Einige Anmerkungen an einer Ampel

Als ich vor etlichen Jahren, Jahrzehnten sogar, einmal beruflich in New York war, gab es etwas Verstimmung im Team, weil ein Teil der Gruppe sich strebsam reiseführerorientiert durch die Stadt bewegen wollte, mit Zeitplan, Etappen und allem, und ein anderer Teil, zu dem ich gehörte, einfach herumgehen, herumlungern und irgendwo stehenbleiben und gucken wollte. Etwa an irgendeiner Ampel am Broadway, an der wir nur zufällig vorbeikamen. Weil es so dermaßen interessant war, was da alles für verschiedene Menschen vorbeigingen.

All diese Styles, diese Gruppen, diese Richtungen und so leicht erkennbaren kulturellen Varianten, die man in dieser Mischung bisher nur aus dem Kino kannte. Da liefen sie nun herum und durcheinander, direkt vor uns. Ich stand und starrte, vermutlich war ich schon auf den ersten Blick durch und durch ein Tourist. Man ist nicht sicher davor, auch einmal zu dieser Ausprägung zu gehören. Ich nehme jedenfalls an, dass niemand sicher davor ist.

In der letzten Woche fiel es mir wieder ein, dieses Ampelerlebnis in einem New York vor unserer Zeit. Denn Hamburg hat doch etwas aufgeholt in den letzten Jahren. Wenn hier nun jemand aus der Provinz landet, aus irgendeiner Provinz irgendwo auf der Welt, dann steht er vielleicht in manchen Momenten ähnlich staunend, wie ich damals am Broadway stand.

Eine Ampel am Hauptbahnhof, ich erkläre am Beispiel. Ich stehe und warte, denn man geht hier, es ist fast schon erstaunlich, noch mehrheitlich bei grünem Licht. Mir gegenüber, auf der anderen Straßenseite, drei Männer, die warten auch. Einer trägt einen schrägen, dunkelblauen Zylinder, etwas abgenutzt und halbmast sieht der aus. Dazu etwas, das auf eine schwer zu beschreibende Art dezent an ein Theaterkostüm erinnert, aber wohl doch keines ist. Eher etwas, das mit viel Aufwand aus Second-Hand-Läden zusammengekauft wurde. Es wird Zeit gekostet haben, das alles zusammenzufinden.

Ein Hemd mit seit langer Zeit unmodischem Kragen, ein frackähnliches Gewand, das vielleicht auch aus Teilen einer alten Livree besteht. Eine silberne Uhrenkette an der Weste darunter. Stiefel in schuppigem Leder und an der einen Hand etliche Ringe aus Silber mit reichen Verzierungen. Ein schwarzglänzender Spazierstock mit silbernem Griff. Der Bart des Mannes ist weiß und hebt sich etwas seltsam von seiner dunklen Haut ab. Er könnte auch gefärbt sein, denn das Weiß harmoniert nicht mit dem Alter, das man in diesem Gesicht abzulesen meint.

Baron Samedi, denke ich. Einen weiten Weg hat der hinter sich, und er hat mir gerade noch gefehlt in diesen Wochen, in denen man es schon mehrmals auf mich abgesehen hatte. Ich berichtete, der fallende Koffer, die stürzenden Trümmerstücke der Hausfassade.

Neben dem Baron ein älterer Japaner. Was immer ein gewagter Satz ist, denn ich habe seinen Ausweis nicht gesehen, was weiß ich denn, was er wirklich war. Aber klischeemäßig doch durch und durch ein älterer Japaner, und zwar einer, den ich fast von Instagram zu kennen meine. Er ist es doch nicht, nein, auf den zweiten oder eher dritten Blick ist er es nicht. Der auf Instagram ist aber auch so gut angezogen, das ist die hervorstechende Gemeinsamkeit. So betont fein und an der Herrenmode von vor etlichen Jahrzehnten orientiert, grobe Richtung Dreißiger. Dabei aber lässig, unangestrengt und auf eine Art elegant, dass man spontan neidisch werden könnte. Weil die eigenen Sachen nie so dermaßen gut sitzen werden wie bei dem da. Obwohl die Sachen auch gebraucht sein werden, aus etwas besseren Second-Hand-Läden vielleicht

Aber wo die Sachen auch herkommen mögen, die ich hier an ihm vor mir sehe, da steht ein japanisches Jil-Sander-Model aus der neuen Herrenlinie, so geschickt gezeichnet sieht diese Figur aus. Damit hat man in etwa ein Bild, das die Erscheinung bündig zusammenfasst. Was er trägt, das wirkt gleichzeitig zusammengetrödelt und sauteuer, was man auch erst einmal hinbekommen muss.

Dabei steht er, und da wird es fast schon albern, aber was soll ich als Chronist machen, wenn ich in einer albernen Welt lebe, auf eine hier unübliche Art etwas in den Knien. Mit leicht angebeugten Knien, in dieser Haltung also, die wir alle aus den Karate-Kid-Filmen und ähnlichen Werken gut zu kennen meinen.

Der dritte Mann schließlich steht dort in einem gewöhnlichen blauen Anzug von der Stange, so sieht es jedenfalls aus. Nicht eben die billigste Version, das nicht, aber doch unauffällig mittelmäßig. City-konform eben, ein Anwalt vielleicht, der aus seiner oder eher einer Kanzlei kommt, er ist noch ziemlich jung. Seriös und gediegen, durch und durch als verlässlich und vertrauenswürdig kostümiert. Auch der Haarschnitt, die Rasur, die lederne Reisetasche, die wohl unter Weekender fällt. Es ist alles so gewählt, dass er damit problemlos in das Straßenbild der meisten Metropolen weltweit passen würde, ohne auch nur ansatzweise aufzufallen.

Wenn man ihn nicht komplett ansieht. Denn seine Figur endet unten in Lackstiefeln. Auf Absätzen mit nicht gerade geringer Höhe. Schwarzes Lackleder, an sich auch wieder bürotauglich, wenn auch in dieser Form meist eher von Frauen getragen. Von Frauen mit modischem Selbstbewusstsein könnte man ergänzen. Aber was ist schon dabei, es ist ein freies Land und es ist erst recht eine freie Stadt, wie man etwa an dieser Ampel sieht. An der Alster, an der Elbe, an der Bill‘, dor kann jeder eener mooken, wat he will, wie schon Heidi Kabel nach einem Text von Richard Germer sang.

Kein Schwein guckt da genauer hin. Wenn nicht gerade ein Blogger im Geiste etwas mitschreibt, versteht sich. Man kann und darf hier so herumlaufen, und es ist entschieden ein wichtiger Grund, hier zu leben. Auch wenn ich selbst nur mäßig auffällig bin, in meinem weißen Leinenhemd, dem tropentauglichen Anzug und dem Panama-Hut.

Schon gut, ich merke es selbst.

Bei Grün gehen die drei dann gleichzeitig los und an mir vorbei. Es könnte auch die etwas bemüht schräge Besetzung eines Films sein, denke ich. Vermutlich die Stars einer etwas melancholischen Komödie. Es ist immerhin noch ein Glück, überlege ich weiter, wenn etwas schon nach Film aussieht und man es dann als melancholische Komödie deuten kann. Ich meine, in was für einem Film würde man sich lieber wiederfinden? Alles andere wäre übel.

Eine Komödie vielleicht, bei der das Drehbuchteam mit Raffinesse herausgearbeitet haben würde, wie es zu der unfreiwilligen Begegnung der drei Männer kam, und außerdem einen feinen und geistreichen Grund geliefert hätte, warum sie nun gemeinsam irgendein Abenteuer mit Bravour bestehen müssen. Sie kennen das. Der Baron Samedi, der Jil-Sander-Japaner und der Anwalt für, was weiß ich, Verkehrsrecht aus Hamburg-Mitte.

Was ich nur eben sagen wollte: Man kann mittlerweile auch hier an Ampeln stehen und starren. Und das ist auch gut so.

Poststraße, Blickm auf die alte Post mit flirrender, bunter, sommerlicher Deko über Straße, bunte Stoffstreifen im Wind

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2 Kommentare

  1. Fein beobachtet. Wobei das Stehen an Ampeln eben auch sehr deutsch ist, was mir gerade nach meinem New York Besuch vor einigen Jahren aufgefallen ist. Dort sind Fußgängerampeln ja eher ein Vorschlag, ein dezenter Hinweis, man könnte mal stehen bleiben und schauen, ob was kommt. Wenn nichts kommt: weitergehen, unabhängig von der Farbe der Ampel. Ich fand das Konzept sehr schlüssig und inspirierend im Gegensatz zum deutschen Modell: Hier scheint es mir doch noch die Regel zu sein, dass mehrere Menschen an einer roten Ampel stehen und warten. Kein Verkehr weit und breit. Sie warten dennoch. Stille, Einsamkeit auf der Straße. Sie warten … Ich habe das Modell New York in mein deutsches Leben integriert, ernte dadurch manchmal böse Blicke der Wartenden, halte das aber aus.

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