Aufwärmübung

Ich erzähle jetzt aus reiner Bockigkeit eine Sommergeschichte, nur weil ich mit dem aktuellen Wetter nicht klarkomme. Ich hoffe, ich habe sie noch nicht erzählt, zumindest finde ich nichts unter dem Stichwort “Sackkarre”, und ohne diesen Begriff macht die Geschichte eigentlich keinen Sinn. Nehmen wir also einfach an, es gibt sie noch nicht.

Sommer also, und zwar ein richtig heißer Tag. Das ist jetzt vielleicht etwas mühsam, sich das vorzustellen, aber die Geschichte geht ohne Hitze nicht, woraus man schon ableiten kann, dass sie mindestens zwei Jahre her sein muss, denn im letzten Jahr, da war bekanntlich nichts mit Hitze. Hitze über Hammerbrook, es flimmert über dem Asphalt zwischen den eintönigen Bürobauten. Die Menschen gehen langsam, denn wenn man schnell geht, dann macht es einen schon nach ein paar Metern fertig, so eine Hitze ist das. Früher Nachmittag, beim Bäcker ist die Truhe mit dem Eis am Stiel längst leergekauft und die radelnden Kurierfahrer an der Kreuzung tragen sehr, sehr kurze Sachen, eigentlich tragen sie fast nichts. Aus einem Cabrio an der Bushaltestelle wummert es dumpf. Da vorne ist die S-Bahn-Station Hammerbrook, da geht die breite Treppe hoch, es ist die einzige aufgeständerte S-Bahn-Station in Hamburg und die Treppe da rauf ist gar nicht mal so kurz, sie hat mehrere Absätze. Etwa auf der Mitte der Treppe ist ein kleiner Kiosk, Brötchen, Zigaretten, Cola, Boulevardzeitungen.

Die Cola wird gerade geliefert. Der große Getränkewagen steht unten verboten nah am Zebrastreifen und ein junger Mann astet in diesem Moment eine Sackkarre mit Colakisten die Treppe hoch. Stufe um Stufe. Eine der Colakisten ragt oben bedenklich weit über die Sackkarre, die muss er mit einer Hand extra festhalten, leicht sieht diese Übung nicht aus und tauschen würde man mit ihm gewiss nicht wollen. Der schwitzt wie ein Hochleistungssportler nach dem Wettkampf, bei näherer Betrachtung ist er auch ähnlich gebaut wie ein Hochleistungssportler, das bringt der Beruf vielleicht so mit sich. Er wuchtet die Last langsam eine weitere Stufe und noch eine hoch, es ist nicht so, dass er das nicht kann, was der Job da von ihm verlangt, er kann das sogar sehr gut. Aber es ist eben verdammt heiß heute und es sind auch noch verdammt viele Stufen. Jetzt dreht er sich um und sieht nach oben, wo dieser verdammte Kiosk mit der Getränkebestellung endlich kommt. Aber das dauert noch, da muss er noch eine Menge heben bis dahin, und begeistert sieht er ganz und gar nicht aus.

Von oben kommt ihm eine ältere Dame entgegen. Deutlich fortgeschrittenes Rentenalter, sehr gepflegte Erscheinung, lachsrosafarbenes Kostüm, passender Hut mit nur symbolischer Schleierwinzigkeit daran. Eine Erscheinung, bei der man sich unwillkürlich fragt, was die denn nun in Hammerbrook will? Hammerbrook ist doch eher für 16 bis 66, in Hammerbrook arbeitet man – und wenn man da nicht arbeitet, dann ist man da eigentlich nicht. Rentner kommen hier kaum vor, es sei denn, sie machen Hilfsjobs, aber der Gedanke an Hilfsjobs verbietet sich, wenn man diese Dame so ansieht, der verbietet sich sogar gründlich. Menschen, die so angezogen sind, die machen keine Hilfsjobs, die schreiben eher welche aus, die suchen einen netten zweiten Hilfsgärtner für das Anwesen oder so etwas.

Der junge Mann mit der Sackkarre steht also auf der Treppe und guckt nach oben, die alte Dame guckt unweigerlich nach unten, denn sie geht ja die Treppe gerade hinab. Da sieht sie dann den Mann, der immer noch da steht und erst einmal eine Runde durchatmet, der hat nämlich schwer Puls und einfach keine Lust mehr, sportliche Erscheinung hin oder her, das ist heute definitiv kein guter Tag für größere Getränkelieferungen. Und die Dame geht mit leichten Schritten von oben treppabwärts auf ihn zu, eine kerzengerade Person. So eine Dame, die sich vermutlich ihr Leben lang gut gehalten hat, das sieht man gleich, schon als Kind immer der gerade Rücken bei den Klavierstunden, das kennt man aus Filmen, wenn schon nicht aus der eigenen Familie. Sie sieht den Mann, guckt im Gehen kurz prüfend auf ihn und sein offensichtliches Problem und fragt mit großer Selbstverständlichkeit: “Kann ich ihnen helfen?”

Das fragt sie natürlich keineswegs, weil sie tatsächlich helfen könnte, oh nein. Ein völlig abwegiger Gedanke, dass sie dem Mann mal eben eine Kiste Cola oder zwei abnehmen könnte, das geht nicht, das sieht man. Das fragt sie nur, weil man das eben fragt, denn dass sie Ahnung von Benimm hat, das überrascht einen nicht, wenn man sie länger als eine halbe Sekunde zur Kenntnis genommen hat. Das fragt sie, weil es nett ist, so etwas zu fragen, weil es höflich ist, weil sie nun einmal gute Manieren hat und weil es zu ihrer Welt gehört, sich stets richtig zu benehmen. Weil man eben Hilfe anbietet, wenn jemand mit irgendwas nicht klarkommt. Sie bleibt dann tatsächlich noch stehen und wartet auf eine Antwort, das ist auch nett.

Der Mann guckt maßlos erstaunt und lacht dann. “Nein”, sagt er, “nein, das geht schon. Aber danke!” Er freut sich richtig, grinst breit und strahlt. Und dann hebt er die Sackkarre mit neuem und jetzt auch eindeutig demonstrativem Schwung wieder eine Stufe weiter hoch und dem Kiosk entgegen, aus dem heraus sich eine junge Verkäuferin die Szene rauchend und eher desinteressiert besieht. Eine junge Verkäuferin, die in Sachen Manieren vielleicht noch ein klein wenig Potenzial hat.

Die alte Dame aber wünscht noch einen schönen Tag, geht weiter die Treppe hinab und verschwindet in vorbildlicher Haltung irgendwo in Hammerbrook zwischen den grauen Verwaltungsgebäuden der Versicherungen, Banken und Autoteilelieferanten. Unerfindlich, was sie da will.

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25 Kommentare

  1. Bei mir lief auch gleich vor dem inneren Auge ein Film ab, inklusive Rollenbesetzung (ältere Dame = Inge Meysel, auch wenn die eher Arbeiterinnen-Rollen bekam, passt aber trotzdem irgendwie, der gerade Rücken, direkter Blick und menschlich). Wahrscheinlich habe ich als Expat einen etwas verklärten Blick auf Hamburg, aber auch dafür steht diese Stadt für mich: vielleicht manchmal etwas unterkühlt (und damit meine ich nicht das Wetter ….), aber unaufdringlich hilfsbereit und ohne soziale Hemmschwellen, wenn’s drauf ankommt. Und ja – zu wissen, dass jemand deine Anstrengungen bemerkt, würdigt und nachfragt, ist häufig auch schon eine Hilfe.

  2. Ich glaube, solche Damen gibt es nur in Hamburg.
    Bei meiner Runde in der Mittagspause, als ich noch gearbeitet habe, begegnete mir auch öfter eine Dame, eine richtige Dame. Am liebsten hätte ich sie angesprochen und ihr ein Kompliment gemacht. Aber das traute ich mich nicht.

  3. oh das ist wunderbar!
    Und es zeigt, dass kleine Aufmerksamkeiten, die man sich gegenseitig angedeihen lässt, einfach gut tun!
    Danke für diese wundervolle Geschichte!

  4. Tolle Geschichte. Und dann noch diese unfassbar gute Überschrift, in der ich zumindest 3 passende Assoziationen zum Text finde. Schön.

  5. Pingback: el flojo
  6. Oh, wie wunderbar. Schade, dass es geradezu unmöglich ist, eine (solche) Dame zu sein.
    Meine Großmutter war eine, auch wenn sie vermutlich mit dem jungen Mann noch ein wenig charmant geflirtet hätte…

  7. Vor 40 Minuten hab ich schnell meine 3-Mails gecheckt, bin dann auf einem Blog hierher verlinkt worden und lese seither vom 5.4. rückwärts. Wenn ich nur aufhören könnt ?
    Diese Geschichte ist allerdings herzergreifend und so außergewöhnlich gut beschrieben, dass ich mich nun als neue Leserin outen musste!

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