Urbanes Triptychon

Der frühmorgendliche Blick aus dem Fenster an einem der letzten Tage. Auf ein Arrangement, das etwas mit der mittlerweile zum fragwürdigen Running Gag gewordenen Frage „Welche Gesellschaft soll das abbilden?“ zu tun haben könnte.

Ich skizziere kurz:

Unten auf dem ansonsten noch leeren Spielplatz, und dort recht genau in der Mitte, steht eine Frau mit einem goldfarbenen Kopftuch und einem schwarzen, bodenlangen Kleid. Das Kleid hat eine mehr verhüllende als modische Funktion, und das Kopftuch ist, sofern ich mich da auf meine Deutung verlassen kann, so gebunden, wie man es oft bei etwas älteren Frauen türkischer Abstammung sieht. Das Alter der Frau ist allerdings nur ungefähr einzuschätzen, eine junge Großmutter könnte es vielleicht sein. Es wäre nicht verwunderlich, hätte sie ihre ersten Enkelkinder dabei. Sie wären eine passende Ergänzung des Bildes, aber sie ist allein dort, zwischen den Schaukeln, der Rutsche und der Wippe.

Gemächlich geht sie im Kreis dort herum, es sieht entspannt aus. Sie hält ihre Hände mal vor dem Bauch, mal vor dem Rücken verschränkt. Soweit ich es erkennen kann, sieht sie sich nichts Bestimmtes an und sie macht auch sonst nichts. Sie sieht nicht einmal, was doch sonst alle machen, auf ein Smartphone. Sie wandelt da nur herum.

Zwischendurch setzt sie sich einmal kurz auf eine Bank. Gleich kommen drei, vier, fünf Tauben angeflogen, drängeln sich durcheinander und gucken sie erwartungsvoll an. Aufgeregt ruckende Vogelköpfe. Die Frau hebt, und sie tut auch dies ausgesprochen langsam, einen Zeigefinger und sagt leise etwas zu den Tauben. Ernst sieht das aus. Als würde sie den Vögeln einen sachlichen Vortrag halten. Vielleicht über das Betteln, über das Rempeln und über den Respekt. Und natürlich darüber, dass sie kein Brot dabei hat.

Sie steht wieder auf. Was ihr ein wenig schwerzufallen scheint, eine Hand fasst ins Kreuz. Vielleicht wegen des Alters, vielleicht auch wegen ihres beträchtlichen Umfangs. Dann wandelt sie weiter in losen Kreisen und Schleifen über den Platz und scheint weiterhin Zeit zu haben.

Es ist noch sehr früh, der Berufsverkehr hat noch nicht begonnen. Die meisten Menschen in den Häusern ringsum werden in diesem Moment erst auf ihren Wecker sehen oder mit den üblichen Handgriffen ihres Frühstücksrituals beginnen, vielleicht auch aus der Dusche kommen. Und ich kann nur raten, was ich da auf dem Spielplatz sehe. Womöglich ist es ein Fall von „einfach so“. Vielleicht konnte sie einfach so nicht mehr schlafen, vielleicht ging sie einfach so auf den Spielplatz und dann einfach so im Kreis. Vielleicht hat sie einfach so Zeit. Und wie sie jedenfalls Zeit hat! Gar nichts an ihr deutet auf Eile hin, auf Stress oder auch nur auf herandrängende Alltagspflichten.

Aber links und rechts neben den Mauern und Zäunen des Spielplatzes in der Mitte des Platzes ist je ein Mensch im Bild, der im Gegenteil nach Geschwindigkeit aussieht.

Einmal eine junge Frau, die in ausgeprägtester Durchschnittlichkeit der Erscheinung einen Rollkoffer hinter sich herzieht und ziemlich sicher aus einem der Hotels hier um die Ecke kommt. Die also, es ist leicht zu raten und hat eine hohe Wahrscheinlichkeit, zum Hauptbahnhof strebt, wo sie einen Zug bekommen muss. Es wird schon etwas knapp, sie geht so, dass sie fast läuft. Was auf den Büroschuhen, die sie trägt, nicht leicht ist und etwas unpassend sperrig und eckig aussieht. Als würde ein Bewegungsablauf, der flüssig zu sein hat, in ihrem Fall etwas ruckeln.

Sie trägt einen dunkelblauen Hosenanzug, sie hat eine auf den Kopf geschobene Sonnenbrille und die blonden Haare in einem wippenden Pferdeschwanz. Mitte zwanzig wird sie sein und sieht so dermaßen und auf den ersten Blick nach Dienstreise aus, wie es überhaupt nur denkbar ist. Fast zweifelsfrei zu oder von einem Meeting, einem Kongress, einer Messe oder dergleichen kommend. Prompt sieht sie beim Gehen auch aufs Smartphone, wie es erwartbar ist, und tippt einhändig Kurzes. Einzelne Wörter höre ich aus ihrer Richtung, es könnten Verwünschungen, Flüche, Beschimpfungen sein, aber es bleibt unverständlich.

Auf der anderen Seite des Platzes ein Mann, der trotz des Sommermorgens eine militärgrüne, winterlich anmutende Mütze trägt. Mit herabhängenden Klappen an den Seiten, die beim Gehen hin- und herschaukeln. Sie wippen wie die Ohren eines trabenden Spaniels. Eine auffällig dürre, klapperige Gestalt ist er, deren Alter man nicht oder nur schlecht einschätzen kann. Über deren Zustand man aber schnell meint, urteilen zu können, wobei ein Wort sich vermutlich jedem Betrachter sofort aufdrängen würde: Alkohol. Und zwar viel davon, und das nicht nur heute. Seine Kleidung wirkt schäbig und schlecht sitzend, etwas vogelscheuchenhaft, lumpig. Die ganze Erscheinung hat etwas Derangiertes, Zerfleddertes.

Der Gang des Mannes ist schaukelig und kurvig, er irrlichtert über eine nur gedachte Gerade. Da, wo er entlanggeht, ist es leicht abschüssig, ein wenig nur. Aber dieses Gefälle beschleunigt ihn, ohne dass er damit noch souverän umgehen könnte. Es sieht aus, als könnte er bei jedem Schritt stürzen, der Oberkörper ist schneller als die Beine. Beide Arme hat er seitlich etwas ausgestreckt, um das Gleichgewicht besser halten zu können. Die Arme kurbeln, als würden sie in der Luft nach Halt und Griffen suchen. Er hält kurz an, als er unsere Szene durchquert, was ihm nicht eben leichtfällt und nach einem komplizierten Manöver aussieht.

Er bückt sich mühsam nach einer Kippe auf dem Pflaster, hebt sie auf und steckt sie ein. Die ganze Zeit brabbelt er dabei etwas vor sich hin, er redet laut mit sich selbst oder mit nur gedachten Gefährten. Es könnte eine slawische Sprache sein, soweit ich es mitbekommen kann. Wahrscheinlich wäre dies, wenn der Mann der Alkoholszene um den Bahnhof herum zugehörig ist, was wir wohl vermuten dürfen. Nur wissen, wissen können wir es wie immer nicht.

Man kann aber auch ahnen, warum der dort gerade entlanggeht. Also nicht, warum er genau dort entlanggeht, aber warum er überhaupt zu dieser Stunde geht. Denn im Hintergrund der Szene fahren auch noch zwei Polizeiwagen langsam herum. Er wird, ich sehe diese Szenen jeden Morgen im Stadtteil auf meinem ersten Spaziergang, in einem Hauseingang, auf einer Kellertreppe oder in einem Säulengang bei der Kirche geschlafen haben, er wurde vermutlich eben erst von der Polizei geweckt.

Wie es hier vor Beginn der Öffnungszeiten der Geschäfte üblich ist und was übrigens in aller Regel höflich passiert. Ein kurzes Anrufen, zwei, drei Sätze hin und her, ein stöhnendes Aufrappeln, manchmal winkt man sich sogar noch einmal zu. Es sind eher keine Fälle von Staatsgewalt.

So sieht es jedenfalls aus, das Bild an diesem Morgen. Das goldene Kopftuch, das auch noch, was einigermaßen übertrieben wirkt, wie ich sofort zugebe, in der Mitte des Platzes kreist. Diese unverkennbar deutlich ausgestrahlte Ruhe der älteren Frau. Dagegen gesetzt der hektisch gezogene Rollkoffer der jungen Frau, der mit einem aggressiven, unangenehm ruhestörenden Geräusch polternd über das Kopfsteinpflaster lärmt. Das Standard-Business-Kostüm, die Sonnenbrille der so ausgesprochen morgenmunter wippende Pferdeschwanz. Und dagegen wiederum die schief sitzende, marode Wintermütze des gebeutelten Mannes, sein schaukelnder Matrosengang. Die aufgesammelte Kippe.

Jetzt fehlt noch das Ereignis, durch das diese drei gut geeignet wirkenden Figuren in Interaktion treten müssten. Damit eine Handlung programmgemäß und nach hinlänglich bewährten Mustern abgespult werden könnte, bekannt aus Mainstream-Komödien etc. Das findet aber nicht statt.

Das müsste ich mir erst ausdenken, um dies alles weiter auszubauen auf, was weiß ich, handelsübliche 300 Seiten oder 90 Minuten. Um also, spinnen wir etwas herum, Aygül, Dobromir und Lea-Michelle in eine Geschichte zu verwickeln, in der aus ihnen ein einprägsames und vor allem erfolgreiches Trio wird. Mit einem Ziel, einem Abenteuer, einer Mission. Aber nein, wie gesagt, dieses Ereignis findet nicht statt. Oder treffender: Diesmal findet es nicht statt.

Denn man müsste wohl nur oft genug aus dem Fenster sehen und alles mitschreiben, dann könnte man irgendwann auch so etwas erwischen. Wie etwa damals bei dem Fall, als jemand am hellen Tag den Opferstock aus der Kirche geraubt hat, ihn unterm Arm davonschleppte und dabei von drei zufällig anwesenden Passanten verfolgt wurde. Denen das doch seltsam vorkam, dass da jemand mit diesem auffälligen Ding aus der Kirche kam. Bis runter an die Alster sind sie dann hinter ihm her und besprachen dabei, was nun zu tun sei … aber das ist eine andere Geschichte.

Es würde jedenfalls, nehme ich an, keine Woche mit Notaten dieser Art vergehen, dann würde jemand in den Kommentaren erneut anmerken: „Das denkt der sich doch aus.“

Aber nun. Es ist, wie es ist. Und je länger ich darüber nachdenke und je genauer ich hinsehe, kommt mir fast jede Figur in dieser Stadt, an die ich im Vorbeigehen kurz im Geiste heranzoome, immer ausgedachter vor. Von wem auch immer ausgedacht. Zumindest aber von der Figur selbst.

Wozu ich mich ausnahmsweise selbst zitieren möchte, mit einem Satz aus dem Text neulich, in dem unser aller Cosplay vorkam: „Ob wir aber überhaupt im Leben etwas anderes machen können, als etwas durch ein Kostüm und Verhalten möglichst originalgetreu darzustellen – ich halte das auf den ersten Blick für diskutabel.

Denn auch auf den zweiten Blick stimmt es noch so.

***

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2 Kommentare

  1. Verehrtester, bitte urlauben Sie weiter nichtreisend, es tut Ihrem Schreiben gut, ich genieße das gerade sehr.

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