Was schön war

Ich war mit der Herzdame abends in einem italienischen Restaurant, es ist schon eine Weile her. Am Nebentisch saß eine größere Familiengruppe, vielleicht zwölf Leute. An der Stirnseite des Tisches ein Mädchen im Teenie-Alter, zwischen fünfzehn und achtzehn Jahren alt, besser schätzen konnte man das nicht. Um die Szene noch kurz zu vervollständigen: Links und rechts von ihr saßen Eltern, Onkel, Tanten, Brüder, Schwestern – was auch immer, alles Erwachsene jedenfalls, einige davon mit erheblicher Familienähnlichkeit. Es wurden Urlaubsgeschichten erzählt, der Urlaub schien lustig gewesen zu sein. Zwischendurch wurde angestoßen, eher kompliziert, jeder mit jedem und bloß nicht über Kreuz und wir müssen uns dabei ansehen und all das. Darüber italienische Schlagermusik aus Deckenlautsprechern, Pizzageruch in der Luft. Der Kellner mühte sich durch die Stuhlreihen und schenkte Rotwein nach. Das ist übrigens komisch, wenn man als Autor so etwas beschreibt, weil man genau das mit einiger Wahrscheinlichkeit schon einmal beschrieben hat. Ich habe einen Abend in einem italienischen Restaurant auch in “Marmelade im Zonenrandgebiet” geschildert, und wenn ich jetzt im Geiste die Szenen vergleiche, dann ist da vieles austauschbar. Die rotweißkarierten Tischdecken. Die ländlich gemeinten Stühle aus hellem Holz mit geflochtener Sitzfläche. Tropfende Kerzen neben Brotkörbchen. Die verstaubten Rotweinflaschen in den Wandregalen, alles Klischees, Klischees, aber was soll man machen, so sieht es da eben aus. Egal, man kann sich einfach alles vorstellen, was traditionell passt, warum auch nicht, es wird schon stimmen.

Der Kellner, der dauernd mit der Flasche in der Hand durchs Bild läuft, ist also nicht nur dick, er ist auch noch ausgesprochen sympathisch dick. Er trägt seinen Bauch so zufrieden und dabei erstaunlich flinkfüßig vor sich her, man möchte sofort auch so gemütlich dick und gutgelaunt und gelassen in seinem Job sein, man möchte gleich etwas essen und zwar viel und möglichst Nudeln oder Pizza. Natürlich singt der Kellner ab und zu eine Zeile eines Liedes aus den Achtzigern mit, natürlich werden die Gäste mit italienischen Vokabeln begrüßt und verabschiedet. An der Wand hängt natürlich ein Poster mit italienischer Küstenlandschaft, das Blau des Himmels ist längst verblichen.

Eine der Damen am Familientisch lacht zu laut, das kennt man so von jeder Familienfeier. Das Mädchen an der Stirnseite des Tisches sitzt mit den Händen im Schoß und guckt immer genervter. Alle um sie herum reden angeregt durcheinander, sie sagt die ganze Zeit nichts, überhaupt nichts. Finstere Blicke, hängende Mundwinkel, hängende Schultern. Die Mutter versucht ab und zu sie anzusprechen, die Tochter guckt angewidert und rührt sich nicht. Der Vater grinst sie an, zwinkert und hofft auf Einverständnis, da kann er aber lange grinsen. Die anderen sehen gar nicht hin. Das Mädchen schüttelt stumm den Kopf, das Mädchen rollt die Augen und besieht sich die Restaurantdecke. Lange. Sie zieht die Augenbrauen hoch und höher, sie sieht ihre Familie an, als würde sie den ganzen Trupp zum ersten Mal sehen. Zufrieden ist sie mit dem Anblick nicht, so viel steht fest.

Und dann lässt sie ihren Kopf sinken. Nicht zu langsam, nicht zu schnell. Ganz tief lässt sie ihn sinken, immer weiter, bis die Stirn schließlich den leeren Teller vor ihr berührt. Es scheppert leise, als ihre Stirn auf dem Teller landet. Alle sehen jetzt zu ihr hin, nicht nur ihre Familie, auch der Kellner, auch die Herzdame und ich, auch die beiden Ingenieure am Nebentisch, die in einem süddeutschen Dialekt zu laut über Abfüllanlagen in China reden. Das Scheppern des Tellers war gerade so laut, dass es alle im Raum gehört haben müssen, aber es war auch nicht so laut, dass man mit einer Ohnmacht des Mädchens oder einem sonstigen Problem rechnen müsste. Die Lautstärke des Schepperns passte perfekt zu einer beabsichtigten Handlung. Wenn man so darüber nachdenkt – so einfach ist das vermutlich gar nicht, diese Lautstärke genau zu treffen. Ein perfekt getimtes, höchst wirkungsvoll dosiertes und auf den Raum und die Situation abgestimmtes Scheppern. Ich fand es schön, dass sie es so gut getroffen hat, mich hat das gefreut. Jeder, der schon einmal pubertiert hat, wird so eine gelungene Szene doch mit einem gewissen Respekt zur Kenntnis nehmen.

Der Vater grinst währenddessen immer weiter und breiter, die Mutter rüttelt probeweise an der Tochterschulter, die anderen am Tisch gucken indigniert, irritiert, amüsiert, eine ganz normale familiäre Bandbreite. Die Tochter sitzt immer weiter mit der Stirn auf dem Teller. Sicher ist das Porzellan angenehm kühl an der Stirn. Und wenn sie die Augen nur lange genug geschlossen lässt, wenn es nur lange genug dunkel um sie herum bleibt, dann findet das alles vielleicht gar nicht statt. Die Familie, die es für sie gerade nicht gibt, bestellt währenddessen schon einmal Essen, die Pizza soll hier ja wirklich gut sein und der Wein ist auch schon wieder alle und weißt du noch, der Ausflug nach Dings? Wie hieß das denn da.

Unter dem Tisch gibt es dann schließlich doch noch eine heimliche Bewegung.  Die Tochter angelt da nach ihrem Rucksack, wühlt darin ohne hinzusehen oder auch nur den Kopf zu heben. Ihre Hände tauchen nach einer Weile wieder auf, sie steckt sich Kopfhörer in die Ohren und hört den Rest des Abends sicher keine italienischen Schlager mehr. „Lass sie mal ruhig“, sagt einer am Tisch.

18 Kommentare

  1. Was hätte ich um jemanden gegeben, der „Lass sie mal“ gesagt hätte, hätte ich den Abend mit dem Kopf auf einem Teller verbracht. Vermutlich hätte ich ausschließlich derart am Tisch gesessen, 3 Jahre lang.

  2. wunderbar, ich sah es gerade vor mir …. und ich sah auch mich. Nie hätte ich es gewagt … und doch hätte es damals so hervorragend gepasst. Na ja. Heute sind sie mutiger. Gut so.

  3. Ach, könnte man das im ein oder anderen Meeting doch auch GENAU SO machen… Ich applaudiere der Teenagerin. Und Dir für die wunderbar aufgeschriebene Begebenheit. Köstlich.

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