Die Herzdame und ich machen einen Mittagsspaziergang, das ist bei uns unüblich. Aber der Oktober ist sonnig und soll schön sein, so liest man, vielleicht kann man das irgendwo sehen. Wir gehen einen Weg, eine Richtung, die wir sonst eher nicht gehen. Mal etwas anderes sehen, ungewohnt abbiegen, wir leben wild und gefährlich. Vor allem aber sehen wir Baustellen und Kreuzungen, es war nicht die beste Wahl, wie sich schnell herausstellt. Und überall der Lärm, die Lastwagen, die Busse. Die Baumaschinen, die Kehrmaschinen, and the jackhammer’s diggin‘ up the sidewalks again and there’s always construction work bothering you, das wusste auch Tom Waits und sang davon, and the goddam delivery trucks they make too much noise, das kann man wohl laut sagen, muss es auch laut sagen, man versteht es ja sonst nicht. Ich bin nicht paranoid, aber ist es wirklich Zufall, dass die Männer mit den Presslufthämmern immer dann mit der Arbeit beginnen, wenn ich an ihnen vorbeigehe, wie unabsichtlich kann das sein, nach der vierten oder fünften Wiederholung kommen mir doch langsam Zweifel.
Ich gehe durch Hamburg und durch den Oktober und finde nichts schön, meine Stimmung ist gegenläufig zum Wetter, hat mit golden nichts zu tun und sinkt und sinkt, es gibt Tage, wer erinnert sich noch an den Satz, da tuste bei.
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Am Abend gehe ich noch einmal los, bloß nicht zu schnell aufgeben. Die Stadt um mich herum geht immerhin nicht weg, diese Stadt, die mir gerade nicht gefällt und die ich gerne gegen irgendeine Nordseeinsel tauschen würde, je kleiner desto besser. Ich muss mich mit der Stadt arrangieren, man muss sich überhaupt dauernd mit allem arrangieren, es ist quasi die Hauptbeschäftigung.
Ich sehe mir die Läden und Schaufenster in der Fußgängerzone an, ich gucke nach Krisenzeitensignalen und Auffälligkeiten. Da vorne in dem Bekleidungsgeschäft kostet ein Mantel für Männer 500 Euro, guck an. Es ist ein Mittelklassegeschäft, dachte ich, so mittig, wie ein Geschäft nur ausgerichtet sein kann. Oberhalb von H&M, unterhalb der feineren Herrenausstatter. Und es ist ein normaler Mantel, kein Designstück, keine Edelmarke, auch kein nachhaltig erzeugtes Ökolabelprodukt, kein Kunsthandwerk. Ich habe lange keinen Mantel mehr gekauft und wohl den Punkt verpasst, ab dem dieser Preis normal geworden ist. „500 Euro“ murmele ich anerkennend vor dem Schaufenster und denke, dass meine Outdoorjacke gut noch einen Winter getragen werden kann. Ich kann mich an ihren Preis längst nicht mehr erinnern, die ist noch von Helgoland, und ich bin seelisch schon wieder bei und auf Inseln. Schlimm.
Ansonsten sind trotz intensiver Suche wenig Marker der Zeit zu sehen, wenn man von der Unzahl der Bettlerinnen und Bettler absieht, von all den Schlafsäcken und Isomatten in den Hauseingängen – wenn Sie auf dem Land leben und lange nicht in einer Großstadt waren, glauben Sie mir, Sie können es sich nicht vorstellen.
An einer Parfümerie hängt ein Zettel an der Tür, darauf steht, dass der Laden geöffnet sei, auch bei geschlossener Tür, denn sie sei nur zum Schutze des Klimas zu, nicht aber zur Abwehr der Kunden, also man könne wirklich gern hereinkommen … der Laden ist aber zu und der Zettel lügt also. Dieser Zettel müsste sprachpolizeilich geahndet werden oder zumindest regelmäßig nach Ende der Öffnungszeit entfernt werden. Es ist alles sehr kompliziert geworden, sogar geschlossene Türen sind jetzt kompliziert, man muss alles erst nachlesen.
Ich gehe nach Hause, wo sehr entspannte Söhne Herbstferien haben und ich nicht. Das ist womöglich der Kern der Probleme, zumindest an diesem Tag. Gründliche Selbstanalyse, so wichtig.
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Ich lese am Abend das Buch von Hillary Mantel durch, Von Geist und Geistern, ich lerne viel über Endometriose und die Leidenswege. Ich bleibe dabei, das Buch ist empfehlenswert. Vielleicht doch mal mehr von ihr lesen.
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Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel. Merci!
Hillary Mantel war eine Schriftstellerin, die ihre Themen gut darstellen konnte. Unbedingt ‚Wölfe‘ lesen. Auch die weiteren Bände lohnen sich- aber ‚Wölfe‘ ist psychologisch und historisch einzigartig. In diesem Sinne: noch einen schönen Oktober.