Holy Mother of the humble and the weak

Vorweg ein erneuter Dank für eine überaus freundliche Buchzusendung. Diesmal kam ein winterabenddickes Romanwerk, das ich schon lange, lange lesen wollte: Middlemarch von George Eliot (Mary Ann Evans). In neuer Übersetzung von Melanie Walz, hier die Verlagsseite dazu.

Herzlichen Dank!

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Eine Art Hausmitteilung. Weil es mir jetzt öfter auffiel, dass es ein kleines Problem mit meinem momentanen Tagesablauf gibt. Denn nachdem ich morgens gebloggt und den Link zum Text noch an diversen Stellen vermeldet habe, bin ich oft über viele Stunden nicht mehr in irgendeinem privaten Kontext online.

Meine Neugier auf Social Media gehört zumindest im Moment definitiv der Vergangenheit an. Höchstens gucke ich noch Bilder und Filmchen zwischendurch oder mache solche und poste sie dann. Das sind aber nur Minuten-Aktionen, kein Vergleich mehr dazu, wie man früher auf dem damaligen Twitter Zeit durchgebracht hat, die Älteren erinnern sich. Das meiste interessiert mich heute tagsüber eher nicht mehr, was auch daran liegt, dass mich mein Job etwas mehr interessiert hat in den letzten Monaten. Es hat Vor- und Nachteile. Auch private Mails können gerne auf mich warten, das ist ebenfalls neu bei mir. Die ganze Dringlichkeit des Internets fällt mit anderen Worten allmählich von mir ab. Und vermutlich ist es auch gut so.

Der Nachteil für Sie ist manchmal nur, dass Ihre Kommentare dadurch erst nach Stunden freigeschaltet werden. Falls Sie sich also darüber gewundert haben: Pardon, so kam es dazu.

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Gesehen habe ich eine Doku über Joyce Carol Oates. Die darin erfrischend viel Unerwartetes zu sagen hat und vermutlich etlichen Erwartungen und gängigen Meinungen entgegentritt. Etwa mit ihrer Auffassung, über ihre Probleme mit absolut niemandem reden zu wollen, und zwar aus Prinzip nicht.

Ich fand es interessant.

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Kid37 weist auf eine Kunstausstellung hin, das könnte man auch beachten. Welche allerdings an einem Ort stattfindet, den nur Verrückte, Touristen und Menschen mit sehr dringendem Sonderbedarf an einem Wochenende aufsuchen. Alle anderen warten doch lieber die Durchschnittstage ab.

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Im Podcast von Bill Bighy, von dem Sie allmählich wissen, dass ich ihn sehr schätze, weist er in der Vorrede darauf hin, wie er die Fragen aus dem Publikum beantworten möchte: “I will attempt to answer your questions without actually making things worse.”

Das ist ein Satz, den man sicher leicht überhört. Aber im Grunde ist er als Lebensregel gut verwendbar, scheint mir. Denn so sollte man wohl mit vielen Fragen umgehen, wenn nicht mit fast allen: „Without making things worse.“

Denn, sehen Sie, das ist auch wieder eine schöne Inschrift für den nur herbeifantasierten Grabstein: „He tried to live without making things worse.“ Selbst wenn man das „tried“ wohlweislich einbaut, um den Größenwahn nicht zu deutlich anklingen zu lassen, ist es selbstverständlich immer noch eine gewagte, gewiss kaum haltbare Behauptung.

Aber es ist eine, die mir gefällt.

Kreideschrift auf dem Pflaster: Be Good

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Hier noch ein Lied. Das ich gerade bei der „Arbeit“ an den Playlists wiederfand und sofort erneut mochte: „I don‘t care to dance.“

Wunderbare Lyrics, auch heute noch aus eher seltener Perspektive, von Männern aus betrachtet:

“And you laugh as I stare down at my feet
Holy Mother of the humble and the weak
You gently lift my chin so I can look into your eyes
And you rebuke the bullshit and the lies, all those people who told me how to be a man
Well I don’t want to follow them any longer
So twirl me around the floor.”

 

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Cathy, Margot und die Großmutter

Während meiner herrlich sinnfreien, dabei aber besinnlichen und eben doch sinnvollen „Arbeit“ an den Playlists, lese ich manche Texte nach. Ich merke, dass es da Lieder gibt, deren Texte so lyrisch oder so seltsam abgedreht sind, dass ich sie weder durch das reine Nachlesen noch durch Übersetzungen und auch nicht durch das Recherchieren von bemühten Nachdichtungen verstehe. Bei manchen Songs kann man nun die Geschichte dazu im Internet nachlesen, kenntnisreiche Deutungsversuche ebenfalls. Manchmal von Expertinnen, manchmal von einer User-Vielfalt zusammengetragen. Oder auch zusammengeraten: „Ich glaube, es geht um Liebe.“ Und alle so: „Ach was?!“

Manchmal verstehe ich dann immer noch nichts. Vielleicht gibt es da auch nichts zu verstehen. Wie es John Prine in einem Song gesagt hat: „Wir sind Songwriter. Für Bedeutung sind wir nicht zuständig.“ Eine ebenso grundsätzliche wie auch wahre Aussage, vielleicht nur etwas erstaunlich von jemandem, der doch so etwas wie der Inbegriff von gut erzählten, klaren Songs ist, also von jemandem, der immer wieder erkennbare Geschichten gesungen hat.

Falls Sie John Prine nicht oder nicht gut kennen, „Far from me“ etwa ist so eine klar erzählte Geschichte. In einfachen, bemerkenswert treffenden Bildern erzählt. Mit einer ersten Strophe, bei der man als schreibender Mensch wieder auf diese gute Art neidisch werden kann, weil es so zielgenau ansetzt.

Blick durch das Fenster in ein nächtliches, leeres Restaurant

As the café was closing on a warm summer night
Cathy was cleaning the spoons
The radio played the hit parade
And I hummed along with the tune
She asked me to change the station
Said the song just drove her insane
But it weren’t just the music playing
It was me she was trying to blame.”

Abgesehen von diesen sich sofort erhellenden Songs: Rätselhaftes Zeug bleibt übrig, das ich daher auch nicht kategorisieren kann. Abgesehen von der Ablage unter K wie Kryptik.

Unverständliches, aber doch oft schönes Zeug. Bei dem man vielleicht hier und da eine Zeile versteht, eine einzelne Wendung nur, lediglich den Refrain. Stellen, die man vielleicht immer schon gemocht oder sogar geliebt hat, die man auch endlos oft im Kopf wiederholt und mitgesungen hat. Teils mit schamanistisch anmutenden Zauberspruchqualitäten.

Als ich zum ersten Mal etwas Französisch lernte (das klingt, als könnte ich es heute, aber dem ist nicht so), was ein wenig vor der Zeit war, in der ich es in der Schule bekam, aber das ist eine andere Geschichte, hatte ich die Hoffnung, bald diese ganzen Chanson-Texte verstehen zu können. Der grenzenlose Optimismus der Jugend, er hatte Vorteile. Die Texte jener Lieder wollte ich verstehen, die viele Erwachsene um mich herum so großartig fanden. Die mir musikalisch teils auch gefielen, die mir aber inhaltlich rein gar nichts sagten. Sie hätten auch in spanischer, portugiesischer oder japanischer Sprache gesungen werden können, ich hätte ebenso wenig verstanden.

Aber nun! Mit ein paar wenigen Vokabeln und den ersten Anfängen in der Grammatik, da musste doch endlich etwas gehen. Also was sang Georges Moustaki da, auf dem 73er Album „Déclaration“:

“Pour faire pleurer Margot

Pour faire danser grand-mère …”

Viel weiter kam ich damals nicht. Und ich hatte kurz darauf auch schon wieder andere Themen im Sinn und kam dann davon ab, mir Chansons akribisch zu erarbeiten. Aber ich weiß noch, ich fand ihn sehr schön, diesen Anfang. Um Margot zum Weinen zu bringen und die Großmutter zum Tanzen … das gefiel mir sehr. So fingen gute Texte an, das war klar.

Ich habe diese beiden Zeilen nie vergessen. Und für den größten Teil meines Lebens nicht die geringste Ahnung gehabt, worum es im Rest des Liedes ging. Was es denn nun war, das Margot zum Weinen und die Großmutter zum Tanzen brachte, wieso überhaupt fünf Instrumente und wer ist diese Margot eigentlich, was soll das alles.

Warum auch immer, ich habe da nie weiter nachgeforscht.

Das mit Margot und der Großmutter, das sang ich seitdem aber auch ab und zu unter der Dusche. Das war immer in meinem Standardrepertoire, es klang im Badezimmer auch verlässlich gut und gefällig. Leicht war es weiter aufzufüllen mit unsinnigen, nur vermeintlich gut und halbwegs französisch klingenden Silben.

Weder habe ich jemals selbst eine Margot kennengelernt, noch habe ich eine meiner Großmütter auch nur einmal beim Tanz beobachten können. Und doch sind mir die Zeilen vertraut, als besänge ich da unter der Dusche immer wieder ein Stück der eigenen Biografie.

So ist das mit Liedern, die man aus irgendwelchen Gründen liebt.

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Gemütlichkeit im ewigen Jetzt

In der Innenstadt ist währenddessen der Begriff Karstadt verschwunden. Ausgetauscht wurde er auf allen Schildern und Hinweisen, eingewechselt gegen das moderner und gefälliger klingende Galeria. Ein weiterer Wortzauber, wieder Umbenennungsmagie. Man kennt es auch aus vielen anderen Kontexten. Raider hieß dann Twix, und man weiß seit jener Zeit auch, denn der Slogan war aus heutiger Sicht sensationell ehrlich: Sonst ändert sich nix.

Dekorierte und beleuchtete Tannenbäume schießen in den Fußgängerzonen aus dem Boden. Immer mehr Holzhütten, die obligatorischen Gemütlichkeitskästchen unserer Volkskultur, stehen nun wieder überall im Weg herum, Weihnachtsmärkte ein paar Tage vor dem Start. Man geht durch die Stadt und kann hinterher sich und den anderen aufsagen, dass man „es“ noch nicht fühlt. Oder fühlst du es etwa schon? Nein, er, sie, es fühlt es auch noch nicht. Er, sie, es schüttelt vielmehr den Kopf.

Smalltalkrituale, so festgefügt, als würden wir sie seit dem Anbeginn der Welt aufführen. Am achten Tag nämlich schuf Gott die zerlegbare und transportable Holzhütte für den Winter im deutschsprachigen Raum.

Gestern erzählte ich diversen Menschen, nicht nur Ihnen, von dem Abend im Theater, und als Regel konnte ich ableiten: Sämtliche Menschen, die jünger waren als ich, kannten Serge Gainsbourg nicht. Das kann man noch als Ergänzung zum im letzten Text erwähnten frühen Vergessen mitnehmen.

Und ich bleibe dabei, dass es etwas unterschätzt wird, mit welcher Selbstverständlichkeit die Menschen ungefähr meiner Generation das kannten, was vor uns war, und mit welch ähnlicher Selbstverständlichkeit man das als eher jüngerer Mensch heute nicht mehr kennt. Es ist selbstverständlich kein Vorwurf, ich wundere mich nur immer wieder, wie wenig dieser doch einigermaßen drastische kulturelle Bruch thematisiert wird.

Erst deutlich nach meiner Jugend nämlich wurde die Gegenwart als endlos interessant eingeführt. Davor war die Vergangenheit deutlich reicher als jedes gegenwärtige Wochenende, das irgendwie mühsam herumzubringen war. Deswegen lasen wir die alten Bücher aus den Regalen der Eltern, guckten die Western von gestern und hörten im Radio immer noch Sinatra, die Beatles etc., die alle schon vorbei waren. Deswegen legten wir fast unweigerlich die Musik von damals auf: Es war eben die Musik, die da war. Und deswegen kennen wir die heute noch, obwohl sie so viel älter war als wir.

Man brauchte erst viel mehr Fernseh- und Radiosender, man brauchte vor allem auch das Internet, YouTube, TikTok, Instagram, Smartphones etc., um endgültig und ausweglos im Jetzt hängenbleiben zu können. Im nie mehr aufhörenden Jetzt.

Welches sich die esoterische Fraktion damals übrigens auch irgendwie anders und ein klein wenig seliger vorgestellt hatte. To say the least.

Der Anleger Jungfernstieg am Abend

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Kultur und Ambition, der nächste Abend

Ich habe die Erzählungen von Nossack beendet und verstehe jetzt, wieso sein Name auch mal in Verbindung mit Kafka genannt wird, was mir zunächst doch erstaunlich vorkam. Ich schätze ihn nun auch mehr als vor dieser Lektüre, das ist sehr gut, so soll es sein.

Dann las ich in die abgegriffene, hellgrüne Suhrkamptaschenbuchausgabe aus dem öffentlichen Bücherschrank von „Mein Name sei Gantenbein“ hinein, Max Frisch. Mit dem ich aber ohnehin nur bemüht warm werde, seit dem Briefwechsel mit der Bachmann kaum noch und bei diesem Buch so gar nicht. Es war auch nicht mein erster Versuch. Aber es muss ja auch gar nicht von mir konsumiert werden, dieses Buch. Man kann in nur einem Leben nicht alles lesen.

Das Buch Mein Name sei Gantenbein von Frisch

Nebenbei dachte ich wieder daran, wie prominent, bedeutend und vieldiskutiert dieser Frisch noch in meiner Jugend war, wie präsent seine Werke, auch etwa in Schulen. Was auch für andere Namen aus der Zeit gilt, etwa für Nossack. Und wie weit weg die nun schon sind, wie entlegen sie bereits wirken, wie gestrig und fast vergessen. Sie verschwinden etwas unerwartet schnell in der Versenkung, so kommt es mir jedenfalls vor. Es wird aber nicht nur an ihnen oder ihren Werken liegen, sondern auch an unserer überhöhten Entwicklungsgeschwindigkeit von ihnen weg.

Es ist vielleicht hier und da etwas unfair, dieses schnelle Vergessen. Immerhin aber habe ich in den letzten beiden Absätzen den äußerst naheliegenden Scherz mit dem Wort „unfrisch“ ausgelassen, da will ich mich kurz selbst für die Beherrschung loben.

Hängegeblieben bin ich anschließend an einem der wenigen Simenons, die ich noch nicht kenne. Ein Non-Maigret und ein nicht-autobiografischer oder eben doch autobiografischer Roman. Das könnte man so oder so ausdeuten, und der Autor übernimmt es freundlicherweise selbst in einem Vorwort. Das ist ebenso angenehm wie entgegenkommend und für alle interessant, die in dieser Richtung gerne lesen oder schreiben.

Das Buch Pedigree von Simenon

Drei Prozesse gegen Personen, die sich vermeintlich im Roman wiedererkannt haben, hat Simenon verloren. „Pedigree“ heißt er, und es ist sein umfangreichster Roman, Deutsch von Hans-Joachim Hartstein.

Hier die französische Wikipedia-Seite dazu, die auch schon interessant ist.

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Am Abend dann weiter mit einem anderen Herrn aus dem französischsprachigen Raum. Diesmal nicht belgischer Abstammung, sondern aus ukrainisch-jüdischer Richtung: Serge Gainsbourg. Dominique Horwitz erzählte, sang und spielte sein Leben in den Kammerspielen.

Das Programmheft zum Gainsbourg-Abend mit Horwitz auf dem Titelblatt

Wofür er geeignet wie kaum ein anderer sein dürfte. Vor etwa 25 Jahren habe ich dort schon seinen Brel-Abend gesehen, in Begleitung von … Und sehen Sie, da ist es wieder, das Erinnerungsproblem. In Begleitung einer Frau sah ich es jedenfalls, so viel immerhin wird feststehen, und der Abend beeindruckte damals sehr.

Vier Musiker begleiteten Horwitz in einer wilden, aparten Mischung aus dem Sound der Sechziger und Jazz. Es waren großartige Musiker, soweit ich das beurteilen kann, und es ging nicht um brave Begleitmusik, sondern um üppig inszenierte Melodien und Stimmungen.

Der Abend lohnte sich schon wegen der rauschhaften, exzessiven Version von „Bonny & Clyde“ und wegen der geschickt inszenierten, wehen Varianten von „Je t’aime“ und von „Je suis venu te dire …“.

Einige französischsprachige Frauen um mich herum gingen bei den schnelleren Stücken dermaßen ab, dass die ehrwürdigen Sitzreihen in den Kammerspielen bedenklich in Bewegung gerieten. Es war eine Wirkung, mit welcher der geehrte Künstler fraglos hoch zufrieden gewesen wäre.

Seine Schattenseiten, an denen bekanntlich keineswegs irgendein Mangel bestand, wurden nicht verschwiegen, als beschönigend konnte man den Abend kaum verstehen. Als Würdigung seiner ebenso fraglosen künstlerischen Leistungen kam es mir aber alles recht und angemessen und brillant umgesetzt vor.

Horwitz rauchte dabei auf der Bühne eine Gitanes nach der anderen, wie es nun einmal zum inszenierten Sänger gehört. Ich habe mehrere Jahre im Büro mit jemandem gearbeitet, der so viel wie Gainsbourg geraucht hat, und auch Gitanes. Ich weiß also, wie das riecht. Wie die Möbel, die Wände, die Kleidungsstücke und auch wie die Haut riechen, wenn man sechzig und mehr davon am Tag durchzieht. Es ist ein hartnäckiger, lange verbleibender Geruch, den man selbst dann eklig finden kann, wenn man selbst raucht, wie es damals bei mir noch der Fall war. Das will etwas heißen, denke ich, es ist ein spezielles Gift.

Ein widerlicher Geruch, bei dem man unwillkürlich irgendwann denkt, dass man diesen Konsum kaum lange überleben kann. Man denkt es vermutlich sogar mehr als bei anderen Marken – es war damals aber auch noch eine andere Tabakvariante als heute. Es lässt sich so mittlerweile nicht mehr aufführen.

Aber wie auch immer. Längst sind sie entsprechend tot, die beiden Raucher. Der Sänger und auch der Kollege, mein damaliger Chef. Es waren beide auf ihre Art Genies und vollkommen Durchgeknallte, in höchst unterschiedlichen Fächern.

Ein Neonschild für Doris Diner

Draußen im Grindelviertel neben den Kammerspielen leuchten mir dann später Erinnerungszeichen durch die Novembernacht. Ach guck, denke ich im Vorbeigehen, das gibt es also auch noch, das Lokal. Die Szenen darin sind allerdings auch lange her, und was aus ihr geworden ist – diesmal weiß ich, wer es war – das ist mir nicht bekannt. So fern sind diese Abende, und so seltsam präsent dabei einige Sekundenschnipsel der erlebten Szenen. Mir sind sogar Gesprächsstellen im Gedächtnis, bei denen ich etwas gesagt habe, das ich hinterher, also zu spät wie meistens, falsch fand – ach, man könnte glatt Chansons über dergleichen schreiben.

Also wenn man denn könnte.

Jetzt ans Schenken denken: Es gibt zwei Wiederholungsabende in den Kammerspielen im März, man wird dafür sicher noch Karten bekommen können, während ich für den Abend gestern die vorletzte Karte erworben habe. Für Frankophile, Gitanesraucher und Süchtige aller Art, für Poeten, Musikliebende und von der Liebe erfüllte oder aber enttäuschte Menschen. Damit kann man nicht viel falsch machen. Und nein, keine bezahlte Werbung.

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Everything happens to me

Am Montag ein sehr schlecht laufender, ein eher verheerender Termin, der auch noch erheblich nachwirken wird. So schlecht läuft es, dass ich mich hinterher frage, ob diese Stunde weiteres und am Ende überzeugendes Beweismaterial dafür geliefert hat, dass dieses Jahr eines der schlechtesten ist, die ich bisher erlebt habe. Mir müssten in den letzten paar Wochen noch mehrere attraktive Feen mit reichlich freien Wünschen erscheinen, um das zu verhindern, scheint mir.

Da ich aber als auch in Gedanken ordnungsliebender Mensch zu Listen und Systemen neige, überlege ich noch eine Weile ernsthaft, welche Jahre denn wohl die schlechtesten waren. Das ist selbstverständlich nicht so einfach, man scheitert da zunächst fast zwingend an der Gewichtung. Denn wonach geht man vor, was war eigentlich wirklich schlecht und was hat es ausgemacht. Die Seelenlange, ernstere Krankheiten vielleicht, oder auch allgemein als schlecht empfundene Ereignisse wie Scheidungen, Todesfälle, falsche Abbiegungen und Verirrungen auf dem Lebensweg und dergleichen? Macht am Ende erst eine Mischung aus solchen Elementen ein Jahr richtig nieder?

Ich schreibe mir etwas auf. Ich schreibe mir immer etwas auf, das hilft immerhin oft. Mir fällt dies und jenes ein, ich komme schließlich auf etwa zehn richtig schlechte Jahre. Grob ein Sechstel meines Lebens, wie auch immer das nun zu werten ist. Vermutlich geht es mir damit noch gold, so ist es ja meistens.

Abschließend und erneut lebensratgebend möchte ich aber die Erkenntnis teilen, dass es der Stimmung keineswegs besonders dienlich ist, ausgerechnet im November ausgiebig über die schlechtesten Jahre des Lebens nachzudenken. Wisst Ihr Bescheid.

Die Gegenprobe habe ich dann auch gemacht, versteht sich. Wie viele Jahre fand ich denn gut? Richtig gut? Also gut in diesem einfachen Sinne, dass man sich um Silvester herum sagt: „Wow, das war cool. Gerne noch einmal.“

Dieser Gedanke liegt mir, siehe oben, gerade fern, er kam aber durchaus schon vor, selbst bei mir. Und zwar etwa gleich oft wie die schlechten Jahre. Noch ein Sechstel also. Der Rest, also ganze zwei Drittel, liegt dann irgendwo um das Mittelmaß herum, das waren Gebrauchsjahre von der Stange. Oder aber man müsste sie sich noch etwas näher ansehen und weitere Kategorien bilden.

Man kann es aber auch einfach lassen, dieses Thema weiter zu erforschen, denke ich, und das wird vermutlich sogar das Beste sein.

In der Gegenwart leben und das Heute beachten, ja, ja.

Heute etwa habe ich einen vermutlich großartigen Kulturtermin am Abend. Und es gibt nichts, absolut gar nichts, was mich schon am frühen Morgen vergleichbar müde macht wie dieser Gedanke. Ich könnte mir Theater- oder Konzertkarten auch als Schlafmittel kaufen, das wäre eine recht sichere Sache, den medizinischen Sedativa weit überlegen.

Genießen werde ich den Abend vermutlich dennoch, so ist es nicht. Und dann wird es vielleicht der beste Abend der Woche … Aber nein. Das wollte ich nun lassen.

Der Hamburger Hauptbahnof am frühen Morgen noch bei Dunkelheit

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Novembergondeln

Da ich aller Wahrscheinlichkeit nach morgen schon wieder in Sachen Kultur und Ambition eine Bühne aufsuchen werde, bzw. den Zuschauerraum davor, weise ich noch eben dankend darauf hin, dass sämtliche Events des Herbstes und Winters hier leserinnenfinanziert ausfallen werden.

Da ich in diesem Jahr von den Trinkgeldern keine Reise im Sommer wie sonst bezahlt habe, ist das möglich. Und da ich das Geld mittlerweile auch für dieses oder jenes Kleidungsstück nutze, denke ich mir jetzt, was andere nicht wissen können, wenn ich ein Theater oder etwas in der Art betrete: Dieser eine Zuschauer wurde ausgestattet und eingeladen von seinem Publikum.

Dann freue ich mich erheblich über den Gedanken und gehe ein paar Meter etwas aufrechter, dafür möchte ich auch ausdrücklich danken. Eine gerade Haltung ist immerhin wichtig, in diesen Zeiten.

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Am Sonntagmorgen ein Spaziergang wie aus einem Reiseführer: Hafen, Dom, Planten un Blomen. Nur dass es unten an den Landungsbrücken kein Postkartenblau gibt. Keine Spur davon, nur ein durch die Schiffe maritim anmutendes Grau, dass etwas nach Weite und etwas nach Arbeit aussieht. Und wenn man das mischt, dann hat man das Hamburger Hafenlicht.

Entsprechend wirkt der Ausblick an manchen Stellen in etwa so, wie man ihn auch von Ölgemälden kennt. Bei dem Anders Zorn neulich etwa, da waren Werke dabei, die hätte man an diesem Morgen neu inszenieren können.

Ein Schlepper zieht ein Schiff elbaufwärts

Blick über die Elbe Richtung Elbphilharmonie

Es ist noch früh, und die Menschen, die später als Ausrufer für die Hafenrundfahrten verlässlich laut werden, sie verräumen noch leise ihre Sachen an den Ständen. Sie sortieren Zeug, rauchen, trinken dampfenden Kaffee und besprechen dies und das. in ruhigem Tonfall, die Kulisse noch nicht zu stören.

Dann zieht ein Schlepper ein großes Schiff vorbei, so wie wir die anbrechende Woche durch die Tage ziehen werden. Man sieht es uns nicht an, aber wir bekommen sie am Ende doch bewegt.

Barkassen an den Landungsbrücken

Rauf nach Sankt Pauli. Der Dom liegt still und schweiget, komm auf das totgesagte Volksfest und schau. Hier und da wird schon etwas gewerkelt, etwas hin- und hergetragen. Vor einer Geisterbahn steht eine große Freddy-Krueger-Figur aus Plastik und guckt ins Leere, niemand ist da, sich vor ihr zu gruseln. Vor ihr aber fegt jemand den Weg, und dieser Jemand hat einen Pullover an, der dem der Figur bei näherem Hinsehen etwas ähnelt. Jetzt dreht er sich um und sieht mich an, gleich wird er grüßen, aber ich gehe lieber zügig weiter. Jedes Kind weiß, dass gewisse Filme mit genau solchen Szenen anfangen.

Das Riesenrad dreht sich und ist als einziges Fahrgeschäft in Bewegung, etwas sinnlos wirkend. Ohne Musik, ohne Beleuchtung, ohne Gäste und viel langsamer als sonst. Da wird wohl etwas geübt oder getestet, vielleicht auch repariert. Wie in Zeitlupe kreisen die geisterhaften Gondeln vor dem leeren, bleichen Novemberhimmel. Passend zu manchen Spätherbstgedanken in freudlosen Loops, eine nach der anderen heben sich die Kabinen ruhig ins Blickfeld: Wenn die Trauer Gondeln trägt.

Unbeleuchtetes Riesenrad vor leerem Himmel

In Planten un Blomen dann die große Novemberdarstellung der Natur, beeindruckend und umwerfend wie immer. Die weggeknickten Stauden, die gefallenen Blätter, die kahlen Äste und Zweige, die hinfälligen Rosen. Der Friedhofsgeruch und die Krähen an den Mülleimern.

Wenige Menschen nur sind im Park, und nicht nur ich bleibe zwischendurch einfach stehen und gucke mir das alles an, wie es vergeht und vermodert.

Leere Bänke unter welkem Laub in Palnten un Blomen

Auf YouTube übrigens, fällt mir dabei ein, habe ich zehn anwendbare Versionen von Jackson C. Franks „Blues run the game“ zusammengestellt.


“Maybe when I’m older, baby
Someplace down the line
I’ll wake up older
So much older, mama
I wake up older
And I’ll just stop all my tryin‘.”

Es ist sehr leicht, für den November Musik zu finden.

***

Am frühen Abend schließlich das Pogromgedenken auf dem Joseph-Carlebach-Platz im Grindelviertel. Es kommen mehr Gäste, als ich erwartet hatte, auch mal positiv überrascht werden. Auf den Hochbunker, der neben dem Platz steht, auf welchem die Synagoge stand, die nun wieder aufgebaut werden soll, werden die Gesichter von Nachbarinnen und Nachbarn des Platzes projiziert, die 1938 dort gelebt haben. Vor Deportation und Mord.

Bildprojektion beim Pogromgedenken

Bildprojektion beim Pogromgedenken

Der Hamburger Kultursenator Carsten Brosda hält eine Rede, und ich nehme als etwas merkwürdiges Immerhin des Tages mit, dass wir da wenigstens einen in der ersten Reihe der Politik haben, dem man zehn Minuten und sogar länger zuhören kann, ohne dabei an Fremdscham eingehen zu wollen, ob der aufgesagten Inhalte.

Es ist aber kein kleines Immerhin, es fällt schon etwas größer aus.

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Schön, schön

Am Samstagabend ging ich trotz allmählich überwältigender Müdigkeit in den Michel, um mir dort Bachs h-Moll-Messe anzuhören, die immerhin erfreulich früh begann. Das schloss eine nicht eben kleine Bildungslücke, denn Bedeutung und Grandiosität des Werkes, Schönheit und überraschendes Überwältigungspotential waren mir bis zu diesem Abend gar nicht bekannt. Wie immer gilt bei so etwas: Fantastisch und fast hoffnungsfroh stimmend, was man alles noch lernen und entdecken kann.

Warum das Werk aber kurz vor der Aufführung als „größtes Kunstwerk aller Zeiten“ angekündigt wurde, das habe ich erst hinterher verstanden, beim beflissenen Nachlesen in der Wikipedia nämlich. Es war ein Zitat von Carl Friedrich Zelter.

Nun bin ich selbstverständlich gänzlich ungeeignet, das ebenfalls zu beurteilen oder die Aufführung dieses Abends bewerten, irgendwie einzuschätzen oder im Rang gewichten zu können. Das vermag ich nicht einmal ansatzweise, es würde sicher auch schnell peinlich werden. Nur eher plump kann ich daher mangels Kompetenz berichten, dass es mir außerordentlich schön vorkam. Schöner auch als etwa das Weihnachtsoratorium. Um es einmal in meinem Kopf zu sortieren und das entsprechende Regal im Hirn also kurzentschlossen etwas umzuräumen. Ich lege mich auch dahingehend fest, dass ich mir das jederzeit wieder anhören würde, wenn es in einem ähnlichen Rahmen geboten wird.

Dieses lapidar anmutende „jederzeit“ allerdings, das will bei mir etwas heißen.

Die Sopranstimme sang, kurzfristig eingesprungen wegen eines Ausfalls, Hanna Zumsande. Ich sehe gerade, es gibt bei YouTube eine Version des Stückes vom Münchener Bach-Chor mit ihr in dieser Besetzung. Das kann man sich hier ansehen und anhören. Eine Stunde und fünfzig Minuten Bach sind das , eine zweifelsfrei gut geeignete Beschäftigung für den Sonntag.

Zwei Bemerknisse noch eben dazu.

Der Michel vor dunklem Himmel

Da wäre etwa das speziell Absurde des Ortes. Denn zum einen ist der Michel (Wikipedialink) natürlich auf den ersten Blick so sehr Hamburg, wie es ein Gebäude nur sein kann. Ein Stadtsymbol und Wahrzeichen erster Klasse. Vermutlich auch bundesweit bekannt und schon an der Silhouette für erstaunlich viele Menschen erkennbar als die weithin berühmte und zigtausendfach abgebildete Kirche in Elb- und Hafennähe.

Zum anderen ist der Michel aber, gerade wenn man an feierlichen Konzertabenden hineingeht, ein hochgradig außerhamburgischer und auch aus der Zeit fallender Ort. Denn wir haben hier sonst kaum Barock, wir wissen nicht, wo das liegt, um wieder bei Asterix zu landen. Wir kennen keinen Goldprunk, wir haben diesen Bezug zum schwelgenden Bombast nicht. Dann betritt man diesen Innenraum: Unvermutet eine Orgie in Gold und Schwulst, Prunk und Verschwendung, ein für unsere Verhältnisse krasses Übermaß an Dekor und kunsthistorisch zweifellos bedeutendem Tüdelüt.

Barock ist ernsthaft merkwürdig und staunenswert, wenn man sonst kaum etwas in der Art vor der Tür hat. Für Menschen aus München oder gewissen anderen Städten ist es vielleicht kaum nachvollziehbar, stelle ich mir vor.

Zum anderen las ich im Programmheft beim Hören den Text mit und staunte nebenbei, wie außerordentlich tief verankert, wie geradezu ins Hirn eingemeißelt etliche Lateinvokabeln bei mir sitzen. Was ich nicht erwähne, um damit Eindruck zu machen, das würde auch schon daran scheitern, dass ich „nur“ etliche Vokabeln kann, aber kein Stück Grammatik mehr. „Wieso nicht mehr“, würde mein Lateinlehrer von damals an dieser Stelle mit zweifelndem Blick fragen, der mir schon zu Schulzeiten alle tieferen Kenntnisse zu Recht abgesprochen hat. Also alle Kenntnisse neben meinen Standard-Einsen in den Vokalabfragen.

Woran das wohl liegt oder lag, überlegte ich. Es ist mir doch sonst aus der Schulzeit nicht allzu viel geblieben. Es liegt wahrlich wenig von der ganzen Lernerei aus dieser Zeit im Kopf abrufbereit herum. Keine binomischen Formeln finden sich dort, keine Elementetafel aus der Chemie. Keine Kenntnisse über Schaltkreise oder über die genauen Vorgänge bei der Fotosynthese. Kaum greifbare Geschichtszahlen und auch keine Abfolge von Königen und Kaisern. Nicht einmal norddeutsche Flüsse oder Nebenflüsse, auch keine Versmaße und Reimschemata oder unregelmäßige Verben aus Frankreich. Das ist alles größtenteils weg. Und nicht einmal das erneute und teils also dritte Lernen mit den Söhnen hat es so wiederbelebt, dass es mir diesmal geblieben wäre. Geblieben ist mir eher ein tiefes Desinteresse an sicher zu vielen Themen.

Aber den Text dieser Messe las ich und war noch einigermaßen orientiert, worum es da ging. Wäre sie in französischer Sprache gewesen, ich hätte weniger deuten können. Besonders klug und lebenstauglich ist das gewiss nicht.

Ich bin nicht sicher, aber ich nehme an, diese verbleibenden Kenntnisse liegen daran, dass ich damals Latein unbedingt lernen wollte. Es schien mir als Kind unabdingbar, Latein zu kennen, um später als gebildet durchzugehen. Und das schien mir, ich weiß gar nicht recht, wo der Gedanke eigentlich herkam, ungemein wichtig zu sein. Von elementarer Bedeutung fürs Leben.

Geradezu peinlich war es mir, bevor ich Latein in der Schule hatte, Latein nicht zu können, das wird die Vehemenz der ersten Lernphasen wohl erklären. Von denen ich dann doch insgesamt zu wenig im Leben hatte, um eigenen Ansprüchen beim Thema Bildung je auch nur ansatzweise genügen zu können. Aber wie auch immer, diese Deutung des Wissenserwerbs sollte ich auch einmal aus heutiger Sicht mit der Therapeutin besprechen, der Gedanke scheint mir naheliegend zu sein.

Ach, ich habe gar keine Therapeutin. Na, egal.

Schöne, sehr schöne Musik jedenfalls. Das wollte ich nur eben sagen.

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An der Novemberalster

Am Morgen komme ich durch Playlistbasteleien und Spielereien ähnlicher Art vom Bloggen ab und lasse es abwehrschwach zu. Ich lasse mich nach schlafloser Nacht sogar treiben und gehen. Für die schlaflose Nacht immerhin kann ich nichts, die wurde durch andere Personen begründet und verursacht. Nicht an jedem Tag, aber das hatten wir bereits, kann das Immerhin des Tages direkten Frohsinn auslösen.

Ich sortiere zu früher Stunde bemüht dieses Immerhin, den Kreislauf und die Kopfschmerzen; ich gewichte einmal so und einmal so, weiß nicht recht.

Der Weg zum Anleger Rabenstraße im Weitwinkel

Dann gehe ich noch vor der ersten Einkaufsrunde runter an die Novemberalster. An den Ufern das nun schnell und in großer Menge fallende Laub, es riecht intensiv nach Herbst und Verfall. Das Licht über allem in elegantem Grau, und viel heller als kurz nach der Dämmerung wird es den ganzen Tag über nicht werden, wie ich jetzt am Nachmittag weiß. Es ist sehr November heute, und es gefällt mir gut, ein mir angenehmer Monat.

Ich gehe eine halbe Runde an der Harvestehuder Seite entlang. Ich mache einige Bilder und Filme, das Blassblau des Wassers, das Grau des Himmels und das Schwarz der Kormorane und der Outdoorjacken einzelner Spaziergänger. Nur wenige joggende Menschen verausgaben sich an diesem herbststillen Morgen, einige eher lustlose Hunde beschnüffeln sich bei deutlich mangelnder Spielbereitschaft.

Abgedeckte Boote an einem Steg an der Außenalster

Ich verstehe das, ich würde in diesem Moment auch gerade niemanden kennenlernen wollen. Nicht jeder Morgen ist dafür geeignet, und einige noch deutlich weniger als andere.

Draußen auf dem Wasser sehe ich immer noch mehrere sporttreibende Menschen, die einzeln, zu zweit oder auch mit noch mehr Menschen im Boot ambitioniert rudern. Wie man sich zu so einer Beschäftigung hingezogen fühlen kann, wenn die Kälte einem doch schon am Ufer in die Jackenärmel kriecht, sich die Arme entlangarbeitet und eisfingrig nach den Nieren tastet … es bleibt mir unbegreiflich.

Ein Ruderboot auf der Alster, von oben von der Kennedybrücke aufgenommen

Aber es ist doch gut, dass sie ihren Sport so entschlossen dort treiben. Denn es ist dekorativ und richtig, wenn etwas lautlos durchs Bild gleitet, und nicht immer sind die Möwen willig und rechtzeitig strahlend weiß und segelnd zur Stelle. Der Reiher am Ufer steht gar hartnäckig wie aus Plastik gefertigt und denkt gar nicht daran, etwas für ein Bild zu tun. Keine Feder rührt er.

Ich sehe mir diesen Vogel lange an. Dann nehme die Vorbilder wieder, wie sie kommen, ich gehe also nach Hause und mache es ihm nach.

Ich verhalte mich den Rest des Tages einfach still und es passt schon.

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Ein Geruch nach Denkmalschutz und Staub

Am Donnerstagmorgen koche ich Suppe, noch bevor in den Häusern ringsum auch nur ein einziges Licht angeht. Ich brauche die Küchenzeit am Nachmittag für das kostenlose Orgelkonzert in der Innenstadtkirche. Ich muss irgendetwas anders als sonst machen, sonst wird mir der Besuch dort wieder nicht gelingen können. Es ist ein Tricksen und Schieben mit den Timeslots und To-Dos. „Man tut und macht, bis einem das Blut unter den Fingernägeln hervorspritzt“, wie man noch bei Kempowski geschimpft hätte, „… und was ist der Dank?“

Der Dank der Familie fällt später erwartungsgemäß aus. Ich teile die Erfahrungen aller Hausfrauen vor mir, aber die Tat birgt andererseits ihren Lohn doch in sich, ganz wie es sich gehört. Denn am Nachmittag schaffe ich es tatsächlich, rechtzeitig in die Kirche zu kommen, zum ersten Mal in dieser Saison und unter hektischer Einnahme eines Imbissessens unterwegs. Auch mal schön, wenn andere etwas für mich zubereiten.

Gut besucht ist die Kirche schon, als ich hereinkomme, diese Musikreihe findet Anklang. Ich setze mich auf den aus dem letzten Winter gewohnten Platz am Rand des Kirchenschiffes. Ein bekannter und vertrauter Geruch liegt in der Luft, ein Geruch nach Moder und Ziegel, nach Denkmalschutz und Staub. Auch nach alten Menschen riecht es, nach feuchten Jacken und klammen Schuhen, obwohl es an diesem Tag versehentlich gar nicht regnet. Es hat eine Ahnung von ÖPNV-Geruch im Herbst.

Und wenn diese tiefe, namenlose Trauer, die manche Menschen regelmäßig in Kirchen tragen, ebenfalls einen Geruch haben sollte, dann ist diese Note auch wahrnehmbar. Etwas unbestimmbar Schmerzhaftes im Hintergrund, es mag vielleicht auch ein vage erinnerter Friedhofskapellengeruch sein. Mit einer Ahnung von welken Blumen und offener Erde darin.

Eine leere Kirchenbank mit rotem Polster in St. Jacobi

Es ist etwas schummrig, angenehmes Kircheninnenlicht nach dem hell bestrahlten Büro. Man setzt sich, es wird langsam ruhiger. Ein Baby, das abwechselnd von der Mutter und vom Vater gehalten und geschaukelt wird, gibt ein letztes, etwas weh und weinend klingendes Einschlafquaken von sich. Es wird die erwartete Musik nicht weiter stören und beneidenswert selig schlummern, fest gehalten und gewiegt.

Verhaltenes Husten, Wartezimmergeräusche. Leises Reden auch. Man scharrt mit den unruhig bleibenden Füßen, die Bänke knarren. Ein altes, weißhaariges Paar steckt die Köpfe zusammen. Er streicht ihr über den Kopf, ihre Hand liegt auf seinen Knien. Ich gehe gerne allein aus, ich bin auch sonst gerne allein, öfter als andere vermutlich. Aber ich finde es andererseits respektabel und ausdrücklich lobenswert, wenn solche Paare herangereifte Zweisamkeit öffentlich und deutlich demonstrieren.

Die Menschen brauchen Ziele, das ist unbedingt einzusehen.

Die Leute auf den harten Bänken vor mir biegen und recken sich. Wie sitzt man da jetzt am besten und dann auch noch für länger. Ein Mann stöhnt, er scheint große Schmerzen im Rücken zu haben. Ächzend sucht er die einzig mögliche und rettende Position, und das dauert. Es ist eine längere Versuchsreihe, mir tut schon beim Zusehen nach einer Weile die Gegend um einen bestimmten Wirbel weh.

Eine junge Frau setzt eine überdimensionierte Kapuze auf und versinkt dann in ihrer Kleidung wie in tiefem Schatten. Bis nichts mehr von ihrem Gesicht zu sehen ist, da ist nur schwarzer Stoff, der ein Nichts umhüllt. Es hat etwas von einer Disneyfigur, so hat man in den alten Filmen mystische Frauenfiguren dargestellt.

Eine andere Frau setzt sich und scheint sofort einzuschlafen. Der Kopf kippt nach vorne, sie atmet tief. Wer weiß, vielleicht ist es ein wöchentlich wahrgenommenes Entspannungsritual.

Eine andere Frau weint still und bebend, beide Hände vor dem Gesicht. Eine Frau nicht weit von dieser, in meinem Alter etwa wird sei sein, macht sich Notizen, so wie ich. Wir sehen uns kurz an und schreiben uns auf.

Ein Mann wechselt viermal den Platz, nein, fünfmal, sechsmal. Er sieht sich dabei immer wieder zur Orgel um, er versucht womöglich, die Akustik der Kirche korrekt zu schätzen. Noch vor dem ersten Ton.

Dann wird es kurz ganz still, hier beginnt es stets pünktlich auf die Minute. Man meint zu ahnen, wie der Organist die Hände hebt und einen kleinen Moment über dem Instrument schweben lässt. Und schließlich wird die letzte quengelnde Unruhe im Kirchenschiff  weggeorgelt, vergeht das alles mit dem Bach, mit dem Mendelssohn Bartholdy.

Und mit diesen Chorälen

erheben sich die Seelen,

möchte man da vielleicht gerne denken. Ob es aber stimmt, das dürfen wir nicht voraussetzen und werden es selbstverständlich auch nicht erfahren. Zumindest bei mir ist es jedenfalls zweifelhaft, so wie immer. Genossen habe ich die Musik dort dennoch, und wiederholen werde ich den Besuch sicher. Am Wochenende wird es außerdem reichlich Bach im Michel für mich geben.

Die h-Moll-Messe, was ich aber nur so kennerhaft hinschreiben kann, weil es auf dem Ticket steht. Ich werde nach Möglichkeit berichten.

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Winterliche Bastelarbeit

Ein weiterer Dank ist erfreulicherweise abzustatten, es geht hier zu, als sei schon Weihnachten. Weitere Bücher kamen als Zusendung aus dem Publikum an, und sehr gute Bücher sind es wiederum. Zum einen der „Billy Budd“ von Herman Melville, Deutsch von Richard Moering und mit einem Essay von Albert Camus. Ein Buch, das ich aus eher undurchsichtigen Gründen noch nicht kenne. Es ist eine dieser Lücken, die man sich selbst nicht recht erklären kann.

Zum anderen „Die ultimative heimliche Wahrheit der Welt“. Letzte Texte vom geschätzten David Graeber, mit einem Vorwort von Rebecca Solnit, hier die Verlagsseite dazu.

Herzlichen Dank!

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Neulich kommentierte jemand unter dem letzten Artikel mit etlichen Links zu Musik auf YouTube, ich möge dafür doch bitte eine Playlist anlegen, das sei einfacher als das Einzelgeklicke. An Playlists auf YouTube hatte ich bis dahin noch nicht gedacht. Aber ich habe das dann, serviceorientiert wie ich bin, auch gleich umgesetzt, so dass es jetzt dort die Playlist zu den im Text besprochenen Telefonsongs gibt: „Operator, number please …“

Dafür musste ich aber erst einen Kanal einrichten. Wie einer dieser Creators, von denen jetzt alle sprechen. Als würde ich mich dauernd selbst filmen und dann auf YouTube versenden. Das habe ich schon mangels Kameragesicht nicht vor, aber wenn man so einen Kanal hat, kann man ja auch noch mehr Playlists machen. Dachte ich kurz. Und dann hatte ich dummerweise eine Idee. Denn ich könnte doch, ob nun auf YouTube oder sonstwo, meine längste Playlist mit weit über tausend Songs, die mit den traurigen, melancholischen Songs, in der ich quasi geistig wohne, auf die eine oder andere Art sortieren und gruppieren, etwa nach Phasen von Beziehungen.

Also vom ersten Blick bis zu den beginnenden Brüchen, über den Niedergang und die Trennung, das Doch-Noch-Einmal und das endgültige Aus bis zur Einsamkeit und der finalen Erkenntnis, von Louis Aragon ein für alle Mal und für uns alle verbindlich konstatiert und von Georges Brassens später vertont: „Il n’y a pas d‘amour heureux.“

[Soeben gelernt: Es ist ein Gedicht des Widerstandes, nicht nur der Liebe.]

Hier gesungen von jemandem, der tragische Lieder vortragen kann wie kein anderer: Paco Ibáñez.

Lauter Kapitel und Abschnitte jedenfalls, die en détail mit Songs zu unterfüttern sind, jeder denkbare Standardmoment wurde längst einzeln besungen. Dazwischen im detailliert abgebildeten Liebesverlauf noch Sonderformen wie One-Night-Stands, Orgien, Wahnvorstellungen, Todesfälle und Verbrechen, alles jeweils aus zwei oder noch mehr Richtungen betextet und besungen. Er zu ihr, sie zu ihm, sie zu ihr, er zu ihm, irgendwer zu irgendwas, jetzt ist sie weg, jetzt ist er weg, jetzt ist alles weg, love is all around us.

Auf einem Brückengeländer in der Hafencity steht "Ich liebe dich"

Dann habe ich mir die ersten Titel unverbindlich etwas genauer angesehen, also was man so unverbindlich nennt. Ich habe überlegt, wie man das am besten macht, und ob mit KI oder ohne. Die KI-Option habe ich etwas durchforscht, aber es wurde mir dann zu technisch und erforderte am Ende Skripte und Gottweißwas. Ich hätte mehr lernen müssen, dazu reicht die aktuelle Nerd-Phase aber gerade nicht aus.

Dann fiel mir auf, dass ich mir, bei welcher Methode auch immer, die Titel, und zwar auch die, die am längsten auf der Playlist sind, also seit zwanzig Jahren oder so, noch einmal genauer anhören müsste. Am besten natürlich so, dass ich dabei den Text in Ruhe mitlesen kann, um auch die Feinheiten erfassen zu können. Vielleicht auch noch nebenbei etwas über das Lied nachlesen. Über den Interpreten, über die Komposition, den Text, es bietet sich doch an. Und wenn man schon so weit ist, kann man auch einige Coverversionen noch einmal durchgehen.

Kurz, es eröffneten sich mir in einer Phase, in der ich keine Zeit für gar nichts habe, ganz neue Möglichkeiten und Dimensionen der überaus attraktiven Zeitverschwendung, und ich wäre nicht ich, wenn ich dem nicht auch gleich etwas Schlaf geopfert hätte. Man muss die Feste feiern, wie sie fallen, und ich glaube, ich habe nun für die ominösen langen Winterabende, die so oft in der Literatur vorkommen, erneut eine überaus anziehende Bastelarbeit gefunden. So komplett sinnlos oder aber überaus wertvoll wie das Verfertigen von Strohsternen. Es ist wie immer alles eine Frage der Betrachtung.

Schön, schön.

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