Am frühen Donnerstagmorgen wollte sich mein privates Notebook lieber mit sich selbst beschäftigen als immer nur mit meinen Texten und Bildern. Jeden Tag die gleiche Leier, vielleicht muss ich dafür einfach Verständnis haben. Immerhin habe auch ich reichlich Erfahrungen mit der Ermüdung im festgefahrenen Alltag. Und wer hätte diese Erfahrungen nicht.
Das Gerät jedenfalls hatte gewissermaßen auf einmal einen Hang zur gemächlichen, entschleunigten Introspektion. Sich endlich einmal richtig Zeit nehmen. Reflexionen auch zulassen und in die Tiefe gehen. Im Grunde ist es auch erstrebenswert, man sollte sicher zustimmend nickend davorsitzen und Analogien bilden. Sollte man doch, nicht wahr.
Vielleicht hatte das Notebook sogar das, was die Erwachsenen in meiner Kindheit rätselhafterweise „Einen Moralischen“ nannten. Wenn ich damals etwas sah, was ich nicht sehen sollte, heulende Erwachsene oder deutlich deprimierte Menschen: „Die oder der hat einen Moralischen.“
Eine eher unerklärliche Floskel war das für ein Kind. Aber was meine Generation in dieser Phase des Lebens nicht alles so als selbstverständlich hingenommen hat, da wir doch davon ausgehen mussten, dass im weiteren Verlauf der Szene sowieso nichts mehr erklärt werden würde.
Das Notebook jedenfalls, es wollte – vielleicht nachdem es aus unruhigen Träumen erwacht war – noch einmal mit allem von vorne beginnen. Neu starten wollte es, und ich meine auch dazu: Wer kennt es nicht. Da mal mitfühlen, dachte ich also. Sich fallen lassen, alles schwarz werden lassen, einmal komplett herunterfahren. Das Dunkel kurz gewinnen lassen, wenigstens einen gnädigen Augenblick lang gar nichts wollen, machen und müssen – und dann neues Licht.
Es hat doch etwas!
Dann aber hatte das Notebook auf einmal vergessen, wer es war. Es wusste nicht mehr, wes Zwecks und mit welcher Funktion es existierte. Es erkannte auch mich nicht mehr, seinen engst verbundenen Menschen. Vermutlich ging es ihm in etwa so, wie sich der Mensch am nächsten Morgen nach einer wüst ausgearteten Party fühlt, nach stattgehabten Exzessen aller Art und experimentellem Drogenkonsum. „Malerisch die Gläser mit dem Lippenrot, dumm, dass man bei jedem Schritt zu kippen droht.“ Evelyn Künneke sang das einmal, aber die kennt vermutlich auch schon kein Mensch mehr. Schlimm.
Gibt es das Lied auf YouTube? Natürlich gibt es das auf YouTube.
Bei mir allerdings sind solche Nächte derart lange her, dass ich mich kaum noch daran erinnern kann. Ich habe nur noch eine vage Ahnung im Gedächtnis und weiß zuverlässig, dass ich bitte nie mehr im Leben einen Kater haben möchte. Was man aus solchen Lebensphasen so mitnimmt.
Dann fragte mich das Notebook zögernd, ob ich mir die alten Inhalte wirklich ansehen wolle. Also im Ernst, das ganze alte Zeug? Wobei alt ein recht unscharfer Begriff ist, wie mir scheint, immerhin ging es um die Inhalte von gestern. Ist gestern lange her, ist das Gestern alt? Da bringt einen die Bürotechnik morgens schon ins tiefe Grübeln, noch vor den ersten Anforderungen des Tages.
Die Dateien von gestern als überholtes Ich betrachtet; wer kommt da morgens um 5 Uhr geistig schon mit, noch vor dem dritten Kaffee.
„Wollen Sie neu starten?“, immer wieder fragte mich die Technik das. Etwas nervtötend oft. Auch beim Öffnen des Browsers und beim Anklicken sämtlicher Programme: Wollen Sie neu starten? Oder soll ich, und zwischen den Zeilen sah ich erstaunlich deutlich ein indigniertes ETWA, die alten Seiten erneut zeigen? Schon wieder? Auch heute? Und dann morgen noch einmal? Und noch einmal und noch einmal? Ad infinitum? Was soll das sein, unser gemeinsamer Alltag? Geht’s noch?

Es fehlte nur noch, dass mir das Notebook „Get a life“ als Systemmeldung einblendete, aber so weit sind wir Gott sei Dank noch nicht. Mit der Betonung auf „noch nicht“, denn wir leben nun im KI-Zeitalter. Auch das wird sicher kommen, die Beurteilung durch die eigene Technik. Irgendein durchgeknallter Nachfahre von Karl Klammer wird künftigen Usern mitteilen, dass sie, pardon, dann doch einfach zu langweilig seien und deshalb auf den Service durch diese Software verzichten müssen. Anschließend wird der Bildschirm schwarz werden, woraufhin die betroffenen User der Zukunft vermutlich einen Moralischen in einem bis dahin ungeahnten Ausmaß haben werden.
Aber so weit sind wir noch nicht, und das ist auch gut so. Noch bestimme ich hier, wer wem dient. Und ich ordne also z.B. an, dass die Technik mir bei diesem und jenem helfen soll.
Was sie auch gewiss demnächst tun wird. Ich muss nur eben noch, wie mir das System gerade noch einmal in endenwollender Freundlichkeit mitteilt, noch einmal neu starten. Was voraussichtlich etwas dauern wird. Aha.
Und deswegen, das wollte ich nur eben sagen, komme ich heute nicht dazu, einen Blogtext zu schreiben.
Es tut mir leid.
Ich drücke jetzt diesen Knopf.
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