Wahrscheinlichkeiten

Mir fällt beim morgendlichen Lesen der Nachrichten auf, dass ich es in diesem Jahr womöglich noch nicht erwähnt habe, aber ich bin jedenfalls mit der Gesamtlage nach wie vor nicht einverstanden. Es zieht sich nun seit etwa 2015 so durch und muss daher allmählich als chronifiziert bezeichnet werden. Die typische Ärztinnenfrage, wie lange haben Sie das schon, und dann sagt man leise: „Zehn Jahre“. Wohl wissend, ein größeres Problem zu benennen.

Ein unschöner Zustand. Aber solange man sich noch indigniert geben kann, ist man kaum betroffen und eher privilegiert, das ist schon klar. Ich habe auch immer meine Mutter relativierend im Sinn (Jahrgang 1938), die fassungsloser als ich vor den aktuellen Nachrichten sitzt und sich zwar immer wieder zum bescheidenen Trost sagen kann und es auch tut, dass sie was auch immer vermutlich nicht mehr erleben wird – die aber lange Zeit auch nicht damit gerechnet hat, solche Rückschritte, wie sie unsere Gegenwart in bedrohlicher Eskalation zu bieten hat, auch nur in Ansätzen zu erleben. Man hat es so nicht vorhergesehen.

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Passend dazu: Das Buch „Verlust“ von Andreas Reckwitz liegt hier schon seit Wochen bereit zur Lektüre, ich werde wohl demnächst dazu kommen. Beim SRF in den Kultur-Sternstunden gibt es ein Interview mit ihm vom Jahresanfang, das ist auch sehenswert. Ein Thema, das ich für enorm wichtig und unterschätzt halte – der Verlust der Zukunft in „unserem“ Teil der Welt.

Das Video hier auch wieder als Link.

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Sohn II braucht etwas Hilfe in Mathe und sieht mich fragend an, was bei dem Fach eine eher originelle Idee ist. Allerdings geht es, wie ich kurz darauf erleichtert feststelle, um Stochastik, da kann ich sogar etwas. Da kann ich vor allem dem Sohn sinnige Vorträge darüber halten, dass dies jenes Thema ist, bei dem ich damals zu meinen Schulzeiten auf einmal sogar in Mathe alles verstanden habe und sofort logisch und einleuchtend fand. Als hätte man mein Hirn über Nacht irgendwie justiert. Weswegen ich dann am Ende des Halbjahres auch eine verblüffend glanzvolle Note erhielt und mich damit zum Abitur retten konnte.

Diese Rettung war also eine Frage der Wahrscheinlichkeitsrechnung, aber es war doch eine Wahrscheinlichkeit der Rettung, mit der man fraglos nicht rechnen konnte.

Und diese Wahrscheinlichkeitsrechnung, ich rede einfach immer weiter, merke aber längst, dass der Sohn dabei unauffällig nach dem Smartphone gegriffen hat, sie gehört zu den wenigen Themen aus dem Fach Mathematik, die tatsächlich und ernsthaft im späteren Leben vorkamen. Mehrfach! Die Sache mit dem Urnenmodell und dem Zurücklegen etc., das Rechnen mit der Fakultät, das gab es alles auch „in echt“ und bei verschiedenen Gelegenheiten.

Die Wahrscheinlichkeitsrechnung ist nützlich, ich kann es beweisen, ich habe es erlebt. Der Sohn gähnt und wirkt unwahrscheinlich müde.

Ich habe es hier auch nicht immer leicht.

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Das Spiegelgebäude in Hamburg im Abendlicht

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