Ordnung und Unglücksabwehrzauber

Zu den hier üblichen Jahresendmaßnahmen gehören diverse Aufräumprozesse. Unter anderem wird dabei mein Kleiderschrank auf Vordermann gebracht, mit nebenbei erfolgender und genauer Inspektion sämtlicher Taschen an Sakkos, Jacken und anderem Zeug. Was mir in guten Jahren auch noch etwas Geld einbringt, nicht aber in diesem besonderen Elendsexemplar von Jahr. Ich habe nach den letzten Monaten auch mit nichts mehr gerechnet. 2025 und ich, wir werden uns auf den letzten Metern nicht mehr versöhnen, so viel scheint mir festzustehen.

Ich konnte mich aber immerhin über eine Tüte Lakritz freuen. Die ich irgendwann trickreich vor den Söhnen in Sicherheit gebracht habe, indem ich sie in den Tiefen eines schwarzen Anzugs, farblich sinnig passend, sowohl vor dem Nachwuchs als auch vor mir selbst versteckte. Es sind die kleinen Freuden, denn es war teures und gutes Lakritz, in Würde gealtert.

Dann nahm ich mir noch meinen Rucksack vor. Nach einhelliger Meinung sämtlicher Herrenmodeexperten, Gentlemen-Topchecker und auch nach den überzeugt vorgetragenen Meinungen von Kennern der Materie wie etwa Hugh Grant oder Bill Nighy, die es doch wissen müssen, trägt man keinen Rucksack. Niemals. Ich weiß das, und ich trage ihn dennoch.

Mea culpa, mea pera, um kurz die Lateinerinnen unter Ihnen zu erfreuen.

Ich muss nämlich ein Notebook oder manchmal auch zwei durch die Gegend transportieren. Und ich muss dabei dauernd für vier Personen einkaufen, ich sehe da kaum eine andere Möglichkeit. Mit dem Hackenporsche möchte ich nur ungern ins Büro gehen, etwas Würde möchte man doch in den Augen der Kolleginnen noch behalten.

Und alles, was in irgendeiner Art Tasche ist, belastet die Muskulatur einseitig und ist daher strikt abzulehnen. Ich möchte mich für die Einkäufe nicht krummlaufen. Was macht man da, was bleibt einem an Möglichkeiten. Ich kann mir schlecht einen Träger nehmen, denn wie retro oder gar kolonial würde das wirken? Wobei es vielleicht nur noch wenige Umdrehungen der Welttrends braucht, bis wir auch da wieder ankommen werden, nehme ich mittlerweile an.

Übrigens bin ich so alt, ich habe noch Gepäckträger an Bahnhöfen erlebt, fällt mir dabei gerade ein. Menschen, die beruflich Koffer getragen haben, man kann es sich kaum noch vorstellen. Manchmal muss ich kurz überlegen, ob bestimmte Bilder wirklich meine eigenen Erinnerungen sind – oder doch eher Szenen aus uralten Dokumentarfilmen, noch ruckelig in Schwarzweiß gedreht.

In meinem Rucksack gibt es jedenfalls Fächer, die habe ich seit Jahren nicht aufgemacht. Darin befanden sich z. B. etliche Masken, noch aus der Hochphase der letzten Pandemie. Als wir sie alle dauernd getragen haben. Nicht nur zwei oder drei Masken, nein. Bedeutend mehr, ein wahrer Schatz. Also je nach Situation.

Dazu, und da geht es wieder in die Vergangenheit, etliche Schnürsenkel verschiedener Art und zwei Paar Strümpfe. Das geht auf ein seltsames Jahr zurück, in dem ich seriell Pech mit gerissenen Schnürsenkeln und der Verbindung von Pfützen und nassen Strümpfen hatte. Das hat sich seitdem nie so wiederholt, aber ich habe eben vorgebaut. Und außerdem damals meine Meinung verfestigt, dass es im Laufe des Lebens die allerseltsamsten Themenjahre gibt. Auf eine wenig nachvollziehbare und auch kaum glaubwürdige Art.

Außerdem waren in dem Rucksack noch Tintenpatronen, Notizhefte und -bücher sowie Schreibgeräte in fast peinlich großer Zahl. Würde man diesen Rucksack ohne mich auffinden, man könnte ohne Weiteres ableiten, dass er jemandem gehören müsse, den die permanente Angst umtreibt, etwas nicht aufschreiben zu können. „Na und!“, sage ich da und hebe das Kinn trotzig ein wenig an. „Es gibt schlimmere Ängste, und sehen Sie, die habe ich alle nicht.“

So.

Eine angebissene Salami in einem wenig erfreulichen Gesamtzustand fand ich außerdem, deren Herkunft ich mir nicht recht erklären kann. Es war keine Sorte, die ich essen würde. Und schon gar nicht würde ich sie in das Fach stecken, in dem ich sie fand. Aber einen Verdacht konnte ich doch spontan entwickeln, denn vermutlich wollte vor langer Zeit ein Sohn seinen Snack dort kurz parken, auf einem Ausflug in den Zoo oder dergleichen.

Eine Packung Feuchttücher, die dort schon sehr lange sein muss, denn seit wie vielen Jahren haben wir so etwas gar nicht mehr im Haushalt oder sonst zur Hand? Sie ist dort auch nur, ich weiß es in diesem Fall genau, weil ich einmal, als die Söhne schon längst aus dem Feuchttuchgebrauchsalter heraus waren, mit der S-Bahn fuhr und eine Mutter im Sitz mir gegenüber ein Baby auf dem Arm hatte, welches sich mit Schwung auf ihr Sommerkleid erbrach. Wonach ich ihr ebenso routiniert wie ritterlich Feuchttücher aus meinem Vorrat reichen konnte, was sie sehr erfreulich fand und sich dann derart begeistert bedankte – wäre sie eine verlassene Mutter gewesen und ich alleinstehend, wir hätten uns auf genau diese Art kennengelernt, zumal sie äußerst sympathisch aussah. Ich erkenne Muster und Drehbücher, wenn ich sie sehe.

Und eben weil sie sich damals so gefreut hat, habe ich mir gedacht, behalte ich mal eine Packung bei mir, denn wer weiß. Es war allgemeine Vorsorge, weswegen auch das Taschenmesser daneben lag, sowie die Kopfschmerztabletten, die Pflaster und die Medikamente gegen Übelkeit und Halsschmerzen. Was man so braucht. Oder was man meint, irgendwann brauchen zu können, denn offensichtlich habe ich das alles nicht gebraucht.

Weil ich es eben jederzeit dabeihatte, wie man an dieser Stelle lebensratgebend und fast schon altersweise ergänzen kann. Die Prophylaxe als Unglücksabwehrzauber betrachtet! Es ist kein Aberglaube, es ist lediglich die Summe der Erfahrungen.

Und dann war da noch, in einer kaum zugänglichen Falte im Boden des Rucksacks, die mir vorher noch nie aufgefallen war, der zweite Autoschlüssel. Den wir seit Jahren vermisst und im Familienkreis vor einigen Sommern in einem Urlaub lange und intensiv gesucht haben, unter Austausch wüstester Anschuldigungen. Welche nun aber alle längst verjährt sein werden.

Ich habe den Schlüssel dann nach dem Abspulen dieser Erinnerungen milde lächelnd dorthin zurückgetan. Denn ich weiß ja jetzt, wo er ist, und der Platz scheint ausreichend sicher zu sein.

Doch, doch, ich finde es sehr befriedigend, am Jahresende aufzuräumen. Immer wieder.

Blick auf die Außenalster vom Ufer an der Kennedybrücke aus, im Vordergrund ein Rettungsring im Haltegestänge, darunter Herbstlaub

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