Währenddessen habe ich doch wieder ins gedruckte Buch zurückgefunden. Disziplin, Zusammenriss und eigene Vergatterung, man muss sich ab und zu auch beikommen können. Ja, man sollte sich von Zeit zu Zeit selbst so begegnen, wie Heinrich Manns Professor Raat seinen Schülern damals begegnete. Man sollte sich vor dem Spiegel also in aller Strenge aufsagen: „Sie treiben Nebendinge! Ich werde Sie fassen, wo immer ich es vermag!“
Und es sich dann auch noch glauben und exekutieren, versteht sich.
Ich lese also abends und auch sonst Virginia Woolfs Orlando interessiert weiter. Dabei verstehe ich nicht recht, was man daran nicht verstehen kann, was aber, böse Falle, selbstverständlich auch heißen kann, dass ich es nicht verstehe. Es ist kompliziert.
Ich amüsiere mich bei den Szenen, in denen seine (die geschlechtsfluide Hauptfigur ist in diesem Kapitel noch ein Mann) exzessiv ausgelebte Lese- und Schreibsucht geschildert wird. Denn die Beschreibungen dieses Suchtzustandes bleiben über alle Mediensüchte und über all die Jahrzehnte hinweg verlässlich erhalten, sie ähneln sich sogar über die Grenzen von Prosa und Sachbuch hinweg. Bis heute, bis hin zum Smartphone, wiederholen sich einige Wendungen.
Das mindert keine Smartphonesucht, die es zweifelsfrei gibt und die ich nicht geringschätze. Aber es ergänzt doch selbst bei eigener Betroffenheit etwas historischen Charme. Was bei allem auch nicht unwichtig ist.
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Währenddessen gab es ferner wieder einmal eine Demo in dieser Stadt. Eine ausdrücklich stadtbildbelebende Veranstaltung war es. Welche, und da möchte man fast etwas lokalpatriotisch werden, trotz Regen und Wind und überhaupt trotz Jahreszeit bestens besucht war.
Läuft bei uns, und sei es als Demonstrationszug.

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Wie bereits erwähnt, bin ich ansonsten saisonal bedingt wieder aufnahmefähig für Klassik, was bei mir meist zusammenfällt mit der Aufnahmebereitschaft für Weihnachtssüßigkeiten etc. Wodurch sich im Laufe der Jahre eine etwas seltsame assoziative Verknüpfung verfestigt hat, denn die Herren Bach oder Händel etc. klingen für mich nach Lebkuchen und Glühwein. In der Hamburger Innenstadt, fällt mir dabei ein, mehren sich nun die Anzeichen für das Anbringen der ganz großen Weihnachtsdeko und auch schon für den Aufbau der Weihnachtsmärkte. Ich sah die ersten Hinweisschilder, wir schreiten voran.
“Und irgendwer hält immer die Glühweintrinkerfahne hoch“, sang Sven Regener einst treffend.
Ich sehe nach, welche Kantate zum gestrigen Sonntag gehörte, ich mag solche Systeme. Das hat etwas mit dem Kirchenjahr zu tun, womit ich mich nicht ansatzweise auskenne. Es war, wenn ich da nicht gerade in die Irre gehe, der 19. Sonntag nach Trinitatis, eine Bezeichnung, die mittelalterlich feierlich klingt, wenn man nicht daran gewöhnt ist. Ich lese Trinitatis nach, weil meine Allgemeinbildung da bedenklich zu schwächeln scheint. Aber ich merke beim Lesen schon, ich werde es mir wieder nicht merken können.
Es ist wie mit Fronleichnam: Ich kann es in jedem Jahr erneut nachlesen, was das ist, ich habe einfach keinen Speicher dafür frei.
Die Kantate zu diesem Sonntag, man kann das hier im Verzeichnis der Kantaten nachsehen, welches ohnehin unterhaltsam ist und gleichzeitig beruhigend wirkt, ist jedenfalls eine, die man mit einer gewissen Andacht hören kann, auch als nichtreligiöser Mensch. Nämlich dann, wenn man an den unaufhaltsam heraufziehenden Montag denkt: „Wo soll ich fliehen hin.“
Ich meine, wer würde das an einem Montagmorgen nicht gelegentlich denken. Der 5. Satz hat einen Titel, den man bei Meetings und Calls gut mitdenken kann: „Verstumme, Höllenheer“, und der 6. Satz bringt einen dann wieder auf den Teppich, wenn man zum Feierabend hin erkennt, was man bewirkt hat und was man morgen bewirken kann: „Ich bin ja nur der kleinste Teil der Welt.“
Es wird uns hier freundlich vorgeorgelt, das Kantatenmotiv:
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Ach ja, Orlando! Als Studentin war das für mich eine wunderbare literarische Entdeckung, die mich sehr geprägt hat (z.B. bei der Wahl des Themas für meine Magisterarbeit).
Bach & Co. mag ich das ganze Jahr über (singend und hörend) Und ja: oft passt es auch für mich zu weihnachtlichen Geschmackseindrücken. Im Moment proben wir im Chor mal wieder das „Magnificat“ für zwei Konzerte am dritten Adventswochenende.
Einen guten Überblick übers Kirchenjahr und die Themen jedes einzelnen Sonn- und Feiertags bietet übrigens https://kirchenjahr-evangelisch.de/