Korrekturbedarf und kulturelle Verluste

Am Wochenende hatte ich unerwartet gleich zweifach mit dem Kolonialismus zu tun.

Denn zum einen sah ich, weil Ghana gerade in einem meiner Texte vorkommt, noch einmal nach, warum es eigentlich so viele Menschen aus Ghana in Hamburg gibt. Es ist die mit Abstand größte Gemeinde aus Afrika in dieser Stadt, es wird also eine Geschichte geben. Die Erläuterungen dazu führten dann bis zum Stichwort „Goldküste“, bis zur Kolonialzeit und bis zum Kakaohandel. Das ist zwar nicht die ganze Erklärung, aber sie erklären die Anfänge des Phänomens. Ich las dann eine Weile in den Informationen zu dieser nachwirkenden Vergangenheit.

Zu anderen, und da wird es radikal gegenwärtig, sah ich mir Videos zu agentischer Software an, also zum aktuellen Hype in der KI-Industrie. Diese Videos waren, wie es nun üblich wird, teils automatisch synchronisiert. Es schnarrten also teils etwas leblos wirkende deutsche Stimmen in großer Eile den Text herunter. Sie sprachen streckenweise stakkatomäßig, weil sie mit der Geschwindigkeit der englischen Tonspur mithalten mussten. Zwischendurch klang es wie damals das Vorspulen beim Anrufbeantworter, die Älteren erinnern sich wohl (was wir alles erlebt haben!).

Im Englischen heißen diese teils autonom agierenden Softwarevarianten Agents, und wenn man ein vollautomatisiertes Synchronsprechprogramm ist, dann versteht man dieses Wort nicht so gut, wie ich an diesem Nachmittag lernte. Dann spricht man vielleicht nicht, wie es im Deutschen korrekt wäre, von Agenten, sondern von Asiaten. Asians, Agents, da kann schon einmal durcheinanderkommen.

Weswegen mich diese Clips also in einer unfassbar trockenen und sachlichen Manier, die in fatalster Weise an den berühmten Mai-Ling-Sketch des Großmeisters Gerhart Polt erinnerte, lapidar darüber informierten, dass ich gewisse Arbeiten künftig auch durch meine eigenen Asiaten ausführen lassen könne. Die ich dann auch erziehen könne. Denen ich aber immer genaue Anweisungen mitgeben müsse und für deren korrektes Verhalten ich dadurch zu sorgen haben werde: „Ihre eigenen Asiaten werden nur machen, was Sie wollen.“

Man kann das erheiternd finden, der Rückblick zu Herrn Polt ist tatsächlich mit einer gewissen Dringlichkeit geboten. Man kann aber auch kulturkritisch feststellen, und Jüngeren wird es vielleicht ebenso unnötig wie auch unangenehm boomerhaft vorkommen, dass diese Fehler in den Tonspuren immer weiter vorkommen werden. Dass sie vermutlich niemand jemals korrigieren wird. Denn diese Art von Korrekturschleifen ist in künftigen Systemen schlicht nicht mehr vorgesehen, wie wir jetzt schon gut erkennen können. Solche Fehler sind dann einfach so, werden einfach so sein. Allgemeines Schulterzucken, fertig.

Wobei wir aber, das immerhin können wir durchaus für möglich halten, vielleicht im obigen Sinne bald alle unsere eigenen Asiaten haben werden, es gibt ja genug davon, die solche Fehler, die uns vehement und nachhaltig stören, aus unserer Online-Erlebniswelt einfach ausbauen werden. Noch bevor wir sie sehen oder hören können.

Okay.

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Kreideschrift auf dem Pflaster: "Be Wise"

Dieser Pflasterschriftzug kommt hier übrigens gerade in -zig Versionen im Stadtteil vor, ich habe Vorrat für viele Gelegenheiten.

Im etwas weiteren, aber doch gerade noch ableitbaren Zusammenhang empfehle ich Ihnen mit einer gewissen Dringlichkeit noch einen Podcast. In dem es schon wieder darum geht, dass wir ja nichts hatten, wir Älteren. Wir hatten nicht einmal Deep Reading. Denn unser damaliges und höchst gewöhnliches Lesen, das ist nun auf einmal das neu verschlagwortete Deep Reading von heute.

Was dann dazu führt, dass die Jüngeren um uns herum immer noch gründlicher anders ticken, als wir es ohnehin schon wahrzunehmen meinen. Sie denken auf eine fundamentale Art anders. Worüber ich mich gar nicht aufrege, Geschichte geht nun einmal weiter, aber vom Staunen hält mich diese Erkenntnis doch nicht ab.

Ein Thema jedenfalls, das kaum in seiner ganzen Bandbreite zu ergründen sein wird, aber interessant ist es allemal: „Lange Texte lesen und verstehen – wofür brauchen wir das noch?“ Der Titel ist ein wenig irreführend, es geht um wesentlich mehr. 30 Minuten Kultur-Doom am Montagmorgen, ich hatte auch schon einmal ein besseres Timing, ich weiß.

Für morgen dann doch einmal etwas Positives für den Tagesanfang finden. Da ginge vielleicht die Szene mit Ghana im Text. Ich schreibe einmal probeweise weiter daran.

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