21.5., Sonntagmorgen. Ein taz-Artikel mit einem Schlusssatz, der einerseits auf der Hand liegt, andererseits aber eher selten in den Medien festgestellt wird. Es ist doch immer wieder faszinierend, wie viel Ungerechtigkeit wir alle in der Gesellschaft hinzunehmen bereit sind, wieviel davon wir auch bereitwillig entschuldigen, dabei kann das doch jeder Kita-Morgenkreis plausibel erklären, was gerecht ist. Und dass wir uns an so vielen Stellen auf der Welt gleichzeitig in seltsamster Weise irgendwie faschofeudalistisch zu finstersten Zeiten zurückentwickeln, ich hätte es mir als jüngerer Mensch wahrhaftig nicht träumen lassen. Aber die Zeiten, sie sind nun so.
Abseits der Politik kommen jetzt zwei, drei wärmere Tage, richtig warme Tage sogar. Die Vögel auf dem Spielplatz klingen am Morgen gleich etwas munterer, wir frühstücken zum ersten Mal bei offener Balkontür. Ende Mai erst! Aber der Mann, der früh auf dem Rad ankommt und das Kirchenbüro aufschließt, ich sehe es vom Balkon, er trägt immer noch die gleichen Sachen wie im April, März, Februar, Januar. Vielleicht ändert er das nie, es gibt solche Menschen.
Der Spielplatz ist am Vormittag besser besucht als sonst, Eltern in T-Shirts und kurzen Hosen, Kinder ohne Schuhe im Sand, beides habe ich lange nicht mehr gesehen.
Die Herzdame liest beim Frühstück im Blog, wobei sie wie stets weit zurückhängt, immerhin aber nicht mehr jahrelang. Das gab es auch schon. Ich frage nach, sie ist gerade am 2. März angekommen. Ich habe nur noch eine ungefähre Ahnung, was ich im März geschrieben haben könnte. Etwas über die Kälte vermutlich, die einfach nicht weichen wollte.
In einer Hamburger Kleingartengruppe im Internet postet jemand ein Eidechsenbild. Gerade erst ging es bei uns in einem Gespräch darum, dass wir in Hamburg nie Eidechsen oder Schlangen sehen, prompt wird der Gegenbeweis geliefert, ab und zu ist es doch bemerkenswert, wie das ineinandergreift. Wenn nachher eine Natter auf unserem Kompost ruht, ich wundere mich nicht. (Späteres Update: Auf dem Kompost war keine, aber in einem Blog postete jemand prompt und wie bestellt noch am gleichen Tag ein Natternbild. Es ist unheimlich.)
Ansonsten ist jetzt die Zeit der Lindenblüte. Die Autos, die unter den Bäumen geparkt wurden, sehen nach ein paar Tagen aus, als könnte man sie direkt abmelden und verschrotten, so dick ist die Schmierpappklebeschicht auf dem Lack und auf den Scheiben, komplett rettungslos sieht das aus und manchmal bekommt man mit, wie jemand laut fluchend in sein Auto steigt, durch dessen Scheiben man kaum noch etwas sehen kann. Händeringen auf dem Fahrersitz, da hat man einen tollen neuen SUV, und dann ist da überall Natur drauf. E-kel-haft.
Auf den Tischen der Außengastro daneben die pflegeleichten Blüten der Plastikblumen in den wasserlosen Vasen.
Ich schleppe den portablen Mini-Backofen zum Auto, den fahren wir in den Garten und haben damit wieder eine voll ausgerüstete Laube, es kann alles losgehen, sogar Kuchen kann es im Garten wieder geben. Die Radieschenernte wird allmählich üppiger und die erste Mohnblüte hat sich auch geöffnet.
Apropos Blüte, ich habe im Internet so lange auf Herrenmodewerbung geklickt, jetzt wird es allmählich wunderlich und also erträglich, was mir nun noch angezeigt wird. Heute etwa sehe ich mehrfach Werbung für seidene Stoffblumen, die man sich ans Revers des Sakkos steckt, sogenannte Boutonnières (die Kornblume lieber vermeiden, siehe dazu den eben verlinkten Wikipedia-Artikel. Fast gerate ich bei dieser Werbung in Kauflaune, aber nur fast. Ich sehe nach, ich habe gar kein richtiges Knopfloch am Revers, es ist nur aufgestickt, nicht geöffnet, eine bloße Attrappe. Billigschund! Mehr auf sich achten, auch wichtig.
Der ewige und unvermeidliche Wind steht heute so, dass das Gebell aus dem nahen Tierheim zu uns in den Garten weht. Wutbellen, Angstbellen, Verzweiflungsbellen, eine Stimmung dort wie auf Twitter in den schlimmsten Stunden, und es ist ein passender Zufall, dass der Wind von rechts kommt.
Von Baum zu Baum springt dieser auffrischende Wind am Nachmittag, erst rauscht der Weißdorn auf, dann die Birke, dann die Weide, und aus den Apfelbäumen rieseln schließlich die letzten Blüten weiß auf den Rasen.
Der Deutsche Wetterdienst mahnt auf seiner Seite streng: „Es ist noch kein Sommer!“
***
Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.
Sehr geehrter Herr Buddenbohm!
Eventuell können Sie das Knopfloch am Revers vorsichtig aufschneiden? Dort können auch echte Blumen hineingesteckt werden.
es grüßt
I. Lorenz
Gestern abend tatsächlich einen Menschen mit Boutonnière gesprochen, er trug sie mangels Jacket im Hemdknopfloch.