Vor dem Seniorenteller

Und dann habe ich doch tatsächlich gestern bei einer Stelle von Thomas Mann laut gelacht und nehme stark an, dass mir das zum ersten Mal im Leseleben passiert ist. Und denke mir, okay, jetzt bist Du also auch in diesem Alter angekommen, in dem man bei Thomas Mann lacht. So ist das nämlich, wenn man auf die 60 zugeht, so äußert sich das. Und dann gibt es auch schon bald den Seniorenteller im Restaurant.

Eine Stelle im „Wälsungenblut“ war es, die mich da so amüsiert hat. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Ironie in der Passage als jüngerer Leser überhaupt verstanden hätte. Ich befürchte aber das Schlimmste. Was selbstverständlich den Eindruck verstärkt, der sich mir ohnehin schon länger aufdrängt, dass man im Grunde alles noch einmal lesen muss.

Also alles zumindest, was einem groß und wichtig vorkommt. Was man geliebt hat oder was für uns Geltung zu haben scheint, nach wessen Deutung auch immer. Denn es sind doch deutlich andere Bücher, wenn man als lesender oder hörender Mensch bereits mehrere Jahrzehnte herumgelebt hat und also ganz anders mitreden und mitdenken kann.

Meine Urteile jedenfalls fallen signifikant anders aus als beim ersten Lesen, das merke ich immer wieder. Mein Vergnügen oder mein Missfallen ebenfalls.

Und einen Gedanken habe ich beim Wälsungenblut vermutlich zum ersten Mal gedacht, obwohl er mir einigermaßen naheliegend vorkommt. Aber gut, man kann auch nicht jeden nahelegenden Gedanken bereits selbst gedacht haben, schon klar.

Es ist jedenfalls einigermaßen erschütternd, ja, das ist wohl das richtige Wort, wenn einem auffällt, dass die Literatur, die man schätzt, mit einem mitgealtert ist. Und daher jemand wie Thomas Mann nun ein paar Jahrzehnte mehr etwa von den Jahrgängen der Söhne entfernt ist, als er es damals von mir war. Was nämlich auch heißt, ich habe ihn damals auf eine Art lesen können, die unwiederbringlich ist. Schon wegen der anderen assoziativen Anschlussmöglichkeiten an den Text. Ich war deutlich näher an seiner Zeit, an seinen Deutungen, an seinen Begriffsinhalten, Bezügen usw.

Wie gesagt, es ist ebenso logisch wie naheliegend, ich habe es nur noch nie bedacht. Dass etwa mein Fontane ausdrücklich meiner bleiben wird, niemals der der Nachkommenden werden kann. Während ich dies notiere, ist mir ein wenig so, als sei das auch ein feines Essay-Thema, aber wer hätte Zeit für so dergleichen: „Assoziative Brücken zu literarischen Werken im Wandel der Jahrzehnte.“

Am Ende aber hat auch das schon längst jemand geschrieben.

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Der Innenhof des Hamburger Rathauses

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Ein kleiner Nachtrag noch zum gestern verlinkten Video von Tim Minchin. Ich kam auf ihn, weil ich gerade alte Links aufräume und umsortiere, Arbeiten im digitalen Keller gewissermaßen (durch die Schließung von Pocket getrieben).

Da fand sich in den verstaubten Kisten nämlich dieser Link zu der Ansprache von Tim Minchin vor Studentinnen, der „damals“ weit gestreut wurde. Ich habe mir das Video noch einmal angesehen und finde es immer noch gut. Wie auch die ähnlich gelagerte Rede-Variante von Anne Lamott über ihre Learnings als älterer Mensch

Mir macht beides immer noch Spaß und falls Sie die Clips vielleicht nicht kennen sollten, zeige ich sie noch einmal. Man kann, wenn man sie morgens ansieht, auf jeden Fall etwas mit in den Tag nehmen, wie man so sagt.


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Ein Kommentar

  1. Als betroffene Seniorin muss ich Ihnen leider sagen, dass es schon jetzt keine Senioren*teller mehr gibt auf den Speisekarten. Stattdessen wird mitunter bei nur halb leer gegessenem Teller ein Doggybag angeboten.
    Das mag ich aber nicht und hoffe, dass man künftig, wie im Ausland öfter erlebt, 1/1 oder 1/2 Mengen anbietet.

    Ansonsten kann ich nur raten, die – rasend schnellen – Jahre zwischen 60 und 80 zu genießen. Ü-80 finde ich nicht mehr uneingeschränkt toll.

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