Es ist später Abend, ich fahre in der S-Bahn zwischen Holstenstraße und Hauptbahnhof. Ein fortgeschritten betrunkener Mann brüllt herum, allerdings muss er dabei so harmlos verrückt aussehen, dass sich niemand von ihm wegsetzt, obwohl er ab und zu lärmend gegen die Sitze schlägt und tritt und an den Haltegriffen rüttelt. Ich kann ihn von meinem Platz aus nicht sehen, aber er sitzt da, wo noch etliche andere um ihn herum sind. Ich sehe nur das genervte Kopfschütteln der Menschen neben ihm. Ein alter Mann vermutlich, die Stimme ist etwas dünn und brüchig. Er hält Reden über Ausländer und Deutsche. Er beleidigt niemanden direkt, soweit ich es verstehen kann, er ist aber gegen alles, was anders ist, das soll hier nicht anders werden. “Als Deutscher stehe ich hier unter Naturschutz” brüllt er mehrfach. Die Leute neben ihm lachen.
Eine Station weiter gleich der nächste mit Alkoholproblem, er steigt ein, hebt die Arme und deklamiert: “Helmut Schmidt ist die intelligenteste Person Deutschlands. Hel-mut Schmidt! Hel-mut Schmidt!”
Im Hauptbahnhof sitzen wieder Durchreisende auf dem Boden, verschoben zwischen Erstaufnahmeeinrichtungen und irgendwelchen Heimen, vielleicht auch schon seit Tagen oder Wochen unterwegs, von welcher Grenze aus auch immer, auf der Fahrt nach Skandinavien oder in irgendwelche deutschen Städte, unter denen sie sich nichts vorstellen können. Manche haben Zettel, auf denen wohl Ziele stehen, die halten sie in der Hand und gucken immer wieder drauf. Es sind Menschen aus verschiedenen Ländern, es sind Frauen, Männer, Familien,von Säugling bis Greis. Sie alle eint die Müdigkeit, die man in keinem Gesicht übersehen kann, eine unendliche Müdigkeit. Die privat organisierten Helfer reichen Tee und Bananen. Auf dem Boden in der Wandelhalle sitzt auch einer der russischen obdachlosen Trinker vom Bahnhofsvorplatz, ein bekanntes Gesicht, an dem gehe ich oft vorbei, wenn ich von der Arbeit komme. Während in Diskussionen gerade dauernd irgendwelche Schlaumeier fragen, was denn mit den Obdachlosen sei, wer sich denn um die kümmere, wieso denn Hilfe nur für die Syrer und so weiter, während also in Gesprächen gerne Gruppen gegeneinander ausgespielt werden, sitzen die hier gerade friedlich bei einem Tee beieinander, es ist genug Tee für alle da, die Helfer kriegen auch das hin. Ein großer Kerl ist der Russe, kahlrasierter Schädel, breite Schultern, blutige Kratzer im Gesicht. Er ist stockbesoffen wie immer, und er sitzt da einen Meter entfernt von einem vermutlich arabischen Mann, der neben ihm noch zierlicher wirkt als ohnehin schon. Sie können nicht miteinander reden, und das nicht nur wegen der Sprachschwierigkeiten, auch sonst liegen sicher Welten zwischen ihnen. Der Russe versucht ein paar Sätze, das klappt aber nicht. Er hätte ohnehin zu dieser Tageszeit und nach diesem Alkoholpensum in keiner Sprache mehr die Konsonanten im Griff. Er zeigt auf das Gepäck des Syrers – oder wo immer der Mann herkommen mag -, er gestikuliert irgendwas, sagt noch einmal etwas. Ganz langsam. Ratlose Blicke. Was will der? Der Syrer schüttelt den Kopf und winkt ab, er weiß offensichtlich nicht, was er von diesem Typen da halten soll. Der Russe gibt schließlich auf, pustet in seinen Tee und schüttelt auch den Kopf. Dann sieht er doch noch einmal zu seinem Sitznachbarn, beugt sich rüber zu ihm, stößt ihn behutsam mit dem Ellenbogen an und zeigt ihm einen nach oben gerichteten Daumen, nickt ihm energisch zu. “Wird schon”, sagt er mit seinen Blicken, mit dem Daumen und auch mit einem breiten Grinsen, “wird schon”. Bei ihm selbst wird vermutlich gar nichts mehr, aber für andere reicht das Wünschen dann doch noch.
Es ist nachts gegen zwei Uhr, ich wache auf, weil die Herzdame nach Hause kommt, sie hat am Bahnhof geholfen. Sie erzählt, dass die Helfer dort keinen Strom haben, wenn der letzte Laden in der Wandelhalle schließt. Sie können dann für die Geflüchteten keinen Tee mehr kochen und keine Handys laden. Der meistfrequentierte Bahnhof Deutschlands, und niemand kriegt es hin, nachts eine Steckdose zu organisieren.
Tage später werden endlich große Zelte auf dem Bahnhofsvorplatz aufgebaut, um von dort aus die Geflüchteten zu versorgen, die in Hamburg für ein paar Stunden oder auch für eine Nacht Station machen. Es ist früher Nachmittag, in den Zelten ist nicht viel los, die Lage ist ruhig und halbwegs entspannt. Vor den Zelten sitzen ein paar Kinder und machen Seifenblasen oder pusten Luftballons auf, da wird jemand gerade Spielsachen gespendet haben. Eine Betreuerin hockt bei den Kindern und verteilt die kleinen Geschenke. Die Seifenblasen kommen im leichten Hamburger Nieselregen nicht weit, aber das macht wohl nichts. An den Kindergesichtern sieht man, dass die Seifenblasen dennoch ziemlich toll sind. Sie sind kindgerecht, und das war bei diesen Kleinen sicher nicht viel in den letzten Wochen. Ein paar Meter weiter sitzen die Mütter, denen die Augen zufallen.
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