Urlaubslektüre, Abschlussbericht zur korrekten Pflege der Chronik

In diesem Text geht es heute ausschließlich um konsumierte Literatur. Wenn Sie das nicht interessieren sollte, schalten Sie bitte morgen wieder ein, dann finde ich wieder andere Themen. Glaube ich.

Ich hörte auf den Urlaubsspaziergängen noch einmal den Stechlin von Fontane (ARD-Audiothek, es liest Hans Paetsch), obwohl ich den Roman dank mehrfacher Lektüre im Laufe des Lebens schon mitsingen kann, wie man so sagt. Das Buch ist aber Bestandteil meiner geistigen Heimat, seelisches Wohlfühlmobiliar. Dann darf ich es auch nahezu jährlich konsumieren, habe ich beschlossen.

Bei jedem Durchgang merke ich, dass ich zumindest gefühlt immer weiter auf manche der wohlig-resignativen, vergnügt-fatalistischen Haltungen des alten Dubslav Stechlin hinlebe. Dass ich seine Erkenntnisse mit jedem Jahr immer öfter und immer eindeutiger zitierwürdig finde: „Unanfechtbare Wahrheiten gibt’s überhaupt nicht. Und wenn es welche gibt, dann sind sie langweilig.“

Oder hier, seine eindeutig schönere Variante meines so oft wiederholten „Man macht was mit“: „Man muss eben allerhand über sich ergehen lassen.

Davon abgesehen könnte man allein mit dem Stechlin von Fontane und dem Zauberberg von Mann so viel deutsche Geschichte erklären – schon diese beiden Bände ersetzen aus meiner Sicht ganze Regalmeter Geschichtswissenschaft, denke ich immer wieder. Auch deswegen kann man sie mehrfach konsumieren.

Ich las dann, vollkommen unpassend zum Stechlin, „Die Interessanten“ (Wikipedia-Link) von Meg Wolitzer, Deutsch von Werner Löcher-Lawrence. Und fand das Buch so ansprechend, dass ich es ohne jede Boshaftigkeit und Abwertung als „gut für den Urlaub“ beschreiben würde. Viele Figuren, lange, lebensumspannende Handlungsbögen, wie man sie auch von Irving kennt, sinnige Spiegelungen gesellschaftlicher Themen im Privaten, ein behaglich mildes Ende … das passte schon.

Vor allem aber freute ich mich dabei, und freute mich sogar sehr, mal wieder einen Wälzer konsumiert zu haben. Es ist eine so ausgesprochen schöne Sache, ein gelesenes und sogar dickes Buch wieder wegzulegen. Längst war ich mir in den letzten und außergewöhnlich arbeitsreichen Monaten viel zu schlecht geworden in dem, was ich stets für meine andere Kerndisziplin neben dem Schreiben halten möchte, also dem Lesen.

Diese paar wenigen Seiten am Abend, die ich gerade eben noch geschafft habe, stets schon erschöpft wegdämmernd … Kaum habe ich noch wahrgenommen, worum es überhaupt ging. Innerlich schon nach Minuten wieder wegklappend, direkt nachdem ich das Buch aufgeschlagen hatte. Es war doch ein erbärmliches Szenario, welches ich da bot, das sollte so nicht mehr weitergehen. Damit ging ich vor mir selbst kaum noch als Leser durch.

Dieses unschöne Unvermögen, mehr als zehn, zwanzig Seiten am Stück zu lesen, fing an, wichtige Teile meines Selbstbildes ernsthaft zu bedrohen. Als eher konservativer Mensch möchte ich in meinen wesentlichen Eigenschaften aber stets und nach Möglichkeit verlässlich bleiben. Und zwar innerhalb meiner Komfortzone und wie gewohnt.

Ich beschloss daher, anders zu lesen. Daraufhin las ich abends nicht mehr liegend im Bett, sondern fing sitzend auf dem Sofa an. Ferner setzte ich mir ein Ziel. Weil ich ein eher schlichter Mensch bin, der auf selbstgesetzte, messbare Mikroziele seltsam gut anspricht. So albern und lebenshilferatgebermäßig das auch klingen mag. 50 Seiten, so dachte ich mir, das könnte doch eine vernünftige Buchseitenmenge pro Tag sein.

Das hat dann auch einwandfrei funktioniert. Ab diesem Moment sah ich das Lesen wieder deutlich sportlicher, blieb stoisch und halbwegs ehrgeizig einfach dran. Schaffte prompt an mehreren Tagen nacheinander 50 Seiten und bald auch mehr. Dabei wurde, was kein Wunder ist, das Lesen auch wieder wesentlich interessanter. Weil bei 50 Seiten und mehr im Kopf eben signifikant mehr passiert als auf bloß zehn Seiten. Die viel zu wenig wecken können an Assoziationen, Vorstellungsvermögen, Musterverständnis, Personenerinnerungen, Verständnis für Handlungsbögen etc. Der Film im Kopf ruckelt doch sehr, wenn man bei der Prosa nur allzu kurze Strecken liest.

Na, wie auch immer. Ich liebe es jedenfalls, wenn ein Plan funktioniert.

Die „Gerettete Zunge“ von Elias Canetti habe ich danach gelesen, den einigermaßen unvorstellbaren Bericht über seine Kindheit. Danach habe ich in der Wikipedia ungern zur Kenntnis genommen, was man gegen seinen Charakter eventuell einzuwenden hat, und bin, aber nicht deswegen, noch nicht sicher, ob ich auch die beiden weiteren Teile seiner Lebensbeschreibung noch lesen werde. Das mal später entscheiden.

Dann las ich mit erheblichem Vergnügen „Wiedersehen in Howards End“ von E. M. Forster, Deutsch von Egon Pöllinger. Es ist mir etwas rätselhaft, dass ich dieses Buch noch nicht kannte und sogar den Film damals (1992) verpasst habe, aber angenehm war es so. Und tröstlich war es außerdem, dass es verlässlich so bleiben wird.

Nie werde ich durch sein, nie werde ich auch nur alles das gelesen, gesehen oder gehört haben, was ich dringend noch konsumieren möchte. Von dem ich schon weiß, dass es mir mit hoher Wahrscheinlichkeit gefallen wird. Was mich also sicher interessiert und nach dem ich ein gewisses Verlangen habe. Vom vermutlich immerhin mittelguten, mittelinteressanten, riesigen Rest und vom unermesslichen Meer des vollkommen Unbekannten, Überraschenden, welches es womöglich ebenfalls wert wäre, von mir entdeckt zu werden, ganz zu schweigen.

Im Grunde ist es doch ein Schlaraffenland, die Literatur. Oder überhaupt die Kultur. Da hat man es wenigstens in einem Lebensbereich doch gefunden, wenn man es recht bedenkt. Und frisst sich also genüsslich durch den unendlichen Vorrat an süßem Brei, bis man platzt.

Schön, schön.

Dann habe ich einen schmalen Galsworthy passend zum Forster nachgelegt: „Das Herrenhaus“ (Verlagslink), Deutsch von Lise Landau und Leon Schalir. Galsworthy rutscht auf dem deutschen Markt allmählich ins Vergessen, zumindest nach den Regalen in der großen Buchhandlung zu deuten, in der ich im Urlaub mehrmals war. Das halte ich für bedauerlich, denn Galsworthy macht immer noch Spaß, und seine Forsyte-Saga ist nach wie vor grandios, eine unbedingte Empfehlung. Er war, was die Gesellschaft betrifft, ein seltener Topchecker. Auch aus heutiger Sicht.

Gleich hinterher gab noch den nächsten Forster, „Zimmer mit Aussicht“, Deutsch von Werner Peterich. Es war mir ein Fest, ein großes.

Um halbwegs in Zeit und Stil zu bleiben, ging ich dann zu Somerset Maugham über und las drei seiner größeren, bekannteren Romane weg, die hier noch herumlagen und die mir teils schon bekannt waren, aber nicht mehr recht erinnerbar. Wieder war ich nachhaltig beeindruckt von seinem Talent, eine Erzählung voranzutreiben.

Es gab „Auf Messers Schneide“, Deutsch von N. O. Scarpi (Wikipedia-Link dazu). Einer der ersten Aussteiger-Romane war das, inklusive des später so oft in der Literatur und in Filmen thematisierten Trips nach Indien und dem langen Aufenthalt bei einem Guru dort, zum Zwecke der Erkenntnis von allem.

Anschließend „Silbermond und Kupfermünze“, Deutsch von Susanne Feigl, wieder ein Wikipedia-Link. Sein Roman über eine Figur in Anlehnung an Paul Gauguin, für alle Kunstinteressierten empfehlenswert. Mit einer der interessantesten, strikt und durchgehend unsympathisch bleibenden Hauptfiguren, an die ich mich erinnern kann. Das hat man beim Lesen nicht so oft, dass man bei gewissen Figuren denkt: Die fällt wirklich raus, und zwar fast aus allem, die ist anders. Also ganz anders.

Und zum Schluss las ich noch „Theater“ (Wikipedia), Deutsch von Renate Seiler und Ute Haffmanns. Ebenfalls mit einer begrenzt sympathischen, diesmal weiblichen Hauptfigur, die aber beneidenswert plastisch und glaubwürdig vorgestellt wird. Allerdings kam mir beim Lesen immer wieder der aus der Wikipedia aufgenommene Gedanke in die Quere: Dieses Buch wurde mit Lili Palmer verfilmt. Ich finde solche Kenntnisse manchmal enorm störend.

Als Hörbuch gab es noch versuchsweise Rilkes „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ aus der ARD-Audiothek. Aufzeichnungen, mit denen ich aber auch im xten Versuch nicht warm werde. Nicht einmal dann, wenn sie von Gert Westphal gelesen werden, und das will etwas heißen. Manche Bücher sind nicht für einen gemacht, man muss es dann auch einsehen.

Also wechselte ich zum Jahrmarkt der Eitelkeit von William Makepeace Thackeray. In einer gekürzten Fassung gibt es das ebenfalls in der ARD-Audiothek, gelesen von Percy Adlon. Gekürzte Fassungen schrecken manche Menschen stark ab, ich weiß. Es gibt aber durchaus Werke, da kommt mir das entgegen. Ich möchte vielleicht gerne einen ausreichenden Eindruck davon haben, aber ich möchte nicht gerade Wochen damit verbringen.

Ein ausgesprochen gehässiges Buch ist dieser Roman, in den Schilderungen der diversen Figuren erkennt man boshafteste Karikaturen. Und wenn man beim Hören durch die belebte Innenstadt geht, so wie ich es oft mache, sieht man verblüffend oft Passendes in der Mimik und Gestik der Passantinnen und Passanten, die einem entgegenkommen. Weil sich so etwas wie Hoffart, auch ein leider bereits verschwundener Ausdruck, sowohl zu viktorianischen Zeiten in London als auch heute in Hamburg ganz selbstverständlich in Gesichtern und Körperhaltungen abbildet.

Mitunter waren die Typen, die ich beim Hören dieses alten Textes leibhaftig in der Gegenwart vor mir sah, dermaßen korrekt zur vorgelesenen Darstellung passend – es war fast schon eine eigene Kunstform.

Farbe und Kreide auf dem Pflaster, eine gemalte Sonne und der Text: Lieb sein.

***

Und dann war der Urlaub auch schon vorbei. Kaum liest man ein paar Seiten und gewöhnt sich wieder daran, mit und in Büchern zu leben, schon sind drei Wochen um.

Schlimm.

***

Sie können hier Geld in die virtuelle Version des Hutes werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch. Die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

2 Kommentare

  1. Wie schön. Beim Lesen finde ich mich wieder, ich kämpfe dann auch manchmal – vor allem, wenn ich wieder versuche, gedruckte Bücher zu lesen. E-books sind irgendwie einfacher für mich (was ein wenig an meinen Augenproblemen liegen mag). Aber auch ich komme mit solchen Zielsetzungen ganz gut voran und habe es in den letzten Wochen geschafft, das ein oder andere zu lesen – u.a. Folletts Jahrhunderttrilogie.
    Den Stechlin liebe ich selbst sehr, wie Fontane überhaupt. Vielleicht ist mir „Vor dem Sturm“ fast noch lieber …
    Vanity Fair (sorry, ich lese meist englische Originale, schon aus Kostengründen) habe ich früher immer wieder gelesen – lange nicht mehr, sollte ich vielleicht mal wieder. Im Moment steht mir der Sinn eher nach Scott – Rob Roy, vielleicht, oder Ivanhoe. Oder Dickens? Die Zeit reicht nie, und dann gibt es so viele neue Bücher, die ich gern lesen würde …
    Wie man sieht, ein uferloses Feld.
    Wünsche guten Anfang für die Arbeit – ich sollte mich auch an die meine begeben, bzw. vom Internet zum Schreibprogramm wechseln.

    P.S.: Ihr captcha ist gemein. Bis man hier eine Antwort geschrieben hat, ist es abgelaufen, beim Zurücksetzen geht die Antwort verloren. Mittlerweile weiß ich das und kopiere meinen Text vorsichtshalber, aber ich denke, Ihnen geht dabei manche Antwort verloren, wenn Leute keine Zeit/Lust haben, alles noch einmal zu schreiben.

  2. Eine Entdeckung meinerseits diesen Sommer für das abendliche Lesen: Die Cazalet Chroniken von Elizabeth Jane Howard. Passen zeitlich zu den oben erwähnten Büchern. Eine Familiengeschichte über 5 Bände (lassen Sie sich nicht vom Schmonzetten Umschlagdesign abschrecken), fokussiert auf den Verlauf der weiblichen Mitglieder, nie langweilig, aber verfolgt den Lese auch nicht in den Schlaf und die Träume.

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Time limit exceeded. Please complete the captcha once again.