Katalog der nächtlichen Schreie erwachsener Menschen (2)

Die Fortsetzung zu diesem Text

Es gibt in unserer kleinen Straße eine Stelle, an der bleiben die Menschen mit höherer Wahrscheinlichkeit stehen als an anderen, und erklären kann ich das nicht. Ich sehe dieser Stelle nichts an, dort ist nur eine weitere Hausfassade neben anderen, da ist nichts Besonders. Nichts hebt diese Stelle aus meiner Sicht hervor, wenn ich sie von oben aus dem Dachfenster betrachte, und doch muss sich aus dem Verlauf der Straße oder aus der Anordnung der Gebäude eine wie auch immer wahrnehmbare Besonderheit des Ortes ergeben, die etliche Menschen gleichermaßen fühlen und genau dort ihre Schritte verlangsamen, die dort stehen bleiben und, wenn sie andere Menschen oder Wesen dabei haben, mit denen diskutieren, streiten, knutschen, was auch immer. Es ist eine Stelle, die ich gut sehen kann. 

Als ich etwa dreizehn, vierzehn Jahre alt war – es scheint mir nicht zweckmäßig, in diesen Texten stringent und strukturiert vorzugehen, ist die Zeit doch durch ein Nachgeben vieler Strukturen gekennzeichnet und wer wäre ich, das nicht spiegeln zu wollen, ich stehe nicht darüber  – waren die Bücher von Carlos Castaneda Bestseller. Ich nehme an, er ist heute nicht mehr sehr bekannt, damals gab es aber keine Studenten-WG, in der seine Bücher nicht zu finden waren. Und was in Studenten-WGS stand, das konnte aus der Sicht der Heranpubertierenden natürlich so falsch nicht sein, das war interessant und verlockend. Was vermutlich auch eine Logik ist, die es so nicht mehr gibt, Studenten-WG-Bücherregale geben der nachdrängenden Generation längst keine Auskünfte und Orientierung mehr.  Carlos Castaneda beschrieb seine Lehrzeit bei einem gewissen Don Juan Matus, den es, wie man heute weiß, vermutlich gar nicht gab, an dem aber damals nicht zu zweifeln war. Es ging um ein esoterisches System mit indianischen, toltekischen Wurzeln, es ging um Drogenkonsum und selbstverständlich um Bewusstseinserweiterung. Das war mir alles größtenteils völlig unverständlich, ich musste mich an die erzählenden Passagen halten und den Rest einfach aushalten, aber das galt in dem Alter ja für viele Bücher, auch für einige Werke der Weltliteratur.

In einem Kapitel ging es etwa darum, dass es in einem Raum, vielleicht auch in einer Wohnung, in einem Haus, einer Hütte nur genau einen Platz gibt, der für jemanden richtig ist, also goldrichtig und in einem irgendwie esoterischen Sinne passend. Und es ging darum, dass man Zeit darauf verwenden sollte, diesen Platz zu finden, was der Autor in dem Buch dann auch mit einigem Aufwand tat und was ich folgerichtig im Kinderzimmer auch getan habe, ich weiß gar nicht mehr, mit welchem Ergebnis. Ganz sicher aber habe ich es ohne hilfreichen Drogenkonsum versucht. Die seltsamen Kakteen, die in dem Buch zu diesem Zweck verwendet wurden, wuchsen in Travemünde nicht und unter Drogen verstand man dort in aller Regel so etwas wie Bier oder Rémy Martin. Vermutlich war am Ende mein Bett der genau richtige Platz, alles andere wäre auch viel zu kompliziert gewesen. Jedenfalls, so erzählte es Castaneda, fühlt oder erkennt man die Qualität eines Ortes. Und in unserer Straße gibt es also eine Stelle, da fühlt es sich auch beim flüchtigen Flanieren nach Stehenbleiben an, was mir vielleicht auch Stadtplaner und Spaziergangsforscher, was mir nicht nur Schamanen erklären könnten. 

In dieser Stadt gibt es viele Menschen, die geistig verwirrt sind, die verrückt sind, seltsam sind, sich auffällig verhalten. Eines der Merkmale, an denen man einen gewissen Typ dieser Auffälligen sofort erkennt, ist das Herumschreien oder das laute Reden mit sich selbst. Es ist eine wirksame Form des Social Distancing, diesen Menschen kommt niemand nahe, der es nicht muss, man macht bei manchen, die besonders aggressiv oder intensiv wirken, lieber einen größeren Bogen. Ich weiß nicht, ob es eine Gemeinsamkeit zwischen all den Betroffenen gibt oder ob ganz verschiedene  Erklärungen nur zu stets ähnlichen Symptomen führen, aber die Faseler und Brüller sind ohne Frage zahlreich. Es gibt auch Murmelnde und Betende, es gibt Zischer und Sänger, wobei diese Form der Benennung übrigens nicht ganz falsch ist, da die Mehrheit tatsächlich männlich ist, was aber auch dem Zufall meiner Wahrnehmung geschuldet sein kann. Da gehen also Menschen ohne Gesprächspartner die Straße entlang und diskutieren mit ihren Geistern und Dämonen, schreien sie an, scheuchen sie weg, richten flehende Fragen an sie, verlachen sie oder reden atemlos auf sie ein, und warum auch immer, sie bleiben oft an dieser einen Stelle stehen, lehnen sich vielleicht kurz an die Wand, holen Luft und reden oder brüllen dann weiter und erst recht. 

Es sind Menschen darunter, die es dabei sichtlich mit jemandem zu tun haben, der für andere zwar nicht wahrnehmbar ist, den sie aber greifbar vor sich haben. Und das fällt manchmal so überzeugend aus, dass man genau mitbekommt, wo der oder das Angesprochene gerade ist, und es fehlt nicht viel, so fühlt es sich manchmal an, und ich könnte es auch sehen, was da vor oder neben ihnen ist, ich müsste vielleicht nur genauer hinsehen. Was ich aber gar nicht will, denn ab da wäre ich in einem Fantasy-Roman und das kann unschöne Folgen haben, wie man schon seit Poe und Lovecraft weiß. Es sind auch Menschen darunter, die ihre Beschwerden und Klagen eher ganz allgemein an das Universum oder an die Götter richten, unbestimmt in Blickrichtung und Gestik, die schimpfen mit der Nacht, mit der Stadt und dem Himmel. 

Es sind Menschen darunter, die von Wut besessen sind und ihre Tage und Nächte damit verbringen, etwas, jemanden oder alles anzuklagen und niederzubrüllen, mit Worten und Argumenten zu strafen und vielleicht auch manchmal zu besiegen. Es sind Menschen darunter, und das ist für den Zuhörer schwerer zu ertragen, die vom Leid beherrscht werden, die weinen, wehklagen, jammern und heulen. Es sind Menschen darunter, die machen dabei Geräusche, die einem durch Mark und Bein gehen. Wenn im Sommer das Vieh draußen auf Eiderstedt auf den Weiden und Vennen steht, dann schreien manche Tiere nachts. Sie schreien, weil man ihnen die Lämmer oder die Mütter weggenommen hat, weil sie etwas wittern, was sie unfassbar drängt oder lockt, weil sie wegwollen oder irgendwo hinwollen, weil sie Hunger oder Schmerzen haben, was weiß ich, es sind Geräusche, bei denen man unwillkürlich an Trakl-Gedichte denkt, wenn man die in der Jugend einmal durchgesuchtet hat, und bei denen man sich nicht entscheiden kann, ob in diesen Schreien etwas Schönes der Natur sein kann oder einfach nur das menschengemachte Grauen schlechthin. Und so also können auch einige Menschen schreien. Und dass es sie bei Vollmond noch mehr drängt, ihren Gefühlen mehr oder weniger artikuliert Ausdruck zu geben, das macht die Szenen nicht traulicher.

Wenn ich aus dem Dachfenster sehe, gucken manche hoch, und wenn sie mich sehen, dann kann es vorkommen, dass ich aus ihrer Sicht zum Dämon werde, zum Schuldigen, zum Angreifer, zum Übel der Welt, wie ich da so von oben auf sie herabgucke, die Hand noch zum Fenstergriff erhoben und nur als Silhouette zu erkennen, über mir der gebrauchte Großstadmond. Dann mache ich das Fenster schnell wieder zu, denn sonst gehen sie so leicht nicht weiter. 

Aber, und das zeichnet sie aus, im Gegensatz zu den streitenden Pärchen, um die es im nächsten Text gehen wird, gehen die Verrückten wenigstens weiter. Sie gehen immer weiter, denn sie sind ruhelos und kommen nie irgendwo an, während streitende Paare immer an einem Punkt ankommen, an dem … aber ich greife vor.

(Fortsetzung folgt)

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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3 Kommentare

  1. Doch, es gibt da auch Frauen, und es muß nicht immer laut sein: einmal, vor vielen Jahren, sah ich eine Frau auf der Straße, die in höchster Wut und Erregung vor sich hingebärdete, ununterbrochen viele Schritte lang, in geradezu unheimlicher Stiille.

  2. Morgens gehe ich oft mit dem Hund durch den allgemein sehr stillen Wald. Und an manchen Tagen begegne ich dort einer Frau, die auch immer mit solchen Dämonen zu kämpfen hat und schreit und schimpft und mit den Armen all das Schreckliche noch unterstreicht. Manchmal denke ich, wie schrecklich es sein muss, solche Gedanken in sich zu tragen und nicht abstellen zu können.

  3. Auch hier in Bonn gibt es diese seltsamen Selbstsprecher, wobei ich, aufgewachsen in Zeiten, da man noch keine Mobiltelefone hatte, eine Weile brauchte, bis ich verstand, die sind nicht alle bekloppt. Viele haben einfach nur eine Freisprecheinrichtung.

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