Undinen und Sirenen

Etwas Ruhe wäre nett gewesen bei und nach dem Eintritt des gestern beschriebenen Desasterdreiklangs der letzten Tage. Aber die Inszenierung des Sommers wurde im Gegenteil in der letzten Woche noch einmal hochgejazzt zur hoffentlich finalen Kakophonie der Saison.

Die Häuser gegenüber wurden abgerissen, nun geht es dort in die Tiefe. Die aber ist noch aus den vergangenen Jahrzehnten betoniert, asphaltiert und vermauert, wogegen mit schwerem Gerät vorgegangen wird. Nach ein paar Stunden fühlt es sich an, als würde der Presslufthammer auf der eigenen Schädeldecke aufgesetzt.

Dazu Hubschrauber über unserem Dach. Immer wieder Hubschrauber, sie fliegen gar nicht mehr weg. Sie sind auch ungewöhnlich dicht und stehen bemerkenswert lange an einem Punkt. Wie an den Himmel gepinnt, was machen die da eigentlich.

Ich sehe in den lokalen Medien nach und sehe: In den Flüssen sterben die Leute. Mit einer etwas unfassbaren Regelmäßigkeit tun sie das in dieser Stadt, als würden wie in der Romantik nach wie vor Undinen in die Gewässer locken und winken. Was auch deswegen passt, da über den ganzen Sommer gesehen stets besonders viele Jünglinge betroffen sind. Aber nicht nur.

In querschießender Assoziation fällt mir ein, dass junge Frauen in dieser Stadt gerade, einer Laune der Mode folgend, wieder vermehrt Seidentücher um die Hälse tragen. Weswegen ich, in zugegeben absurd anmutender Verbindung der Ereignisse, einen Schubert-Ohrwurm habe, nämlich des Baches Wiegenlied. In welchem der Bach den Jüngling empfängt („Will betten dich kühl auf weichem Pfühl“) und durchaus behalten möchte, wobei dann aber die Schönheiten am Ufer zu stören drohen. Weswegen gesungen wird:

„Hinweg, hinweg von dem Mühlensteg!

Hinweg, hinweg, böses Mägdelein,
dass ihn dein Schatten, dein Schatten nicht weckt.

Wirf mir herein dein Tüchlein fein,
dass ich die Augen ihm halte bedeckt.“

Haben Sie übrigens gewusst, dass der geschätzte Hannes Wader Stücke von Schubert/Müller einmal eingesungen hat? Wofür er sogar noch einmal in fortgeschrittenem Alter Gesangsstunden genommen hat, da er von der Ausbildung her nun einmal nicht Kammer-, sondern eindeutig Straßensänger ist?

Ich mag das, was dabei herausgekommen ist. Es ist auf eine ansprechende Art gekonnt, aber nahbar unperfekt.

Hier als YouTube-Link und nachfolgend auch eingebettet.

Vermutlich habe ich jedenfalls wegen der lockenden Flüsse, die durch diese Stadt eilen, die ganze Kindheit der Söhne über ungewöhnlich viel Mahnendes über das Baden in fließenden Gewässern aufgesagt. Während in jedem Sommer wieder alle zwei, drei Tage entsprechende Meldungen zu lesen waren. Und mehrfach in den letzten Jahren Rekorde gebrochen wurden, was die Anzahl der Opfer betraf.

Aber wie auch immer. Es hat Großeinsätze zur Folge, wenn so etwas passiert, und gleich zwei davon gab es gerade in direkter Nähe. Einen nahezu in Sichtweite, vielleicht zweihundert Meter weiter.

Darüber hinaus aber noch mehr Sirenen von Polizei und Feuerwehr als ohnehin schon, es muss etwas in der Luft sein. Vielleicht ist es besonders schwül oder auf eine andere Art meteorologisch seltsam. Jedenfalls fahren die Leute hier noch irrer als ohnehin schon, sie hupen auch mehr und sie drohen sich noch öfter Schläge an. Sie beschimpfen sich mehr, kommen sich in die Quere und bekommen sich auf alle denkbaren Arten in die Haare.

Wie in einer Science-Fiction-Handlung, bei der nichts anderes passiert, als dass die menschliche Aggression aus unerfindlichen Gründen weltweit allmählich steigt und steigt und immer weniger Menschen sich noch im Griff behalten können. In der die Schranken der Zivilisation also langsam hochgehen und darunter etwas hervorbricht, von dem man sich keinen Begriff machen möchte. Und worüber sich die Menschen dann kaum noch austauschen können, ohne sich zwischendurch eine zu langen.

Schon wieder Geschrei vor dem Haus, noch während ich dies schreibe. Ich hänge mich aus dem Dachfenster und sehe mir die Tobenden da unten an. Ein Lieferwagen hat für eine Minute die Straße blockiert, man eskaliert wild um ihn herum. Ich brülle von oben die Streitenden an der Straßenecke an, ob sie sich gefälligst woanders die Schädel einschlagen könnten. Ich werfe Bücher, Besteckteile und Vasen nach ihnen.

Nein, das tue ich natürlich nicht. Aber es wäre mir gerade danach.

Ein Aufkleber "Send Love" auf einem Briefkasten vor der S-Bahn-Station Hammerbrook

Tausende Menschen aus Indien ziehen dann auf meiner Spaziergangsstrecke an mir vorbei. Sie tanzen und singen und feiern irgendwas, das ich allerdings später erst nachsehen muss: Ganesha wird zelebriert (Wikipedia-Link). Ganesha ist unter anderem auch der Gott der Hindernisse, ich lese es nicht ohne eine gewisse Bitternis.

Die Innenstadt ist davon abgesehen voll wie zu Weihnachten. Ich kann es mir gar nicht recht erklären, wie kommt das jetzt wieder? Und was habe ich alles verpasst.

Vielleicht bleibe ich einfach bei dem sich gerade so oft anbietenden Satz hängen. Vielleicht werde ich doch noch in Frieden vollkommen verrückt und murmele in den mir noch verbleibenden Jahren unaufhörlich brabbelnd den Standard vor mich hin: „Was ist hier eigentlich los, was ist hier eigentlich los.

Oder aber, das ist zumindest theoretisch ebenfalls denkbar, es wird irgendwann auch wieder ruhiger da draußen. Wenn es etwa endlich regnet. Das wird es bald tun, sagt der Wetterbericht immerhin. Wenn es außerdem kühler wird. Wenn die Nächte frischer werden, wenn der Nebel steigt, wenn die Blätter fallen und die Vögel ziehen. Und all das.

Vielleicht dann.

***

Ich sah ansonsten zur Beruhigung eine arte-Doku über Michael Caine. Wie erleichternd ich es immer finde, wenn sich bei solchen Sendungen die Hauptfigur nicht als Unsympath erster Klasse herausstellt und man in den Kommentaren nicht lavierend um ihre Untaten herum spricht.

Die Sendung hier als arte-Link.

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Ein Kommentar

  1. Halstuch als Todesursache… da war doch was? Nachgeschaut:
    „Isadora Duncan starb [am 14. September 1927] mit 50 Jahren in Nizza. Als Beifahrerin in einem offenen Amilcar Type CGSS, den der italienischstämmige Nizzaer Autohändler und spätere Rennfahrer Benoît Falchetto (1900–1983) fuhr, verfing sich auf der Promenade des Anglais ihr Seidenschal in dem Speichenrad des Sportwagens. Der sich verkürzende Schal strangulierte sie; durch die Zugkraft erlitt sie wohl auch einen Genickbruch, so dass sie noch am Unfallort starb.“ (Wikipedia)
    Und:
    „Am 19. April 1913 starben beide Kinder [Duncans] bei einem Autounfall in Neuilly-sur-Seine, einem Vorort von Paris. Ihr Chauffeur hatte vergessen, die Handbremse anzuziehen, als er ausstieg, um den in einer Kurve abgestorbenen Motor erneut zu starten. Das Auto rollte in die Seine und die Kinder und das Kindermädchen, Annie McKessack Sim, ertranken.“
    Puh. Was für ein Schicksal.

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