Was ich schon länger kritisch anmerken wollte, ist der bedauerliche Umstand, wie außerordentlich schlecht die bildlichen und szenischen Darstellungen, die uns im Alltag von der Welt geboten werden, manchmal sind. Wie ich gleich mit zwei Ansichten illustrieren möchte.
Mit zwei Szenen oder Bildern also, die, Sie werden es umgehend merken, so nicht gehören. Das macht man so nicht. Das geht einem gegen den Strich und einfach gegen alles, was man von Erzählungen, Berichten etc. erwartet. Denn es gibt nun einmal Grenzen der Plattheit, die man nicht gerne überschritten wissen möchte. Aber sie werden überschritten, dauernd werden sie das.
Im Hauptbahnhof etwa kommt es gelegentlich vor, wenn auch nicht eben häufig, dass sich Menschen, es sind fast immer Frauen und fast immer sind es Durchreisende, die unseren Bahnhof und seine Tierwelt nicht kennen, überdurchschnittlich für Tauben interessieren. Insbesondere für kranke, irgendwie in Not geratene und offensichtlich gerade sterbende Exemplare. Ein überdurchschnittlich wirkendes Interesse ist bei diesem Thema allerdings nicht schwer zu erreichen, da der gewöhnliche Mensch aus Hamburg die Tauben im Bahnhof nicht zur Kenntnis nimmt. In welchem Zustand auch immer sie ihm begegnen. Man achtet hier nicht auf Tauben. Man sieht sie nicht an, man registriert sie nicht und, wie scherzhaft gesagt wird, man ignoriert sie nicht einmal.
Exkurs: Dazu gibt es zwei Ausnahmen. Zum einen sind es oft sogenannte randständige Personen aller Art, die doch und manchmal intensiv in Kontakt mit Tauben treten, die sie füttern und mit ihnen reden. Die Annahme ist nicht abwegig, dass sie oft keine menschlichen Gesprächspartner haben. Zum anderen reagieren sämtliche Menschen in gewissen Momenten sehr wohl auf Tauben, und da komme ich kurz zu einem irritierenden Aspekt, bei dem ich eben eine Beobachtung schildern muss, die außer mir niemand zu machen scheint. Zumindest habe ich sie weder je gehört noch gelesen.
Es ist aber so, und ich bin da ganz sicher, dass etwa seit Pandemiebeginn, was aber kein kausaler Zusammenhang sein soll, die Tauben im Bahnhof immer niedriger fliegen. Dass sie also immer deutlicher und häufiger auf Kollisionskurs mit den Passanten gehen. Es ist einer dieser verrückten Aspekte, Sie kennen das vielleicht, den man als einziger Mensch wahrnimmt und dennoch felsenfest überzeugt ist, dabei Recht zu haben.
Sie fliegen also tiefer, und es wirkt ein wenig so, als würden ihnen die Konfrontationen geradezu Spaß machen. Wie die Menschen da fast sportlich in die Hocke gehen oder zur Seite weghechten, wenn die Tauben auf die Leute zuschießen und diese die Vögel dann wohl oder übel doch zur Kenntnis nehmen müssen. Wenn auch nur fluchend und pöbelnd. Ein äußerst merkwürdiges Phänomen.
Na, aber das nur am Rande.
Von diesen beiden Ausnahmen abgesehen hat man sich hier seit langer Zeit darauf geeinigt, dass es Tauben zwar bedauerlicherweise gibt, dass dies aber noch lange kein Grund ist, sich mit ihnen zu befassen. Ob sie nun auf dem Boden der Wandelhalle oder der Gleise herumlaufen und irgendetwas aufpicken, von dem man lieber nicht wissen möchte, was es ist und aus wem es kam, oder ob sie oben irgendwo gurrend unterm Dach sitzen und vermutlich brüten, oder ob sie gerade hinter der weit geöffneten Glastür einer Bäckerei oder unter einer großen Werbetafel versterben – egal. Tauben eben. Who cares.
Also abgesehen von den bereits erwähnten, durchreisenden Frauen mit übergroßer Kümmerkapazität.
Die bleiben vielleicht doch außerplanmäßig neben so einem sterbenden Vogel stehen. Sie stellen Koffer, Rucksäcke und Provianttaschen neben sich ab und sehen sich das mal genauer an, dieses leidende Wesen da am Boden. Und manchmal fassen sie es sogar an, wobei vorbeieilende Hamburger dann zu grünlichen Gesichtsverfärbungen neigen, wenn sie es sehen. Außerdem werden diese Frauen dann penetrant, also aus Sicht der Einheimischen, da sie unbedingt etwas tun möchten. Da sie das so nicht hinnehmen wollen, was sich da auf dem Boden vollzieht.
Dann sprechen sie vielleicht die Sicherheitsdienste an. Denen man die Begeisterung darüber allzu deutlich ansieht. Dann erkundigen sie sich bei der Bahninfo, wo man sich das gottergeben und augenrollend anhört, nach den Telefonnummern von Tierrettung, Tierheim und was auch immer jemandem da noch alles einfallen mag. Es muss doch jemand zuständig sein? Während der betreffende Vogel vielleicht, und die Angesprochenen sind ihm dann vergleichsweise dankbar, unter diesen Bemühungen wegstirbt, noch während dieses so gut gemeinte Engagement abläuft.
Warum ist das jetzt ein schlechtes Bild? Nun, weil zwanzig Meter weiter ein notleidender Mensch aus einer der speziellen Szenen, die von Bahnhöfen stets angezogen werden, auf dem Boden liegt. Und um den sich, und es passiert eben gleichzeitig und knapp noch im gleichen Bildausschnitt, niemand kümmert. Da sieht man doch sofort ein, dass so etwas viel zu platt ist. Dass diese Botschaft äußerst ungeschickt und geradezu stümperhaft mit dem Vorschlaghammer ins Publikum eingearbeitet wird. Dass man das so einfach nicht macht.
Es sei denn, man ist die Realität, dann macht man das so. Ignorant wie nur was.
Ein weiteres Beispiel, neulich habe ich es gerade erst gesehen, wäre etwa einer von den vielen Obdachlosen. Einer, der in der Innenstadt auf dem Pflaster liegt. In einer etwas ruhigeren Nebenstraße, an der trostlosen, heruntergekommenen Wand eines Gebäudes, das nicht zum Ruhm der Touristenattraktion Hamburg beiträgt.
Der Mann liegt dort in einem zerschlissenen Schlafsack. Er hat sich halb aufgerichtet, er liest ein dickes Buch. Wie ohnehin einmal anzumerken ist, dass in diesen Kreisen recht viel gelesen wird. Und zwar auf die altmodische Art in gedruckten Büchern. Ein dickes Buch liest er also, und es scheint ihn etwas darin zu erheitern, denn er lächelt. Nicht gerade enthusiastisch, das gibt seine Lebenssituation vermutlich auch nicht her. Aber er lächelt doch immerhin so, wie man vielleicht noch zu helleren Momenten befähigt ist, wenn man schon seit längerer Zeit auf der Straße lebt.
Über ihm aber prangt ein riesiges Theaterplakat. Mit einem bekannten Zitat von Lessing darauf, sehr groß wurde der Satz geschrieben und weithin ist er sichtbar: „Es ist so traurig, sich allein zu freuen.“
Aus der „Minna von Barnhelm“ stammt dieser Satz, falls das jemand aus Bildungsgründen noch nebenbei abspeichern möchte, um es künftig parat zu haben.
Und auch dabei gilt wieder: Das geht doch so nicht. Man kann es nur kopfschüttelnd und indigniert zur Kenntnis nehmen. Man möchte der Wirklichkeit spätestens bei so etwas glatt einige Sterne in der Bewertung abziehen. Die Wirklichkeit war stets bemüht, möchte man ihr in die Rezension schreiben, sie erreichte aber oft nicht das notwendige Niveau und blieb deutlich hinter unseren Erwartungen zurück. Ungefähr so möchte man es vermerken. Aber wo.
Dann fällt einem vielleicht wieder ein, dass man ja ein Blog hat. Und also tatsächlich alles und auch jederzeit vermerken kann. Wie toll und entlastend ist das denn?
Womit ich auch an diesem Tag wenigstens auf den letzten Silben noch bemerkenswert positiv ende.
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Dieser Text, verehrter Herr Buddenbohm, war wieder ein Sahnestück Ihrer Kunst.
So fing mein Wochenende schon mal gut an, danke
Vielen Dank!
Da stimme ich mit Trulla überein. Ein Buch von ihnen würde ich verschlingen. Vielen Dank.
Gruß Katrin
Tiefer fliegende Tauben sind mir auch aufgefallen im Hauptbahnhof und altem Elbtunnel. (Und dachte natürlich auch, dass ich die einzige sei).
Und da ich direkt am Michel wohne, ebenfalls die Taubenkümmerer:innen (nicht nur Frauen) neben Flaschensammelnden und Abgestürzten aller Art.
Ich danke für all‘ die wunderbaren Texte!
Fühle mich ertappt. Bin eine Frau, habe neulich eine sterbende Taube gesehen, deren Rückrat wohl gebrochen war (haben Tauben sowas?) und die gerade von drei Krähen zu Tode gehackt wurde. Und ja, ich bin zu einem Securityfuzzi gelatscht und habe um ein baldiges Beenden des Leids gebeten. Und ja, es wurde mit den Augen gerollt.
Was aber ein kleiner Unterschied zu Ihrem Setting war:
Es war in Berlin, und es war kein Obdachloser in der Nähe.
Und ich muss jetzt einfach mal anmerken: Hier liegen keine Obdachlosen quer überm Gehweg. Vielleicht auf Matratzen in Torbögen, ja. Aber wir räumen unsere Toten immerhin weg oder versuchen, uns zu kümmern, manchmal sogar schon vorher – ganz im Gegenteil offenbar zu Hamburg.
Die Unmenschlichkeit im Alltag, wie sie sich mir in Hamburg bei einem Kurzurlaub neulich aufdrängte, wo ich mich wirklich fragte, ob der Mensch, der da quer auf dem Gehweg lag und über den alle hinweglatschten, noch lebte oder eben nicht, die, meine ich, gibts hier so (noch) nicht.
Da bin ich doch zur Abwechslung echt mal froh, hier zu wohnen, und das kommt leider nicht mehr so häufig vor.