Die Mehrheit von Ihnen wird heute keinen Feiertag haben. Aber die Menschen in Hamburg geben sich verhaltensauffällig und tun so, als hätte der Reformationstag eine tiefe, zu würdigende Bedeutung für sie. Und warum auch nicht, andere tricksen mit anderen Feiertagen und Festen. Es gibt nach wie vor gewisse Bundesländer da unten (der Autor fuchtelt unwillig in Richtung Südelbien), in denen es zwei Feiertage mehr im Jahr gibt. In jedem Jahr. Ungerechtigkeiten überall.
Während ich am selbst für mich allzu frühen Morgen im Badezimmer vor dem Spiegel stehe, nach einer Woche, in der es nennenswert zu wenig Schlaf und deutlich zu viel von nahezu allem anderem gab, während ich da also stehe und mich noch bemerkenswert gedankenlahm frage, wie müde und verbraucht ein Mensch an einem Feiertagmorgen aussehen kann, shuffelt mir das so oft trostreiche Smartphone die passende Textzeile aus einem Song zu:
„We are ugly, but we have the music.”
Nicht schlecht, Zufall, denke ich da anerkennend und immerhin auch dezent amüsiert, wirklich nicht schlecht.
Es ist ein Lied, welches mir am Herzen liegt. Schon wegen der Zeile „You told me again, you preferred handsome men, but for me you would make an exception.“ Welche mir in nahezu wörtlicher Übereinstimmung in diesem Leben bereits begegnet ist: Man macht was mit und kein Tag ohne Demütigung, es treffen beide Regeln zu.
Ich weiß bis heute nicht, ob es sich dabei damals um ein halbwegs witzig gemeintes Zitat handelte oder um ein lediglich zufällig mit dem Songtext übereinstimmendes, wahr empfundenes Statement. Ich tendiere aber zu der zweiten Deutung, versteht sich.

Längst habe ich keinen Kontakt mehr mit jener, es gibt keine Möglichkeit der späten Aufklärung. Wobei späte Aufklärungen, so jedenfalls mein Verdacht, ohnehin eher kategorisch nicht anzustreben sind und Wiederbelebungen aller Art eher unterbleiben sollten. Womit ich mich textlich auf einmal unerwartet Halloween und den Untoten annähere, was macht das Unterbewusstsein da nun wieder.
Wiederbelebungen jedenfalls, wie sie etwa Tom Waits in „Martha“ so berühmt und selbstverständlich auch so schön und rührend besungen hat, sie sollten in Songs bleiben. Da gehören sie hin, da klingen sie romantisch, da haben sie eine Chance und einen Wert.
Er ruft die alte Liebe an, und „It’s been forty years …“, hören wir – meine Güte, überlegen Sie mal. Vierzig Jahre. Lass bloß die Finger von dem verdammten Telefon, möchte man da doch mit Vehemenz raten.
Es gibt ein todtrauriges Cover dieses Songs von Mick Flannery, treffend und angemessen, das depressive Element stark betonend.
Oder aber man interpretiert es ganz anders, wie etwa Sam Harris hier, bühnentauglich, theatralisch und dabei nicht weniger verzweifelt:
Ich habe, aber das erzählte ich bereits einmal, die große, die aus jugendlicher Sicht ganz große Liebe von vor langer, langer Zeit beim Wiedersehen in einem größeren Kreis nicht einmal erkannt. Und sie dann im Gespräch irgendwann wie irgendeine Fremde nach ihrem Namen gefragt. Ich wäre in den Minuten danach an der Peinlichkeit gerne gestorben, und ich finde es, obwohl es mittlerweile auch schon wieder Jahre her ist, immer noch schmerzhaft. Es hat mich von allen Wünschen, solche Anrufe jemals zu tätigen, gründlich geheilt.
Beachten Sie, wenn wir schon dabei sind, bitte auch die selbstverständlich unschlagbare Originalversion des Liedes von Tom Waits. Er war erst 23 Jahre alt, als er es schrieb und aufnahm. Dann die Version von Tim Buckley, in der die zeitliche Distanz auf etwas überschaubarere zwanzig Jahre verkürzt wird. Sowie, besonders nuancenreich, Bette Midler, bei der aus dem singenden Tom Frost kurzerhand Betsie Frost wird.
Auf den Plätzen ferner Lee Hazlewood, der sowieso allem eine besondere Note gibt, und Freddie White, bei dem man etwas Irland aus dem Tonfall heraushören kann.
Es ist aber, wenn man erst einmal anfängt, sich damit zu beschäftigen, ein ganzes Genre, das sich auftut. Wenn man über Songs nachdenkt, die sich mit Anrufen in die Vergangenheit beschäftigen, könnte man auch einmal eine Playlist dazu anlegen.
Ein Genre ist es, in das dann in einem weiteren Sinne auch Adele mit „Hello“ gehört: „But I ain’t done much healing“. Wer hat das schon, Adele, wer hat das schon.
Oder die neulich erst verlinkte Laura Marling mit der Gegenposition in „Caroline“, die als Angerufene singt. Mir fällt gerade keine andere Version ein, in der es so gedreht wird: „I‘d like you not to call again.“ Eine vernichtende Zeile, Laura Marling ist eine herausragende Texterin.
Was noch … Jim Croce natürlich, mit „Operator“, zeitlich und textlich nah an Tom-Waits-Song dran oder umgekehrt.
“Operator, well, could you help me place this call?
See, the number on the matchbook is old and faded,
She’s living in L. A. with my best old ex-friend Ray
A guy she said she knew well and sometimes hated.”
Die Älteren tauschen an dieser Stelle kurz wissende Blicke aus und erinnern sich angemessen wehmütig an handgeschriebene Nummern auf Streichholzschachteln und ähnlichem Material. Ach ja.
Die deutschen und französischen Versionen von Martha sagen mir nicht zu, aber ich schließe das Kapitel mit einem anderen großen deutschen Telefonsong, komplett mit Wählscheibengeräusch am Anfang und einem enorm anschlussfähigen Text, der die alles entscheidenden Zeilen enthält: Nämlich „Ab dafür“ und „Muss ja auch nicht.“
Ich gehöre da vielleicht einer Minderheit an, aber ich finde immer noch, Stefan Remmler („das einzige noch lebende Mitglied der Band“, wie die Wikipedia trocken anmerkt) hat als Texter ein paar sehr gute Momente gehabt.
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Ej, was für’n Gefummel mit dieser Link-Klickerei! (Hier einen entrüsteten Blick vorstellen)
Ich beantrage, dass, wenn du mehr als 2 Musikstücke verlinkst, du dazu gleich eine YT-Playlist mitlieferst.
Krickelkrackel, oberstes-Blatt-Abreißgeräusch, *aushändige*
(Schon das erste Lied gefällt mir außerordentlich. Ich kenne mich mit Musik so gar nicht aus, erinnere mich also beim Lesen an nichts, müsste mir alles anhören. Müsste.)
Eine Südelbien ist eine Biene, die rund um die Wabe den Honig verkleckert.
(Und dann hab ich nochmal richtig gelesen.)