Andere sind anders

Denken Sie auch ab und zu daran, wie Corona sich vor 30 oder 40 Jahren abgespielt hätte, in einer Zeit ohne Internet? Wie es alle Informationen nur aus der Zeitung und über Radio und Fernsehen gegeben hätte, drei Programme mit Sendeschluss, das ist eine überaus faszinierende Vorstellung. Vermutlich hätte man die Bevölkerung damals hauptsächlich per Lautsprecherwagen informiert, unentwegt wären die durch die Gegend gekurvt: “Hier spricht die Polizei! Bleiben Sie in den Wohnungen! Halten Sie Abstand!” Und es hätte Extrablätter gegeben, eines nach dem anderen. Ach, es ist alles gar nicht vorstellbar und es wird immer abenteuerlicher, je mehr Details man sich ausmalt. Home-Office ging nicht, Home-School – gar kein Gedanke, wir hätten unweigerlich einfach frei gehabt. Die Wirtschaft hätte nicht in einen Pausenmodus wechseln können, was ja selbst heute ein Euphemismus erster Klasse ist, sie wäre vermutlich einfach sofort und flächendeckend verstorben. 

Bei der Schneekatastrophe 78/79 gab es in Schleswig-Holstein schulfrei, das wurde morgens im Radio durchgesagt. Es gab keinen anderen Kanal für solche aktuellen Informationen. Da war ich aber schon brav losgegangen, bzw. da steckte ich schon draußen in der Schneewehe und mir dämmerte auf dem Weg zum Bus, dass durch diese seltsam polar anmutende Landschaft doch wohl gar kein Bus fahren kann, also bei aller Fantasie nicht, und ich kehrte dann nach längerer Überlegung um und ging nach Hause, oder ich kämpfte mich eher wieder durch den Schneesturm meines Lebens nach Hause. Das war ein einsamer Beschluss und er war auch schwer, denn es war ungeheuerlich und ein Wagnis, einfach nicht zur Schule zu gehen, so etwas war einfach nicht vorgesehen.

Wenn man sich nun vorstellt, man hätte die grundlegenden Informationen zu Corona verpasst und ginge eines Werktagsmorgens durch eine plötzlich menschenleere Stadt, alle Geschäfte geschlossen – im Grunde ein Gruselklassiker. Es wird Menschen am Anfang so gegangen sein, nehme ich an, einigen wenigen, den Informations- und Nachrichtenverweigerern, denn die gibt es auch. 

Aber apropos Nachrichten und Informationen. Wir haben hier im Stadtteil zwei sehr verschiedene Einkaufsstraßen. Eine kommt als Top-Adresse in Reiseführern vor und ist, wenn man es der Kürze halber deutlich vereinfacht, die Ausgeh- und Shoppingmeile für Menschen mit einem etwas besseren Monatseinkommen, für Hipster und Menschen aus dem Ausland, die sich eher nicht Migranten, sondern Expats nennen. Die andere ist, ebenso vereinfacht, das Einkaufsparadies für Menschen aus Ländern wie der Türkei, aus den arabischen Staaten, aus dem Iran, aus Indien, aus afrikanischen Ländern. Oder sagen wir so: In der einen Straße gibt es einen feinen Barbier für Hipsterbärte, der Laden ist so abgefahren und ungewohnt, da bleiben immer wieder Menschen vor den großen Fenstern stehen und sehen zu, wie prachtvolle Bärte aufwändig und ungewohnt liebevoll gepflegt werden. Also wenn die Barbiere geöffnet haben, meine ich. In der anderen Straße gibt es auch Barbiere, da bleibt aber kein Mensch vor den Fenstern stehen, denn da werden routiniert türkische Bärte rasiert und das ist so normal und alltäglich wie nur irgendwas. 

Man konnte nun in den letzten Wochen hervorragend beobachten, wie sich Informationen in soziologisch leicht abgrenzbaren Gruppen anders verteilen. Denn all die sattsam bekannten Maßnahmen, also das mit dem Abstand, dem Mundschutz, den Handschuhen, den wenigen Menschen pro Laden usw., die fanden zwar in beiden Straßen statt – aber in völlig unterschiedlichem Timing und auch in anderer Intensität, es ging ein wenig hin und her. Mal war auf der einen Straße deutlich mehr Abstand zu sehen, mal in der anderen viel mehr Menschen mit Mundschutz, dann wieder anders herum – und die Unterschiede waren jeweils genau so deutlich und auf einen Blick zu merken, wie einem auch sonst der Unterschied zwischen den beiden Straßen, die übrigens nur knappe zwei Gehminuten voneinander entfernt sind, auf jedem Meter und in jeder Minute auffällt.

Was natürlich nur heißt, das Menschen aus anderen Gruppen, Szenen, Gemeinschaften etc. einfach anders informiert sind. Dazu müssen sie auch nicht aus verschiedenen Ländern kommen, es fällt einem dann nur leichter auf. Das weiß man eigentlich, aber wenn man etwa auf Twitter ist, dann kommt man dort zu dem Schluss, dass es viele Menschen, auch solche mit umfassender Bildung, vielleicht aber auch gerade die, immer wieder vergessen und ihren eigenen Informations- und Wissensstand jederzeit zum Maß aller Dinge machen und das auch mit großem Einsatz verkünden. Der hehr gedachte kategorische Imperativ wird dabei zum blockwartorischen Imperativ, mit der einfachen Maxime: “Handle du stets so, dass es mir passt.”

Aber andere Menschen sind anders informiert und haben einen anderen Wissensstand. Andere Menschen denken womöglich auch anders. Andere Menschen sind nämlich anders und anders ist ein Mensch übrigens dann, wenn er nicht ich ist. Nichts, was ich denke, gar nichts davon, ist also allgemeingültig. Das scheint eher schwer zu verstehen zu sein.

Und wenn nichts allgemeingültig ist, dann ist es übrigens dieser Gedanke auch nicht, was? Und ich bin ja auch einer von denen auf Twitter …

Es ist kompliziert. 

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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2 Kommentare

  1. In meiner frühen Kindheit, 50er Jahre, da gab es diese Lautsprecherwagen noch sehr häufig. Wir wohnten nördlich der Bahnlinie, die im Krieg zerstört werden sollte, weil sie wichtiger Transportweg war. Entsprechend viele Bomben waren dort abgeworfen worden, von denen ein großer Teil nicht explodiert war. Als nach dem Krieg dann dieses neue Wohnviertel gebaut wurde, gab es bei Ausgrabungen manchmal mehrmals pro Woche „Blindgängeralarm“. Die Lautsprecherwagen fuhren durch die angrenzenden Straßen und ich habe diese Meldungen heute noch im Ohr: “Achtung! Achtung, hier spricht die Polizei! Bombenwarnung, gehen Sie unverzüglich in Ihren Keller und bleiben Sie dort bis zur Entwarnung.“ Wir zogen mit Zwieback und Tee in unsere Waschküche und blieben dort, manchmal stundenlang. Bei einer dieser Gelegenheiten kam ein solcher Lautsprecherwagen nach einer Stunde wieder vorbei und wies uns erneut an: “Achtung! Achtung, hier spricht die Polizei! Verlassen Sie sofort Ihre Häuser und gehen Sie in die Felder, mindestens 1 km von den Wohnhäusern entfernt.“ Wir wussten dann, die Bombe war größer als gedacht oder schwieriger zu entschärfen und deshalb wurde der Abstand vergrößert. Die alten Leute durften im letzten Haus der Straße bleiben, die anderen zogen weiter. Wir saßen stundenlang unter einem Baum und keiner informierte uns über den weiteren Verlauf. Um 18 Uhr hörten wir von einer Kirche das sogenannte Angelusläuten und die Erwachsenen beschlossen, dass das ja heute wohl nix mehr wird. Über Nacht werden die ja nicht entschärfen. Wir gingen nach Hause und erfuhren später, dass die Lautsprecherwagen am späten Nachmittag zwar zur Entwarnung durch die menschenleere Siedlung gefahren waren, aber nicht raus zu den Feldern. Heute fast unvorstellbar.

  2. Vielleicht aber könntest du auch die Ausgangsprämisse deiner Gedanken überdenken: gibt es nicht vielleicht doch etwas Übergreifendes, das alle Menschen eint – gerade wenns um Moral geht: anständig oder unanständig, aufrichtig oder verschlagen, raffiniert oder einfach… Dann sind wir alle zwar im Detail sehr, sehr unterschiedlich, aber im Wesentlichen gar nicht mehr so sehr…

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