Vor und nach der hellen Stunde

Eine unterhaltsame Instagram-Empfehlung ist der Account „Myartbroker“. Auf dem es eine ganze Reihe von Filmchen gibt, in denen eine Frau mit dem faszinierend filmreifen Namen Erin-Atlanta Argun in stets auffälliger Kleidung Passanten die immer gleiche Frage stellt. In einer überartikuliert klaren Aussprache, die man von Sprach-Cassetten aus den Siebzigern zu kennen meint: „Excuse me, can I ask you a question about art?“

Wird das bejaht, folgt stets: „If you could own any kind of art in the world, what would it be and why?

Es gibt dann selbstverständlich vorhersehbare, gewissermaßen brav und durchschnittlich anmutende Antworten, die bei Van Gogh, Monet, Chagall etc. landen. Bei all dem also, was man als Poster, Postkarte, Kalender und Bettwäsche überall kaufen kann, und ja auch nicht zu Unrecht. Ich will es nicht kritisieren, es ist vollkommen in Ordnung, Van Goghs Sonnenblumen anzubeten. Und es gibt erfreulicherweise keine Pflicht, einen cooleren Geschmack zu haben.

Es gibt aber auch etwas abgedrehte Antworten, die man dann vielleicht noch interessanter findet. Es gibt Verweise auf unbekanntere Kunstwerke und manchmal höchst persönliche Bezüge. Und es gab den einen Typen, der kurz überlegte, was wohl gerade am meisten wert sei – um das dann zu verticken und das Geld einzustreichen. Das halte ich für eine gut nachvollziehbare Fantasie.

Ein Aufkleber an einem Laternenpfahl "Moin Giorno", darüber angeklebte Strickblüten

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Am Sonntagmorgen erwischt auch mich die übliche norddeutsche Winter-Irritation. Der Zusammenhang zwischen Uhrzeit und Blick aus dem Fenster wirkte gegen halb acht am Morgen seltsam unplausibel. Gefühlt hätte es heller sein müssen, und gefühlte Wahrheiten, das wissen wir alle, gelten viel in unseren Zeiten, gelten mehr als fast alles. Vor dem Fenster aber sah ich weiterhin die Nacht in der unerbittlichen Novemberversion, eine schwarzgraue Decke über der Stadt, und nur funzelhaftes Fensterleuchten hier und da darunter.

Ich sah online nach, wann die Sonne aufgeht, und kam wieder zu meiner These, dass wir gemeinsame Wahrheiten verlieren. Denn ich fand auf Anhieb sechs (!) verschiedene Angaben zum Sonnenaufgang in Hamburg an diesem Tag. Früher, so möchte man da doch ausgesprochen boomerhaft und lebhaft krückstockfuchtelnd anmerken, früher stand diese Zeit jeweils kleingedruckt am Rand unserer Notizbuchseiten. Und wir haben die dann einfach geglaubt, das war dann eben so. Für alle! Denn dort stand es ja, guck!

Heute aber findet jeder irgendwo irgendwas. Die Wahrheit ist zu einem bloß noch geschätzten Mittelwert von Fundstellen herabgesunken. Einmal mehr und einmal weniger akribisch ermittelt, denn wer hat schon die Zeit, die Lust und die Kompetenz.

Im Wetterbericht tauchte währenddessen die erste Schneeflocke auf, wo sie sich allerdings noch rechts am Bildschirmrand im Unwägbaren verlor. Vielleicht aber muss ich mich ein wenig ranhalten mit meiner „Winter ohne Weihnacht“-Playlist.

Am Abend, also nach der gefühlt etwa einstündigen Helligkeit, hörte ich die ersten Silvesterraketen hinter unserem Haus. Als hätte ich zwischendurch ein paar Wochen verpasst, als hätte ich schon wieder zu konzentriert gearbeitet oder Musik gehört oder Gott weiß was gemacht. Aus Gründen jedenfalls nicht aufgepasst, man kennt das.

Kurz darauf heulten Wölfe in der tiefen Dunkelheit unten auf dem Spielplatz. Im besten Fall waren es Kinder, die dort in der Dunkelheit Wolfsrudel spielten, das Heulen dabei verblüffend gut trafen und auch lange durchhielten. Eigentlich zu lange für ein Kinderspiel. Im schlechtesten Fall war es eine schnelle Eskalation, denn neulich erst wurde wieder ein Wolf irgendwo am Stadtrand gesichtet. Nun schon ein Rudel in der Stadtmitte, das apokalyptische Szenario tritt da doch etwas deutlicher hervor.

Aber egal! Ich stand unbeeindruckt am kurz geöffneten Fenster und schloss es einfach wieder. Denn ich habe bildungsbürgerlich längst vorgebaut und irgendwo Tolstois berühmte Schneesturmgeschichte im Regal stehen. Ich müsste das Buch nur etwas suchen, ich weiß, dass es da ist. Vielleicht in zweiter Reihe, aber es wird doch zu finden sein. Ich sitze hier oben also auch in grimmen Novembernächten in Sicherheit und kann stets Passendes lesen, während draußen das Unheil dräut und heult und winselt.

Das Immerhin des Tages fiel damit wieder besonders günstig für mich aus, so können auch Novemberwochenenden in brauchbarer Weise enden. Von denen es ohnehin nur noch zwei geben wird, wir werden es wohl bewältigen können.

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