Neulich im Hauptbahnhof. Genauer in der Grand Hall. Als ich dort in der neuen Rolle des Percy Puddletree am frühen Abend etwas unwürdig Pizza essend herumstand und um mich herum wie üblich die halbe Stadt durcheinanderlief, habe ich überlegt, wer dort eigentlich auffällt. In dieser unüberschaubaren Masse der Vorbeieilenden. Unter den Passanten, im Volk, zwischen den Komparsen meiner erlebten Szenen. Das sind vielleicht weniger Menschen, als man zunächst denkt. Es sind etwa nicht jene mit gewissen körperlichen Besonderheiten. Es sind nicht große Leute, kleine Leute, dicke Leute, dünne Leute, wie es im Kinderlied heißt.
Nein, nach denen dreht man sich nicht um. Und es sind auch nicht die, welche gerade etwas machen. Selbst dann nicht, wenn sie weinen oder lachen, was beides nicht so häufig vorkommt. Die fallen mir vielleicht auf, weil ich auf so etwas genauer als andere achte, denn es könnte immerhin einen Text ergeben. Aber sonst guckt mit großer Wahrscheinlichkeit kein Schwein.
Wenn Sie im Hauptbahnhof auffallen wollen, wird es also vermutlich nicht reichen, dass sie einfach sind, wie sie sind. Ganz egal, für was Sie sich halten und wie Sie sich finden. So schön sind Sie in Wahrheit nicht, so hässlich sind Sie auch nicht, so wild fällt Ihr Bad-Hair-Day nicht aus, so seltsam sehen Sie ungeschminkt nicht aus und so schick haben Sie sich dann doch nicht gemacht. So charismatisch sind Sie nicht und vermutlich auch sonst einfach nicht seltsam genug. Nehme ich jedenfalls stark an.
Sie und ich, wir gehen da vielmehr einfach unter, in diesen zigtausend anderen Menschen, die blicklos um uns herum wimmeln.
Sie fallen aber auf, also so, dass man sich vielfach, hundertfach und öfter nach Ihnen umdreht, wenn Sie dort als offensichtlich zeitreisender Mensch auftauchen. Wie etwa jene Frau im Mittelalterkostüm, die man direkt von einem Marktplatz im 14. Jahrhundert hierher gebeamt zu haben scheint. Und die nicht nach dem üblichen und oft etwas lieblosen Mittelaltermarktkostümstandard aussieht, sondern seltsam echt. Es umgibt sie eine schwer zu beschreibende Wirkung, eine merkwürdige Aura, bei der man unwillkürlich denkt: „Moment mal …“
Oder wie die beiden Herren aus dem viktorianischen London, die sogar mehrere Gepäckstücke aus ihrer Zeit dabeihaben. Und die wirken, als seien sie soeben aus einem Dickens-Roman in diese Szene gefallen. Oder gerade noch im Versuch begriffen, diese Stadt auf einem Zwischenstopp bei einer abenteuerlichen Reise um die Welt zu besuchen, für die sie vielleicht nur achtzig Tage Zeit haben. Natürlich, da könnte der nahe Hafen eine Rolle spielen.
Für ein Reiseabenteuer allerdings wirken sie irritierend entspannt, und der eine stopft sich seine Pfeife geradezu aufreizend langsam. Sieht sich gelassen dabei um, mit einer Selbstsicherheit im Blick, wenn nicht sogar mit einem gewissen Klassendünkel, welcher dermaßen selbstverständlich wirkt, dass man sich auch bei dem fragt: Wie echt kann man denn bitte wirken?
Mir fällt beim Kauen und Gucken ein, dass man denken kann, was man will. Also beschließe ich, dass es echte Zeitreisende sind, diese drei sonderbaren Menschen. Und die Grand Hall im Hauptbahnhof ist also aus Gründen, die herauszufinden noch ansteht, offensichtlich eine beliebte oder aber auch notwendige Station bei denen.

Erst als ich wieder zu Hause bin, fällt mir ein, wonach ich in dieser halben Stunde nicht Ausschau gehalten habe. Wie ein bemerkenswert dummer Anfängerfehler im Denken kommt es mir im Nachhinein vor. Denn ich hätte doch die Menge weiter genau prüfen müssen, und zwar vor dem Hintergrund der leider nicht rechtzeitig von mir gestellten Frage: Wer kommt hier aus der Zukunft?
Das also demnächst nochmal abchecken. Und dabei lieber gut und mit aller Vorsicht überlegen, ob man die dann etwas fragt oder nicht, diese Menschen von morgen. Wobei – wenn ich die gar nicht finde, auch nach längerer Suche nicht, heißt das dann … Oh, oh.
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