Es ist bloß ein Trick

Einerseits war es überraschend und traf mich ärgerlich unvorbereitet, dass und wie mich dieser Montag unerwartet von hinten angefallen, brutal ins Alltags-To-Do-Gestrüpp am Wochenrand gezerrt und mich dort derart durchgenudelt hat, dass ich mir hinterher kurz geradezu trostbedürftig vorkam und mir einen Moment der Schwäche gönnte.

Andererseits bin ich aber erfahren genug, so etwas schlicht mit einem Mittagsschlaf zu heilen. Und war auch vor längerer Zeit ausreichend weise genug, also im Rahmen meiner eher bescheidenen Möglichkeiten, mein Leben so einzurichten, dass Mittagsschlaf möglich ist. Prioritäten, sie sind so wichtig.

Und, als Ergänzung zum stets wichtigen Bereich „Andererseits“, verfüge ich durchaus über Mittel und Wege, dem Monster Stress zu begegnen. Über mehrere verfüge ich sogar. Wie so ein Mensch, der alle Ratgeber gelesen und gut verstanden hat. Wie ein Mensch fast, der anderen raten könnte, jedenfalls hier und da. Ich nehme aber an, dass meine Lösungen nur für eine, wie sagt man, bemerkenswert eng gefasste Zielgruppe geeignet sind. Man muss am Ende wohl wie ich sein oder gar ich sein, um meine Methoden sinnvoll zu finden.

Und wer ist schon alles ich, nicht wahr.

Ich wollte nur eben sagen: Meine vor längerer Zeit schon entdeckte Vorliebe für das Wiederlesen von vor allem älteren Büchern, die mir erstens einmal etwas bedeutet haben und die zweitens auch darüber hinaus eine gewisse Bedeutung haben, in literarischer, philosophischer oder geschichtlicher Ausprägung, diese Vorliebe erweist sich immer mehr als überaus praktische und fast jederzeit anwendbare, dabei auch noch spottbillige Wellness-Maßnahme für stressige und wilde Zeiten.

Es ist eine Maßnahme, die schon unsere Vorfahren eingeführt und lange Zeit durchgetestet haben. Und nun denke ich, sie wussten tatsächlich, was gut war. Auch wenn sie natürlich nur mangels anderer Möglichkeiten darauf verfallen sind.

Einfach diesen Roman noch einmal anfangen, das Standardwerk, das man schon mitsingen kann, oder den Gedichtband erneut aufschlagen, in dem einen nichts mehr überraschen kann. Vom bloßen Deep Reading unserer Jugend zum Very Deep Reading des älteren Erwachsenen also. Es wirkt bei mir. Ich kann mir, auch wenn Sie das Beispiel vielleicht gleich ein wenig albern finden werden, zum zwanzigsten Mal eine Stelle von R. L. Stevenson durchlesen oder vorlesen lassen, etwa den Anfang der Schatzinsel, und ich entkomme schon nach wenigen Minuten auf seltsame Art der Geschwindigkeit und auch den Belastungen unserer Zeit.

Es hat etwas an sich, dieses Wiederlesen, das den Moment verstetigt und die Stunde neu chronifiziert. Als würde die digitale Anzeige der Uhrzeit am Bildschirmrand gegen das langsam schwingende Pendel einer alten Standuhr getauscht.

Es ist bloß ein Trick. Aber es ist eben ein Trick, der funktioniert. Und was ist am Ende nicht nur ein Trick, wenn wir alle unsere schlau zusammengesuchten Maßnahmen zur Lebensbewältigung einmal kritisch inspizieren. Aber wo kommt man da gedanklich hin, wir müssen hier abbiegen.

Eine Straße am Hamburger Hafen im Nebel

Eine Geschichte lese ich jedenfalls, in der uns jemand etwas erzählt. Der dabei berichtet, dass er eine Geschichte gelesen hat, in der wiederum eine Geschichte erzählt wurde, in der jemandem erzählt wurde, dass es da eine alte Geschichte gibt, die sich aus verschiedenen Berichten zusammensetzt, und zwar wie folgt …

Das ist die Anfangskonstruktion von Storms Schimmelreiter, das ist der einigermaßen grandios konstruierte Einstieg. Ich sehe mir die Seiten noch einmal an, weil ich diesen Anfang besonders gerne mag, auch weil ich Theaterkarten für das Stück habe, das auf dem Roman beruht, und weil ich schließlich denke, dass Storm einfach nicht genug für dieses Konstrukt gewürdigt worden ist.

Dieses Erzählkonstrukt, bei dem er hoffentlich einen Heidenspaß gehabt hat. Und bei dem wir uns vorstellen können, wie er da in seinem Arbeitszimmer in Husum saß und vielleicht – genau wie ich eben! – diese Ebenen der Rahmenerzählungsverschachtelung zwischendurch noch einmal absichernd an seinen Fingern abgezählt und dann zufrieden genickt hat.

Dann geht es wieder. Wenn ich gedanklich erst bei so etwas gelandet bin, dann wird fast alles wieder etwas einfacher und auch langsamer. That was easy!

Und ich habe auch nur ein paar Jahrzehnte gebraucht, um diese feine Methode der Entspannung zu finden und um sie souverän und fast jederzeit anwenden zu können.

Geht doch.

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6 Kommentare

  1. Mein Musterbeispiel in literaturwissenschaftlichen Einführungsseminaren, um die Hierarchie von Erzählebenen und die zugehörigen Fachbegriffe zu besprechen … („Wieso müssen wir all diese Begriffe lernen?“ – „Dann versuchen Sie doch bitte mal, mir ohne diese Begriffe zu erklären, was hier narrativ abgeht.“). Ich bevorzuge da die klare Terminologie von Wolf Schmid (primärer, sekundärer, tertiärer … Erzähler) gegenüber dem wilderen Kram von Genette (extradiegetischer, intradiegetischer, metadiegetischer, metametadiegetischer usw. Erzähler).

  2. Ich nenne es Comfort Reading und mache es regelmäßig. Und ich sehe auch eine Verwandschaft zu Hitchcock, der ja erzählte, daß er mehrfach, wenn ein Film nicht so gut ankam oder er ihn nicht für gelungen hilet, „run for cover“ gemacht hat, also einfach etwas, von dem er wußte, daß ers konnte.

    Spaß an Erzählebenen kann man auch haben mit „Die Handschrift von Saragossa“, ich habe immer noch den Plan, eines Tages ein hübsches Schaubild zu gestalten mit all den Geschichten und wer sich jetzt in welche verirrt.

  3. Zu den alten Büchern hier folgender Auszug ( den ich sehr liebe und der mir dabei in den Sinn kommt). Aus dem sogenannten “ Vorsatz“ des Zauberbergs von Thomas M.:
    […….] “ Diese Geschichte ist sehr lange her, sie ist sozusagen schon ganz mit historischem Edelrost überzogen und unbedingt in der Form der tiefsten Vergangenheit vorzutragen. Das wäre kein Nachteil für eine Geschichte, sondern eher ein Vorteil. […..] Sie ist viel älter als ihre Jahre, ihre Betagtheit ist nicht nach Tagen, das Alter dass auf ihr liegt nicht nach Sonnenumläufen zu berechnen. Mit einem Worte: Sie verdankt den Grad ihres Vergangenseins nicht eigentlich der Zeit Eine Aussage, womit auf die Fragwürdigkeit und eigentümliche Zwienatur dieses geheimnisvollen Elements im Vorbeigehen angespielt sei. […..] Aber ist der Vergangenheitscharakter einer Geschichte nicht desto tiefer, vollkommener und märchenhafter, je dichter *vorher* sie spielt ? Zudem könnte es sein, dass die unsrige mit dem Märchen auch sonst, ihrer inneren Natur nach, das ein und andre zu schaffen hat.“

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