Ich habe neulich beim Lesen der Novembergedichtsammlung von Reclam gedacht, dass es doch schade ist, wie wenig man von den Jahreszeiten mitbekommt, wenn man mitten in der Millionenstadt wohnt. Schon das herbstliche Ziehen der Vögel merken wir kaum, hier sammeln sich keine Schwärme, das machen sie irgendwo da draußen. In Pinneberg oder so, was weiß ich. Stadttauben fliegen eben nicht nach Afrika, Stadttauben fliegen aufs nächste Dach oder in den nächsten U-Bahnschacht. In der Innenstadt stehen auch kaum Bäume, da leuchtet also kein Herbstlaub weit und breit und wenn das Straßenbegleitgrün kahl ist, fällt das gar nicht weiter auf. Und gerade die Stille, die man sich zum Finale des Herbstes im November doch geradezu zwingend hinzudenken muss, damit das alles vernünftig auf uns einwirken kann, sie findet hier nicht statt.
Manchmal wäre ich gerne öfter auf dem Land, nur zu Besuch, versteht sich, um so etwas genauer mitbekommen zu könnnen. Und auch, um es den Kindern zu zeigen, wie das alles eigentlich gehört. Gerade nach dem vollkommen schneelosen letzten Winter weiß doch zumindest Sohn II überhaupt nicht mehr, wie die Jahreszeiten gemeint sind. Aber dann gibt es Momente in der Stadt, da geht es doch, da sieht man den Kalender ganz deutlich vor dem Fenster. Ein Abend Ende November, der Dezember rückt mit Macht heran und wir haben beide Monate in einem Moment gesehen, ganz genau sogar. Und das kam so:
Wenn die Herzdame ausgeht, schlafen die Söhne und ich im Wohnzimmer. Eine Tradition, deren Ursprung ich schon gar nicht mehr weiß, aber wann immer sie zum Tanzen oder sonst wohin geht, bauen wir uns ein Lager auf dem großen Sofa, auf dem man sehr bequem zu dritt liegen kann, und schlafen dort. Da reden wir dann abends noch etwas länger als sonst, und sehen gemeinsam raus, denn vom Wohnzimmer aus hat man Ausblick, richtig guten Ausblick. Über den Spielplatz hinweg auf die alte Kirche, deren Turm nachts angeleuchtet ist und sich würdevoll über die Altbauten daneben erhebt. Das ist wirklich ein ziemlich schönes Stück Stadt, ein Bilderbuchausschnitt. Man kann zusehen, wie in den Häusern um den Spielplatz herum die Lichter an- und ausgehen, man sieht Menschen an Fenstern stehen oder auf Balkone treten, um zu rauchen. Und neuerdings sieht man auch Vögel.
Da denkt man erst, man guckt nicht richtig, weil man sie nur als wilde Schattenfetzen wahrnimmt, aber nach einer Weile erkennt man es dann doch. Da fliegen Vögel vor dem Fenster herum, noch Stunden nach Sonnenuntergang. Krähen sind das, die auf der großen Eiche schlafen, die mitten auf dem Spielplatz steht. Eine Großfamilie von Krähen, um die fünfzig vielleicht. Sie sitzen in der Eiche, wippen auf den dünnen Zweigen und man wundert sich, warum sie nicht auf den dicken Ästen sitzen, das müsste doch viel bequemer sein? Sie sitzen und wippen lieber auf dürren Zweigen im Wind und wenn in den Häusern ringsum eine Tür zuknallt, dann fliegen sie alle auf. Fliegen auf und drehen eine schnelle Runde um den Kirchturm und um den Block, flattern lautlos durch die Nacht, zwei Runden, drei Runden bevor sie wieder landen. Sie krächzen nicht, sie schlagen nicht laut mit den Flügeln, sie huschen sehr schnell vorm Fenster vorbei wie Novembergespenster. Wenn man die dunkle Bewegung am Rande des Blickfelds wahrnimmt, sind sie auch schon wieder weg.
Der Himmel ist leer, dann ziehen fünfzig Schatten vorbei, eine schwarze Wolke senkt sich auf die Eiche. Ganz selten ein leises Krächzen, als hätten sie Ruhezeit und würden jetzt nur noch das Notwendigste sagen. Tagsüber krächzen sie unentwegt, nachts schweigen sie sich an, eine eingeschworene Gemeinschaft, eine verdächtige Bande. Da, wo heute der Spielplatz ist, war früher ein Friedhof, es gibt Details, die man gerade im November erwähnen muss.
Ich liege mit den Söhnen im Dunkeln auf dem Sofa und beobachte die Vögel. Wenn man geduldig wartet und genau aufpasst, sieht man sie deutlich vor dem Himmel, und da fällt Sohn I zum ersten Mal auf: Hier wird es gar nicht richtig dunkel. Der Himmel ist grau, nicht schwarz, und es ist nicht einmal ein sehr dunkles Grau, es ist ein helles Grau mit einem Stich ins Gelbe, es ist ein Nachthimmel über der großen Stadt. Schmutziggelb, diesig und unklar. Keine Sterne über Hamburg, fast nie, schon gar nicht im November. Aus den Fenstern ringsum das goldene Licht der Wohnzimmerlampen, dazu weißes Licht der Autoscheinwerfer, die lange Spuren durch die Nacht ziehen, rot blinkende Flugzeuge ziehen darüber hin. Wir sehen uns all die Lichter an, die dem Schwarz keine Chance lassen. Nachtschwarz sind hier nur die Krähen, die Novembervögel, die unruhige Truppe, die beim leisesten Geräusch auffliegt, obwohl die Vögel all die Geräusche der Menschen doch längst kennen müssen. Immer noch eine Runde um den Kirchturm, als gelte es, noch schnell ein wenig zu spuken, schwarzes Flügelvolk vor düsterem Backsteingemäuer. Wenn man vor der Kirche steht und hochsieht, genau diesen Anblick kennt man aus Gruselfilmen, es fehlt nur noch ein voller Mond mit ein paar dekorativ vorbeijagenden Wolkenfetzen davor.
Die Söhne und ich lauschen, es ist auch nicht still. Da fahren Autos durch die Stadt. Einige hört man ganz deutlich heraus, einige fahren an unserem Haus vorbei, der weiter entfernte Verkehr summt unentwegt um uns herum, das hört nie auf. Da hinten spielt Musik, irgendwo muss eine richtig große Party sein. Autotüren klappen, Hunde bellen, jemand ruft irgendwas, man versteht es nicht. Jemand ruft jemandem etwas hinterher, eine Frage vielleicht, eine Unfreundlichkeit, ein Gruß. Schritte auf dem Fußweg, die Leute gehen schnell, es ist kalt da draußen, der Frost ist hinter den Leuten her. Dann fährt ein Auto weg. Die Vögel kreisen schon wieder, das Grau des Himmels schwarz durchflockt, all die Geräusche ringsum etwas gedämpft in dicker Großstadtluft. Das ist November in Hamburg. Die Vögel kreisen und kreisen und durch die Schar hindurch sieht man, dass seit heute im oberen Kirchturmfenster wieder der große Stern leuchtet, wie in jedem Jahr. Der leuchtet da bis nach Weihnachten, ich weiß gar nicht, wie lange, das folgt bestimmt irgendeiner christlichen Regel, die ich wieder nicht kenne. Der Stern sieht jetzt aus, als würde er blinken, das liegt aber nur daran, dass die Krähen immer wieder daran vorbeiflattern. Der Stern blinkt den Dezember heran, mit noch mehr Licht in der Stadt und einem großen Themenwechsel, und Sohn II stellt ganz richtig fest: “Da hängt schon Weihnachten im Turm.”
Und in der nächsten Woche steht jetzt ein Schneeflöckchen im Wetterbericht. Wenn es tatsächlich fällt, muss es vielleicht für die Naturbeobachtung im Dezember reichen. Ich werde berichten.
Hach.
Zur Regel, wie lange der Weihnachtsstarn in der Kirche leuchtet: Für Christen fängt die Weihnachtszeit ja am Weihnachtsfest gerade erst an, davor ist die erwartungsvolle Adventszeit.
Im Engeren Sinn dauert die Weihnachtszeit bis zum 6. Januar („Dreikönigstag“), oder sogar bis zum 2. Februar, 40 Tage nach Weihnachten. (ich finde das auch logisch: wenn nach langer Erwartung ein Kind geboren ist, geht es doch erst richtig los – da packt doch niemand die Babysachen gleich weg!)
Schön beschrieben, der wintergelbgraue Nachthimmel 😉
Viele Grüße nach Hamburg!
Geschrieben und beschrieben als würde man Herrn Buddenbohm und Söhnen auf dem Sofa liegen.
Ein wunderbares Einfangen der Novemberstimmung in der Stadt, ganz toll!
Wenn ich mir vorstelle, dass alle Krähen vom Bismarckdenkmal sich hier zwischen unseren Häusern niederlassen würden, fände ich die zwei Jungs auf dem Dach gegenüber, mit denen ich manchmal abends vom offenen Fenster aus kommuniziere und mit Elster-Geräuschen etwas ärgere, nicht mehr so amüsant.
Vielen Dank. Ich bin ganz gerührt…