Wer auch immer

Bevor die Temperaturen auf Rekordhöhen steigen, sehe ich am frühen Morgen ringsum überall die weit aufgerissenen Fenster und Balkontüren. Als würde man in jeder Wohnung noch einmal tief einatmen. Als würden alle Nachbarinnen und Nachbarn die gerade eben noch als kühl zu bezeichnende Morgenluft gierig einziehen. Etwa so, wie ein starker Raucher nach einem Langstreckenflug an der ersten Zigarette vor dem Zielflughafengebäude saugt, so wirkungsdurstig, mit so drängender Lust am Effekt auf die Nerven.

Sauerstoff, auch ein geiles Zeug.

Gegenüber, wo immer noch gerade die Häuser abgerissen werden, damit, wie wahnsinnig originell für diesen Stadtteil, noch ein Hotel gebaut werden kann, steht von einem ganzen Block mittlerweile nur noch eine Wand. Wenn sie die auch noch einreißen, und es kann sich nur noch um Stunden handeln, haben wir aus dem einen Kinderzimmer auf einmal freien Alsterblick. Pardon, aus dem einen Teenagerzimmer. Von Kindern kann hier keine Rede mehr sein.

Ich überlege, ob der Alsterblick die Lage verändert. Vielleicht sollte ich den entsprechenden Sohn eine Weile aus seinem Raum werfen. Ihn bei seinen Kumpels unterkommen lassen, die schlafen immerhin auch oft genug bei uns, und sein Zimmer für Unsummen untervermieten? Mit bestem Blick? Die Beute könnten wir uns immerhin hinterher teilen.

Es wäre eine erzieherische Maßnahme von Wert und Dauer, meinen Sie nicht? Der Jugend das System nahebringen, das ist doch etwas. Die Wirkungsweisen der Wertschöpfung vermitteln, tanz den Kapitalismus. Aber diese dezente Anspielung auf die jüngere deutsche Musikgeschichte im letzten Satz würde er leider auch schon wieder nicht verstehen, wie ich annehmen muss.

Ich finde es manchmal etwas herausfordernd, was da alles von Jüngeren nicht mehr verstanden wird. Eigentlich möchte ich andauernd den Drosten mit seinem so markanten „Bilden Sie sich fort!“ zitieren. Aber das gilt, wie hier ehrlicherweise zu ergänzen ist, nicht nur gegenüber meinen hauseigenen Teenagern. Auch andere jüngere Menschen verstehen meine Anspielungen, meine Pointen und Bezüge nicht oder nur noch teilweise, gucken manchmal ratlos, wenn ich gerade einen nach eigener Einschätzung spitzenmäßigen Scherz gemacht habe. Weil ihnen komplett der Kontext fehlt, den meine Generation irgendwann gelesen, gelernt oder wie auch immer abgespeichert hat. Es geht bis tief runter im Niveau, bis zu alten Werbe-Jingles und den Sprüchen aus eher mäßigen Fernsehserien, Spielshows und dergleichen.

Machen Sie mal etwa den „Risiko!“-Jingle aus dem Großen Preis von damals in einer Runde von Menschen ohne Kenntnis der Sendung nach – die gucken, als würden sie über eine Einweisung nachdenken.

Es hat also mit Bildung nichts zu tun, recht bedacht, der Begriff ist hier falsch. Es ist nur wieder der Zusammenhang mit dem gesamten, so umfangreichen Assoziationsklimbim, der mit jeder Generation unwiederbringlich verschwindet. Die vor uns haben das auch schon erlebt, man sollte es sich ab und zu aufsagen. Die nach uns werden es auch erleben. Immer fair bleiben, auch beim losen Herumdenken.

Und außerdem, so denke ich, gehen sie immerhin zur Schule, diese beiden Teenager. Sie werden dort schon irgendwas lernen.

Irgendetwas anderes eben.

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Sohn II: „Was ist das hier eigentlich für eine komische Figur, die wie du aussieht?“

Ich: „Das ist die Playmobil-Jubiläumsfigur, die zum 150. Geburtstag von Thomas Mann herausgebracht wurde. Ein Leserinnengeschenk.“

Sohn II: „Geburtstag von wem?“

Ich: „Thomas Mann. Der Schriftsteller. Aus meiner Heimatstadt.“

Sohn II: „Na, wer auch immer.“

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Der Adolphsplatz hinter dem Rathaus im Weitwinkel

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10 Kommentare

  1. Wie sagen die Ferengi-Erwerbsregeln: „Ausbeutung beginnt in der Familie“.
    Um mal einen Witz zu bringen, den heutzutage weder Teenager, noch vermutlich Thomas-Mann-Fans verstehen. 🙂

  2. Vielleicht lassen sich die Söhne über den TikTok-Kanal @br_literally ködern?
    Im Übrigen bin ich der Meinung: Die Kolumne war mal wieder SPITZE 😉

  3. Gestern in einer Gesprächsrunde kannte eine der Teilnehmerinnen (Ende 20, Schwarz und zum Teil in den USA aufgewachsen) Run-D.M.C. nicht. Wir Deutschen um die 40 fielen vom Glauben ab.

  4. Das erste Mal: niemand in der Runde kannte die beste Serie aller Zeiten – Der Doktor und das liebe Vieh ( vor dem Remake). Und plötzlich ist man alt.

  5. Meine Eltern kannten auch immer nur so peinliche Sachen, die vor 20 oder 30 Jahren mal berühmt waren.
    .
    .
    Oh.

  6. Zeit für den Familienausflug zum Buddenbrook Haus mit Gedenkminute für Thomas Mann. Und danach Marzipantorte für alle 🙂

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