Eine Frage der Erziehung

Jeder legt in der Erziehung andere Schwerpunkte, jeder betont andere Themen. Die einen legen mehr Wert auf Sauberkeit und veranstalten Dramen, wenn die Hände vor dem Essen nicht akribisch gewaschen werden, die einen haben einen Ordnungsfimmel und exerzieren allabendliche Drillübungen im Kinderzimmer, andere treiben die Kinder auch ohne erkennbare Neigung zum Sport und so weiter. Das fällt Eltern oft nicht einmal auf, das merken sie erst, wenn sie mit anderen Eltern zusammen sind und sich fragen, ob die eigentlich noch bei Trost sind. Dann erst überlegt man vielleicht, ob man selbst auch drollige Schwerpunktthemen hat. Und dann wird man auch fündig.

Ich zum Beispiel erkläre den Söhnen dauernd, wie man sich in der Stadt orientiert. Welche U-Bahn wohin fährt, welcher Bus welche Nummer hat, wo entlang der Elbe es nach Hause geht, wie weit man unseren Kirchturm sieht und so weiter. Ich komme nicht darauf, warum mir das so besonders wichtig ist, ich habe keine Vergangenheit als Pfadfinder. Mir erscheint es aber sinnvoll, dass die Jungs früh lernen, in der Stadt zurecht zu kommen. Im Dschungel würde ich ihnen ja auch erklären, wie sie den Sumpf mit den Krokodilen meiden, in Hamburg erkläre ich ihnen eben, wie sie an Harvestehude vorbei kommen. Das erscheint mir ganz natürlich – anderen Eltern aber nicht, das Thema finden die meisten vollkommen unwichtig. Kinder trotten sowieso hinter den Eltern her, was soll man da groß erklären. Eventuell habe ich da also einen kleinen Hau, okay, das gebe ich gerne zu. Ich lasse die Kinder auch gerne vorgehen und mir von ihnen den Weg erklären, nicht umgekehrt. Wir kommen dann nicht immer sofort an, aber sie lernen was dabei.

Deswegen kann Sohn I schon die Fahrkartenautomaten im Bahnhof bedienen, auch wenn er noch gar nicht richtig lesen kann. Er orientiert sich an den Anfangsbuchstaben im Menü, K wie Kinderkarte, der Preis muss mit einer 2 anfangen, so kommt er da durch, das passt schon. Das Kleingeld kann er auch selbst abzählen, das sind so großstädtische Kernkompetenzen, finde ich jedenfalls.

Donnerstagnachmittag, wir fuhren zu seinem Schwimmverein. Er hatte gerade zwei Euro in den Schlitz des Fahrkartenautomaten gesteckt, als eine schrille Stimme hinter uns losbrüllte: “DAS KIND HAT DEN AUTOMATEN ANGEFASST!”

Eine offensichtlich äußerst aufgebrachte Mittfünfzigerin mit knallrotem Kopf, man sah nicht recht, kam die Farbe von der Hitze in der Stadt oder von der Wut, die man wiederum nicht überhören konnte. “Ja”, sagte ich, “das Kind kauft sich eine Fahrkarte. Dafür ist der Automat nämlich da.” Die Frau schnappte nach Luft und stemmte die Arme in die Hüften, ganz so als würde sie “wütende Frau” in einem Sketch spielen. Manchmal ist die Wirklichkeit so. “Und wenn er den Automaten jetzt kaputtmacht? Ist das ein Spielzeug? Ist das für Kinder? Können sie das verantworten? Da, er tatscht auf dem Bildschirm herum!”

“Ja”, sagte ich, “wenn man nicht drückt, bekommt man auch keine Karte.”

“Jetzt wird der auch noch frech!” Die Frau wirkte deutlich überfordert ob des ungeheuerlichen Benehmens von Sohn I und von mir. “Ich bin berufstätig! Es ist nämlich so, dass andere Menschen arbeiten müssen! Ich stehe hier doch nicht aus Spaß! Was glauben sie, habe ich Zeit, hier auf spielende Kinder zu warten? Ich muss los! Jetzt! Ich muss da ran!”

Die Frau gab in Sprache und Gesten noch sehr viele Ausrufezeichen von sich, es waren mehr, als man zitieren kann. Ich sah mich um, links und rechts von uns waren mehrere Automaten, vor denen niemand stand. Ich wies sie darauf hin. Sie sah mich empört an: “Ich werde doch nicht einen anderen Automaten nehmen, nur weil ihr Gör im Weg ist! Ich stehe doch hier, vor diesem Gerät!”

“Ja”, sagte ich, “dann werden sie wohl etwas warten müssen.” Dann erklärte ich dem Sohn, der sich währenddessen im Menü verlaufen hatte, den Weg zurück zur Kindertageskarte.

“Kinder dürfen hier keine Automaten anfassen! Das ist ja ungeheuerlich! Da gibt es Regeln, das geht doch nicht! Nehmen sie das Kind da weg!”

Und dann habe ich der Dame etwas geantwortet, was ich nur schwer aus der Erinnerung wiedergeben kann, aber die Begriffe strunzblöd und Schnepfe kamen mit einiger Sicherheit darin vor. Womöglich fielen auch noch andere uncharmante Begriffe, jedenfalls aber drehte sich die Dame nach Beendigung meines Satzes um und ging zeternd davon, übrigens ohne eine Karte erworben zu haben. Man verstand nicht mehr, was sie keifte, nur das Wort Kind kam gelegentlich noch klar bei uns an. Wahrscheinlich war ich im weit fortgeschrittenen Sinne grob unfreundlich, das sollte so nicht sein. Aber es war ein heißer Tag, ein sehr heißer Tag. Und die Dame hatte anscheinend etwas Qualm in der Kanzel.

Sohn I sah mich an, ich sah Sohn I an. Er grinste ein wenig. Ich machte gerade den Mund auf, um die Sache lieber doch noch pädagogisch auszutarieren, als er meine Hand nahm und sagte: “Ist okay. Ich nehme mir kein Beispiel und ich habe nichts gehört.” Dann fuhren wir zur Schwimmhalle.

Er ist ein so verständiges Kind. Er wird in der Großstadt bestimmt einmal sehr gut zurechtkommen.

 

38 Kommentare

  1. Wunderwunderwunderbar. Er wird mit Sicherheit gut zurechtkommen.

    Blöde Schnepfen, strunzdumme obendrein, als solche zu erkennen und notfalls auch benennen zu können, gehört zu den menschlichen Kernkompetenzen, finde ich übrigens. Gut gemacht!

  2. Ohwei. Mein Sohn WEISS nichtmal, was ein Fahrkartenautomat ist, fürchte ich. Dorfleben eben, da gibts keine. Schnepfen hingegen schon, die erkennt er auch schon recht zuverlässig.
    Vielen Dank für den Artikel. Und die anderen aus den letzten Monaten auch. Sie werden gern gelesen hier.

  3. lieber herr buddenbohm, warten sie einfach ein paar jahre und am besten die nächste umstellung auf neue automaten ab, dann wird diese dame froh sein, wenn die dann halbwüchsigen jungs sich mit dem automaten auskennen und ihr bei dem, was dann das tippen auf dem touchscreen abgelöst haben wird, behilflich sein können. und dann grinsen sie sich eins… es grüsst eine mutter von lebenstüchtigen teenagern.

  4. Gruselige Begegnung der dritten Art und sehr schön literarisch verbloggt. Und ich finde Sohn 1 kann sich durchaus ein Beispiel daran nehmen, wie man Konflikte verbal und ohne körperliche Gewalt löst. Und mit den neu gelernten Wörtern wird seine Street Credibility in der Kita steigen.

  5. Spitzenmäßi! Alles richtig gemacht, diese Kernkompetenz halte ich auch für sehr wichtig bei Kindern in der Großstadt. Und Sohn I ist sehr klug, Glückwunsch!

  6. …vielleicht sollte ich das Geld lieber in Buddenbohm investieren anstatt in krautreporter.

  7. Pingback: Kinder und ihr Umgang mit der Stadt ändern sich. | Die wunderbare Welt von Isotopp
  8. Soviel zur Kinderfreundlichkeit in der „schönsten Stadt der Welt“. Das reißt jetzt nicht mal der übliche lockere Schreibstil raus.

  9. Muss sehr komisch ausgesehen haben, mein Gesichtsausdruck zwischen Lachen und Entsetzen. Was bittte hatte die Frau für ein Problem?
    Die benötigt ernthaft Hilfe.
    Gut gelöst den Konflikt. Das die Söhne (beide) großartig sind habe ich schon erwähnt, oder?

  10. I like! Nicht die gestörte Tante, sondern das urbane Pfadfindertum. Unsere Kinder müssen sich die Stadt immer zu Fuß oder mit dem Rad erschließen (und mit zu Fuß meine ich: von St. Pauli nach Othmarschen oder vom Hauptbahnhof nach Hause). Dafür ernten wir auch oft entsetzte Blicke von anderen Eltern und hin und wieder mächtiges Gemaule vom Nachwuchs. Wir nehmen sie zum Lohn dann mit zu Critical Mass, da lernen sie die Stadt noch mal ganz anders kennen.

  11. Ein toller Artikel, der sowohl am Vatertag als auch für den Kindertag eingesetzt werden kann. Solche Papas wünsche ich allen Kindern, damit die Kinder so klug werden wie Sohn I. Dann blitzen solche inkompetenten Fahrkartenkäuferinnen ab.

  12. Wunderbar. Ich hatte in Begegnungen mit derart blöden Menschen wie dieser Frau, die ganz sicher selbst auch Mutter ist, leider schon viel zu oft den Arsch zu so einer eloquenten Parierung nicht in der Hose. Sohn 1 kann zu Recht stolz auf Sie sein.

  13. Unglaublich diese Schnepfe! Mir fehlen die Worte!
    Ich glaube mir wären noch ganz andere Wörter eingefallen! 😉

  14. Köstlich, Ihre Reaktion als Vater, genau richtig. Ein sehr schönes Argument ist noch kurz dem Sohn tipps zur Auflösung des Generationsvertrages (Stichwort künftige Rentenzahlungen) zu geben, wirkt sehr gut.

  15. You just made my day! Und die Schnepfe, die dummdödelige, hatte ja dann irgendwie wenigstens einen pädagogischen Mehrwert … 😉
    Übrigens: „Qualm in der Kanzel …“ – LACH!!! Ist das typisch norddeutsch? Egal, einfach nett und wie immer gern gelesen.

  16. Also, wir fahren die Strategie selber kaufen sehr erfolgreich und sind immer auf positives Feedback gestoßen – aber vermutlich haben die Leute in den Außenbezirken einfach mehr Ruhe. Mein Sohn – gleiches Alter wie Sohn 1 – berät dann immer gerne die nachfolgenden Käufer. Nur ich werde dann ungeduldig – schließlich fahren wir oft zu einem Termin – da ist die Beratungszeit endlich.

  17. komische Menschen…. // OT: Kinder dürfen also nicht an die Automaten der Erwachsenen. Vielleicht sollten sie das aber mal machen.

  18. Pingback: Unsere Netzhighlights – Woche 21/14 | Apfelmädchen & sadfsh
  19. Ich habe zwar keine Söhne und wir wohnen auch auf dem Dorf. Aber unsere kleine (2 J.) bedient Tiptoi und iPad wie eine Grosse und wenn ich der Grossen (4 J.) den Automaten erkläre, dann packt die das auch.
    Tolles Erlebnis und tolle Geduld, Hut ab! Ich hätte vermutlich nicht so lange gewartet.

  20. Schwarz-weiß-Malerei: Hier das superclevere Kind, das noch vernünftiger ist als die Erwachsenen (und auf das der Autor mächtig stolz zu sein scheint), dort die absolut verwerfliche ältere Frau. Den Kommentaren nach zu urteilen, lassen sich die meisten Leser von diesen Klischees auch noch gefangennehmen…

  21. Danke Herr buddenbohm-herrlich!

    Eric, Wien ist demnach schwarz-weiß – es wimmelt nur so von kinder’liebenden‘ Schnepfen und schnepferichen in den öffis- und dazu Eltern, die auf ihre Kinder stolz sind, wie verwerflich auch!

    Beste Grüße aus Wien

  22. Unfreundliche Menschen gibt es leider überall und das leider auch nicht zu knapp. Naja, lächeln, nett sein und hoffen dass es bei denen auch mal ankommt.

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