern, ein kleiner Trecker mit im Bild, im Hintergrund Berge und Wolke n

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Das richtige Verhalten in der Gesellschaft

Physiotherapie für Obdachlose als Zynismus des Tages – die Lage am Hamburger Hauptbahnhof wird schlimmer, die Situation im kleinen Bahnhofsviertel dadurch auch. Eine Ergänzung zu den vielen Beobachtungen hier im Blog.

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Es ist mancherorts so heiß, sogar im Odenwald wird gehupt.

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Weiter gelesen in Vicki Baums Erinnerungen. Immer noch zufrieden mit dieser Lektürewahl. Allerdings hörte ich zwischendurch auch die Lange Nacht über Kästner und dann merkt man doch, dass man auch bei der entspannend sein sollenden Urlaubsunterhaltung permanent an den politischen rechten Rand stößt. Wie es bei den Lebensläufen dieser beiden gar nicht anders sein kann. Ich werde das Thema also nicht los.

Und schlimmer noch, wir werden es nicht los.

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Die Kaltmamsell träumt von Zeitreisen und verlinkt einen Artikel zum Klimawandel und zur „Hitzehölle“ in Städten. Ich sah irgendwo, dass Hamburg dabei noch ganz gut wegkommt. Aber Verbesserungsbedarf und -möglichkeiten gibt es immer und reichlich.

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Im Hotel in München haben fast alle außer uns die Taylor-Swift-Armbänder am Handgelenk. Wenn die Buchstaben darin Textzeilen der Songs bilden, wie ich gelesen habe, könnte man aus sämtlichen Armbändern in dieser Stadt heute sicher ihr Gesamtwerk zusammenlegen. Auch eine charmante Vorstellung.

Vor dem Hotel trägt man entweder Tracht oder Freizeitkleidung mit Armband. Wir kommen uns nach einer Weile etwas seltsam vor, ohne Schmuck am Handgelenk oder Volkstümliches. In der Straßenbahn, auf den Wegen, in den Parks – überall diese Armbänder, viel häufiger noch als die lokalen Modeaccessoires. Immer wieder guckt uns jemand auf die Handgelenke, ob wir nicht auch … Aber nein, wir nicht.

Ausgesprochen freundlich Menschen sind es jedenfalls, diese Swifties. Sie gehen betont rücksichtsvoll miteinander um, es ist nicht zu übersehen. Sie ruhestören nicht im Hotel, sie schmutzen nicht. Pardon, ich will nicht spotten, ich mochte das. In der Ausstrahlung liegen sie in der Gesamtheit irgendwo zwischen internationalem Pfadfindertreff, stark überdimensionierter Klassenfahrt und verstrahlten Sannyasins, die Älteren erinnern sich vielleicht. So nett und irgendwie auch niedlich enthusiasmiert, wie sie alle auf den Auftritt ihrer Leitfigur warten und sich dabei umeinander kümmern.

Apropos Sannyasins, mir fällt nebenbei ein, wie sehr man zu meiner Schulzeit davon ausging, dass Sekten aller Art eines der größten Risiken für die Zukunft von uns damaligen Jugendlichen waren. Wie man sie für ein drohendes, wild eskalierendes Weltproblem hielt. All die Vorträge und mahnenden Worte, die zahlreichen düsteren Leitartikel und Reportagen, die vehement bemühte Aufklärung.

Lange nicht mehr gehört, den Begriff Sekte. In der Jugend unserer Söhne scheinen sie keine Rolle zu spielen, nicht einmal am Rande.

Auch über die so freundlichen Swifties hinaus sehe ich an nur einem Abend in München gleich mehrere auffällige random acts of kindness in der Stadt. Jemand rennt auf die Straße, mitten in den stockenden Verkehr, und schließt bei einem Auto den Kofferraum, der sicher versehentlich offenstand. Einer hilft einem gestürzten alten Mann an einer Ampel liebevoll wieder auf die Beine, eine sammelt einer Frau Äpfel auf, die aus ihrer Einkaufstasche gefallen waren. Jemand organisiert energisch einem Blinden einen Platz in der Bahn und dergleichen mehr. An jeder Ecke eine solche Szene, wie in einem Lehrfilmchen über das richtige Verhalten in der Gesellschaft.

Entweder man ist in München so, was mir allerdings neu wäre, aber was auch nicht ausgeschlossen ist. Oder es ist nur erneut der Stichprobeneffekt, der dann diesmal besonders eindrücklich ausfällt. Vielleicht aber sieht man auch mehr von so etwas, wenn man nur irgendwo anfängt, es wahrzunehmen. Aber das klingt fast ein wenig zu gut, um stimmen zu können.

Wir ziehen durch die Stadt, die uns so angenehm fremd vorkommt. Es ist dort schon Urlaub für uns, auch wenn es nur eine pragmatisch gewählte Zwischenstation ist. Es ist bereits ein anderes Land, also zumindest gefühlt. Andere Leute, andere Fassaden, andere Geschäfte, anderes Licht, andere Luft. Eine andere Sprache auch. Und so muss das auf Reisen sein.

Wir wandern wie gute Touristen pflichtschuldig durch den Englischen Garten entlang der Reiseführerhighlights und erinnern uns an frühere Besuche dort. Hier und da kommt es mal der Herzdame und mir, mal einem von den Söhnen bekannt vor. Da waren die beiden mal im Wasser, dort vor dem Monopteros hat Sohn II das Radschlagen gelernt. Da vor dem Chinesischen Turm hat ihnen ein Straßenkünstler einmal exklusiv Kunststücke vorgeführt, da hinten hat Sohn I einen großen Spielplatz entdeckt, ganz damals.

Die Reisen und Erlebnisse verschwimmen in der Erinnerung. Unmöglich zu sagen, was in welchem Jahr war.

Wir ziehen das Touristische bis zum Ende und stets bemüht wie immer durch und essen furchtbar schlecht am Chinesischen Turm. Dann gehen wir zu Fuß zurück zum Hotel. Das ist dermaßen weit, dass an diesem Tag kein Schrittzähler unter dem Durchschnittswert des Jahres bleibt. Und es ist auch so weit, dass wir im Hotel sofort einschlafen. Obwohl wir zu viert in einem Raum liegen, was niemand von uns besonders angenehm findet.

Egal, es ist nur eine Nacht. Dann fahren wir weiter, südlicher.

Eine Palme vor sehr blauem Himmel

 

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Golden und mit Glitzer

Gehört: Ein Stück beim Deutschlandfunk, US-Superreiche – Nicht von dieser Welt. Zwischen Gesellschaftsutopie und Gottkomplex. Keine allzu beruhigende Sendung, wie man sich denken kann. Man möchte das alles gar nicht wissen, aber nichts davon zu wissen ist auch wieder nicht richtig. Der so unangenehm schmale Grat der korrekten Informationsmenge.

Außerdem gehört: Ein Zeitzeichen zu Antoine de Saint-Exupéry. Aus dem die Diktatfunktion gestern beim Spaziergang einen Antony the Saint-Super machte, das ist auch schön. Vielleicht muss ich an meiner Aussprache französischer Begriffe arbeiten, das mag sein. Es gibt auch eine Lange Nacht über ihn, soweit reicht mein Interesse an Fuchs und Prinz allerdings nicht. Ich melde es hier nur eben als Service-Hinweis.

Und schließlich habe ich weiter die Lange Nacht über Erich Kästner bis zum Ende gehört. Ich fand in der Reihe bisher zwar alle Folgen gut, diese aber besonders. Ich empfehle sie noch einmal und ausdrücklich.

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Ein Lebenszeichen von Frau Novemberregen, wie erfreulich.

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Wo waren wir. Wir waren in München, gerade angekommen. Menschen in Lederhosen und Dirndl ziehen an unserem Hotel vorbei. Sie besuchen ein Event in einem nahen Biergarten, bekommen wir dann mit. Es geht mir etwas gegen den Strich, dies so zu notieren, es ist wieder zu viel Klischeeware. Aber wenn sie da doch tatsächlich in Rudeln so gekleidet herumlaufen, was soll man machen.

Kurz überlege ich zum wiederholten Mal, wie außerordentlich fremd uns das ist, so historisierend volkstümlich ausstaffiert herumzulaufen. Wie undenkbar das für den norddeutschen Landesteil längst geworden ist. Oder immer war, so genau kenne ich mich nicht aus.

Es stellt keine Wertung dar, dieses Überlegen. Ich habe da keine Meinung, auch keine reflexmäßige Aversion. Ich finde es eher amüsant, wie schwer es ist, sich auch nur auszumalen, wir würden in Hamburg oder in Küstennähe gewohnheitsmäßig in Buscherump, dunkelblauem Troyer und mit Elblotsenmütze auf dem Kopf herumlaufen. Wir würden in diesem Outfit routinemäßig auf Reisen gehen und Staatsgäste so gewandet empfangen. Zur Kirche, zur Wahl und zu anderen wichtigen Anlässen so gehen etc., Alltag in Marineblau.

Wobei ich eine Elblotsenmütze sogar besitze, fällt mir ein, sie steht mir aber nicht. Das Helmutschmidthafte ist vielleicht nicht ausgeprägt genug in mir vorhanden, mag sein.

Ich stelle mir einen Moment bemüht vor, wir würden bei uns so herumlaufen, gerne und oft und viele von uns. Die Frauen und Mädchen vielleicht in Kleidern, wie sie bei den Auftritten der Finkwarder Speeldeel getragen werden, und wie man sie sonst nie im Alltag sieht.

Ich stelle mir vor, wir würden uns am Wochenende mit Freunden unter freiem Himmel treffen, gemeinsam Unmengen Kööm trinken und inbrünstig Shantys dabei singen. Familienverbände mit Gitarre und Flöte und allem. Rolling home, Wir lagen vor Madagaskar etc. Ich stelle mir vor, das wäre normal.

Vielleicht würde ich Letzteres sogar nett finden. Ich mag Shantys manchmal, so viel innere und verstetigte Küstennähe muss sein.

Aber davon abgesehen – wir würden uns eben verkleidet fühlen. Anders gibt es meine Fantasie nicht her. Und die Bayern, also viele Bayern, fühlen sich in dieser Kleidung nicht so, unterstelle ich. Sie fühlen sich im Gegenteil besonders echt, wenn sie ihre Trachten tragen, so wird es sein. Sie fühlen sich authentisch. Es ist immer wieder ein faszinierender Umstand für mich.

Die Familie der Herzdame hat in ihrem Heimatdorf vor zwei Generationen eine Volkstanzgruppe gegründet, mit traditioneller Kleidung aus der Region und allem. Wir haben also etwas Bezug zum Thema, und diese Volkstanzgruppe war fraglos auch wichtig für die Dorfgemeinschaft. Aber ob da künftig noch genug mitmachen werden – es ist nicht normal und etabliert genug, bei uns ein derartiges Hobby zu pflegen.

Man kann auf das latent unheimlich Rückwärtsorientierte in der einen und auf das geschichtsvergessene, so bedauerlich Traditionslose in der anderen Ausprägung kommen. Man kann das Thema lange diskutieren, schon klar. Vorteile, Nachteile, kulturgeschichtliche Ableitungen. Historische Erklärungen und auch die soziologischen Besonderheiten der Bundesländer.

Wie auch immer: München ist jedenfalls immer ein Erlebnis für uns.

Ein Erlebnis, bei dem es auch vorkommen kann, wie ich kurz darauf in einer Bahn sehe, dass grell geschminkte Platinblondinen mit höchst unwahrscheinlichen und stark überzeichnet wirkenden Figuren goldene Dirndl mit Glitzer und reichlich Blingbling auf dramatisch hohen Absätzen durch die Stadt balancieren. Wie inszeniert ist das denn wieder.

Da will ich mich jedenfalls nicht beschweren und auch keineswegs lästern. Ich finde es meist unterhaltsam dort. Man sieht einmal andere Menschen, man kann etwas notieren. Und dann bin ich auch schon zufrieden, denn ich bin ein genügsamer Reisender.

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Alles durchziehen

Die Herzdame und ich machen dann den Fehler, im Zug nach München eine Mail an uns zu lesen. Eine Mail, die stark stimmungsverderbend und vom Timing her so ungünstig wie nur denkbar ist.

Es reicht nämlich nicht, die beruflichen Mails zu ignorieren. Man müsste eigentlich alle Mails, Meldungen und Mitteilungen auf sämtlichen Kanälen komplett ausblenden. Etwa so, wie man es früher im Urlaubsfall getan hat, schon weil es gar nicht anders ging. Im letzten Jahrhundert noch, als man auf seiner Liege unter dem Sonnenschirm höchstens durch Telegramme gestört wurde, und dann war so etwas von Weltuntergang. Dergleichen kam aber ohnehin nur in Romanen und Filmen vor.

Auch alle Nachrichten zu privaten Themen müsste man für eine Weile sämtlich unterbinden, besonders die zu den eher unangenehmen Bereichen, wovon es sicher bei allen Menschen welche gibt. Rechts- und Finanzfragen, Konflikte, Klärungen und sonstige dunkelgraue Problemzonen der Familienbewirtschaftung. Die ganzen Gräuel der Administration des eigenen Daseins – ich werde nie aufhören, über ihre Ausmaße zu staunen.

Aber gut, gelesen ist gelesen. Wir sitzen danach glühend vor Zorn und mit unangenehm beschleunigtem Puls zwischen Göttingen und Augsburg. Wie viele Reisekilometer weit so ein Ärgernis reichen kann! Quer durch ein ganzes Land. Zur fachgerechten Beantwortung dieser Mail müssten wir mehrere Stunden oder gleich einen Tag investieren und am besten vorher noch schnell eine Schreitherapie machen.

Das schließen wir erst einmal aus. Wir haben immerhin Urlaub, und so oft hat man den nicht. Sparwillige Menschen wie ich überschlagen in solchen Situationen auch gerne kurz den Wert eines Reisetages, den man auf diese Weise vergeigt. Und stellt fest, dass man sich das gar nicht leisten will. Bin ich Krösus oder was, eine solche Verschwendung.

Ein größeres Problem tatsächlich und gelingend geistig so auszublenden, dass man in zumindest halber Seelenruhe annähernd entspannt Ferien machen kann, es scheint mir eine doch hohe Kunst zu sein. Und Experten sind wir darin nicht, so viel steht auch fest.

Schon die nächste Mail (ich lerne nicht so schnell aus Fehlern, q.e.d.) ist dann allerdings eine Projektanfrage an mich, eine recht erfreuliche, es ist ein Ausgleichstreffer des Schicksals. Sportliche Vergleiche aller Art liegen in der Luft in diesen Wochen, nicht wahr.

Nebenbei sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Olympia zwar groß und wichtig und global ist, im Norden aber gerade die Meisterschaft im Schlickrutschen entschieden wurde.

Wir kommen jedenfalls auf die Minute pünktlich in München an, die Deutsche Bahn kann es noch hier und da.

In dieser zusammengezimmert wirkenden und nur von Gerüsten aufrechtgehaltenen Bahnhofsattrappe kommen wir an, die wohl erst in Jahren wieder ein funktionales Stück Infrastruktur darstellen wird. Vielleicht zu dem Zeitpunkt, an dem in Hamburg endlich der große, der seit Ewigkeiten diskutierte und stets doch vollkommen ungewiss bleibende, fast sagenhafte Bahnhofsumbau losgehen wird. Ein großer Nordsüdtausch der Riesenbaustellen könnte es werden. Ich notierte es so bereits bei der letzten Reise, schwant mir.

Das Leben als Abfolge von sich ähnelnden Textpassagen und Erzählspiralen.

Bezüglich Hitze und Verelendung können wir uns in München dann auch gleich wie zuhause fühlen. Es ist entschieden zu warm in dieser Stadt und die an der Gesellschaft oder an sich selbst gründlich gescheiterten Menschen sind unübersehbar zahlreich und elend, wie sie es überall an den großen Stationen sind. All die Hände, die sich uns bittend entgegenstrecken.

Wir ziehen Koffer und Kinder zu Fuß zum Hotel.

Nein, in Wahrheit ziehen die Kinder die Koffer. Sie sind nun immerhin Teenager der ausgeprägt großen und starken Sorte, sie können das. Eine halbe Stunde Weg ist es nur, und wir brauchen dringend Bewegung nach der langen Fahrt, denken wir uns. Nach 15 Minuten zweifeln wir allerdings temperaturbedingt und schon wieder hitzederangiert an dieser uns auf einmal seltsam abwegig vorkommenden Idee. Aber nun ist es zu spät.

Alles durchziehen. Die Wege, die Abenteuer, den Urlaub, die Woche und den Sommer.

Exakt beim Betreten des Hotels poppt auf meinem Handy prompt eine Hochwasserwarnung für München auf. Der erste Mensch, der uns im Treppenhaus begegnet, grüßt uns mit einem vertraut knappen „Moin.“ Es bleibt alles noch einen Moment erstaunlich heimatlich und fühlt sich ausgesprochen norddeutsch an.

Bis wir nach einer kurzen Rast wieder vor die Tür gehen. Wo auf einmal alle Tracht tragen und es gründlich München geworden ist.

Die Türme der Theatinerkirche in München

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